Meine Familie ist nicht wie die anderen Familien
17.06.2016 um 15:28
Ein' hab' ich noch, ein' hab' ich noch:
Freitags bei den Friesen
Freitag früh im finstersten Friesland:
„Scha-hatz“, tönt es von irgendwoher aus dem Obergeschoss, „fährst Du noch mal schnell rein und holst Getränke?“ - „Rein“ bedeutet bei uns, aus dem Outback in diese um ein Getreidesilo drapierte Ansammlung von Supermärkten zu fahren, die eine Kleinstadt-Imitation im dänischen Grenzgebiet darstellt. Im Unterschied zu „in die Stadt“, was Hamburg bedeutet, etwa 200 km oder eine Eileensche Fahrstunde weit entfernt.
„Was soll ich holen?“ brülle ich zurück. - Es hat schon seine Vorteile, wenn man keine Nachbarn hat, die sich für die zwischenmenschliche Kommunikation im Hause interessieren. Unsere Nachbarn können uninteressiert und stoisch weiterhin ihr Gras kauen und ihre Fladen machen.
„Bier! George kommt!“ schallt es von oben.
„George wer?“
„Gitarren-George!“
Ich überreiße alle Menschen dieses Namens, die ich auf die Schnelle mit einer Gitarre in Verbindung bringe.
„George Harrison? Ich dachte der wäre tot. Der trinkt doch nix mehr.“
„Dullhead! George aus Dublin natürlich.“
„Ach der. Da sollte ein Kasten Flens knapp hinreichen.“
„Mit Band. Die kommen gerade aus Skandinavien zurück.“
Vor meinem geistigen Auge versammelt sich ein irisches Riverdance-Ensemble nebst großem Sinfonieorchester.
„Also viel Bier?“
„Viel. Du wirst zwei Mal fahren müssen.“
Madame schreitet die Treppe herab. Wahrscheinlich ist ihr das Brüllen bei der Hitze zu anstrengend. Sie zählt mit ihren Fingern: „Also, die sind zu acht, glaub' ich. Und dann habe ich noch ein paar Leute eingeladen. Eve, Leila und Birte, die Hansens, die Jörgensens aus Tondern, Schraders, Schröders, Meyer, Meier, Mayer, Maier, Schulze und Schultze, dann noch so ein nettes Paar aus Düsseldorf, das hier Urlaub macht, dann die Familie aus dem Irak, denen Cait Nachhilfe gibt“, irgendwann sind die Finger schon mehrfach belegt. Ich ergänze im Geiste: Die Freiwillige Feuerwehr, der Schützenverein, der Sportverein, die Fischer-Chöre, der Deutsche Bundestag, die Bundeswehr... Wie viele Chinesen gibt es aktuell?
Meine Eheliebste ist extrem kontaktstark und hat ein sagenhaftes Talent, alle möglichen und vor allem alle unmöglichen Menschen zu Spontan-Parties einzuladen. Das geht dann soweit, dass man in der Küche von einem Gast angesprochen wird. „Ich kenne hier keinen. Sie?“ Meine Antwort: „Ich kenne hier auch keinen – und ich bin der Gastgeber.“
Ihre Büro-Parties genießen einen gewissen legendären Ruf. Da versammeln sich Leute aus Wirtschaft, Politik, Kultur, obskure Partyanimals und ein paar Obdachlose, die dann die Reste abräumen. Weil sie nicht überall gleichzeitig smalltalken kann, weist sie mir dann Zielpersonen zu:
„Guck mal, das da hinten ist Dr. Geldsack vom Bankhaus Geldsack, Zaster, Kohle und Sohn. Bedeutende Hamburger Privatbank. Da haben wir ein Konto eröffnet. Macht sich auf dem Briefbogen besser als Volksbank oder Sparkasse. Red' mal mit ihm.“ Okay, wozu ist man Medienmann, irgendwas wird mir schon einfallen. „Na, Geldsack, oller Bilanzfälscher, was macht das Spekulationsgeschäft. Kommste auch in den Knast wie Dirk Jens von der HSH?“ Na gut, irgendwie habe ich es dann doch anders angefangen und wir waren in eine stundenlange Fachsimpelei über Modelleisenbahnen vertieft. Epoche II, falls das jemandem was sagt. Nicht, dass ich mich da ausgekannt hätte – aber man muss die Leute manchmal einfach nur „einschalten“ und dann reden sie über ihre geheimsten Laster. Jetzt weiß ich, dass Dr. Geldsack eine riesige Anlage im Keller seiner Villa hat. Märklin-, nicht Kapitalanlage.
„Nimm Rod zum Einladen mit. Ach ja, und dann kommt noch...“ Da sind Vater und Sohn schon im Auto. Während die Dame des Hauses Finger zählend hinterher läuft, fahren wir vom Hof. Prompt klingelt das Handy. Rod geht ran, ich fahre schließlich. „Mama!“ Ich höre, wie sie munter weitere Namen abspult, bis sie knapp die Gesamteinwohnerschaft des dünn besiedelten Südtondern inklusive einige Touristen aufgelistet hat. Ich höre nicht zu, Rod kurbelt das Fenster runter, hält das Handy raus und lässt seine Mutter die Kühe beschallen, die gleichmütig weiter Gras widerkäuen. „Frag sie mal, ob wir auch noch 2.000 Bratwürstchen und einen Tanklaster voll Senf holen müssen ...“ „Denk auch an Saft und Cola, die Kinder haben auch noch Freunde eingeladen!“ tönt es aus dem Telefon. Ich addiere die Gesamtschülerzahl des Kreises Nordfriesland. „Nein, Essen brauchen wir nicht. Wiebke. Partyservice. Höchstens was für's Frühstück.“ Wiebke ist so ein bedauernswertes Geschöpf von Fleischereifachverkäuferin, bei dem der Beruf auf das körperliche Erscheinungsbild abgefärbt hat. Und sie ist offenbar unsterblich in meine Frau verschossen. Sagt diese zumindest. Folglich greifen wir auf ihren Arbeitgeber in einem entfernteren Ort zurück. Wiebke managt dann das Catering und himmelt meine Frau an. Dafür kostet das nichts extra. Das Managen, nicht das Anhimmeln.
Als wir auf den Parkplatz des Getränkemarktes rollen, tönt es immer noch aus dem Handy „Die Jörgensens bringen Kuchen mit. Sven und sein Mann auch. Ich glaube, die Priester auch noch.“ „Priester?“ „Na, dann eben Pfarrer oder Pastoren oder wie die bei den Protestanten heißen.“ Ach, sie meint Uwe und Christiane. Uwe ist Pastor in einer Hamburger Randgemeinde, so ein Zauselbart mit Sandalen und Wandergitarre. Seine Frau sieht aus wie das Bild, das einem bei dem Begriff „ernster Bibelforscher“ vor dem geistigen Auge entsteht. Sehr grau, sehr bebrillt, sehr streng, sehr gläubig. Eine fromme Trockenpflaume. Wahrscheinlich backt sie staubtrockenen Sandkuchen.
Mein Sohn und ich karren zwei Volvo-Ladungen Flens auf den Hof, plus etwas Cola und eine Kollektion leckerer Steinmeier-Säfte aus der Region. „Deine Schwester kommt auch!“ schallt es zur Begrüßung. „Ist die schon wieder draußen? Bringt sie etwa jemanden mit? Hat sie gerade wieder ihre manische Phase?“ Na, das kann ja lustig werden. Inzwischen trudeln die ersten Kinder mit Fahrrädern ein. Los, Bierkisten schleppen. Trainingswoche Jugendalkoholismus. Ab in die Scheune. „Ich hab' mit dem Mann vom Getränkeladen Kommission vereinbart. Den Rest nimmt er zurück.“ „Rest? Welchen Rest?“ antwortet die Frau, die ihre Pappenheimer kennt.
So langsam füllt sich der Wiesen-Parkplatz hinter den Gebäuden. Putz-Perle Olga nebst Mann Waldemar, der eigentlich Vladimir heißt, oder wie meine pubertierende Tochter kichert „Vlad der Pfähler“. Leila und Birte nebst ein paar Kollegen aus dem Seuchenhaus, Evanne, Geschäftspartnerin und Freundin meiner Frau nebst einem deplatziert wirkenden schweigsamen spanischen Anzugträger, der aber irgendwie wichtig sein soll – alle werden zum Gartenmöbel schleppen, Gläser spülen, Servietten falten und sonstigen gastronomischen Hilfstätigkeiten heran gezogen. Heiß ist es. Birte befreit sich kurzentschlossen von ihrem T-Shirt, unter dem sie nichts weiter trägt, woraufhin der schweigsame Spanier sich die Krawatte lockert und ihr emsiger beim Stühle tragen zur Hand geht. Allerdings guckt er natürlich nicht da hin, wo er hinläuft, und torft folglich überall gegen, was meine Kinder und ihre Freunde höchst erheiternd finden. Ich glaube ohnehin, die Freunde unserer Kinder betrachten unser Familienleben als so eine Mischung aus Hansapark, Zoo und Hamburg Dungeon.
„Sie kommen!“ brüllt der Ausguck vom Giebelfenster. Ein Kleinbus, ein Wohnmobil von Einfamilienhausgröße und ein veritabler LKW rollen auf den Hof. Der Truck rasiert ein paar Kastanienzweige. Glücklicherweise ist die Wiese hinter der Scheune staubtrocken. Sonst könnte es eng werden für ein paar Tonnen Equipment. Der Hof füllt sich mit Bandmitgliedern, allesamt Herren und Damen leicht fortgeschrittenen Alters, zumindest sehen sie so aus. Rock lässt einen rapide altern. Vor allem auf Tour. Mehrsprachiges Begrüßen, Umarmen von schwitzigen dicklichen Damen und fusselbärtigen Herren, Vorstellungen von Namen, die ich gleich wieder vergesse. Okay, der ist George. Aber wer war jetzt Ian? Wer Sean? Ist Toddy der Roadie? Mary Anne die mit den Riesenohrringen oder die mit dem breiten Busen? Egal, herzlich willkommen. Nehmt Platz, hier habt ihr ein Bier. Erzählt. Wie war's in Skandinavien. Während sich die Unterhaltung darum dreht, ob das Publikum in Göteborg oder Stockholm besser war, warum in Skandinavien das Bier so teuer ist und wer wo die Kabel der Verstärkeranlage verdaddelt hat, trudeln immer mehr Leute ein.
Wiebke bringt einen Kleinlaster mit Fressalien, die avisierten Kuchenlieferanten Berge von Kuchen und Torten (zur jütländischen Tortenkultur vgl. Siegfried Lenz) und einige schleppen noch Salate, Puddings, Eis oder Essensreste vom Vormonat an.
Inzwischen ist auch meine Schwester Sonja aufgeschlagen. Okay, manische Phase. Schwer geschwätzig und in ihrer schwarzen, hm ja, „Arbeitskleidung“. Damit stiehlt sie Birte natürlich die Show und der schweigsame aber wichtige Spanier wird den ganzen Abend nicht mehr von Sonnys Seite weichen.
Grob überschlägig dürften jetzt an die hundert Leute versammelt sein. Alles isst und trinkt, redet und trinkt, lacht und trinkt. Es sieht aus, als hätten die Anonymen Alkoholiker in Schleswig-Holstein den kollektiven Rückfall beschlossen. Wenn man, wie ich, keinen Alkohol mehr trinkt, fühlt man sich mit fortschreitendem Promillepegel der anderen mehr und mehr in ein Paralleluniversum entrückt. Alle anderen sind in ihrem Suff scheinbar vollkommen normal, nur man selbst benimmt sich merkwürdig.
Zu fortgeschrittener Stunde wird ein spontanes Livekonzert beschlossen. Unplugged. Zum Pluggen sind die Musiker schon zu angedröhnt. Höhepunkt ist die Darbietung irischer Rebellen-Lieder zum Flenskorken-Ploppen und Flaschenhalsblasen. „We will take some of these bottles home.“ Wenn also irgendwann auf CDs ein neues Instrument namens Northern German Beerbottle zu hören ist, dann wurde hier der Grundstein gelegt.
Die minderjährigen Gäste sind schon heim geradelt, wurden von besorgten Eltern abgeholt („Aber ihr esst jeder noch ein, zwei Kilo Kuchen, ja?“) oder sind schon in ihre Zelte auf der Wiese gekrochen, um sich dort von Mücken fressen zu lassen. Auf dem Hof sind keine Mücken mehr. Die Qualmwolken sind zu dicht.
Die ersten erwachsenen Weicheier verpieseln sich. Wir müssen morgen früh raus, außerdem kommt was langweiliges im Fernsehen. Selbst Kinderlose haben plötzlich Kinder, die sie nicht allein lassen können, man kennt das.
Im internationalen Kampftrinken zwischen BRD, Irland, Russland, Dänemark, Frankreich, Spanien und dem Irak können jetzt die Siegerehrungen vorgenommen werden. Der Irak wurde von seiner Ehefrau disqualifiziert, Spanien war hormonell gedopt (Sonja), Frankreich ist eingeschlafen (wie immer), Russland zu 50% vom Stuhl gefallen (Vlad). Platz eins geht klar an Irland, trotz Ausfällen („Ich geh mal eben das Porzellan füttern“), Platz zwei an Dänemark (medizinisch geschulte Kampftrinker aus dem Großraum Esbjerg), Platz drei knapp an das deutsche Team, aber auch nur dank einer irischstämmigen Expertin).
Langsam wird es über dem Wettkampfgelände hell. Wer noch kriechen kann, sucht sich einen Schlafplatz im Haus, im Zelt, im Wohnmobil oder auf einem Gartenmöbel. Das letzte, woran ich mich erinnern kann, waren Sonja und der Spanier auf einem Gartentisch. Der schweigsame Gast trug dabei nur noch seine Krawatte. Ich sag's ja: Manische Phase.
Never to old to rock'n'roll!
Wie sagte mir der Roadie (hiess der nun wirklich Toddy?):
If it is dry – smoke it.
If it is wet – drink it.
If it moves – fuck it.
If it doesn't move – just throw it on the truck.