Narrenschiffer
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Ben Shephard - The Long Road Home
gestern um 23:12
Der 2017 verstorbene Historiker Ben Shephard hat 2010 einen akribisch recherchierten Band über Displaced Persons (DP) nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht. Im Eingangskapitel wird ein Überblick gegeben, wie viele sich auf auf dem Gebiet des Deutschen Reichs zu Kriegsende befanden (Kriegsgefangene, freiwillige Fremdarbeiter:innen, Zwangsarbeiter:innen, nicht deutsche KZ-Insaßen, verschleppte Kinder, staatenlos gewordene Jüd:innen und weitere Gruppen).
Die Alliierten gründeten 1943 die United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA), die sich um diese Personen zu kümmern habe. Jedes UN-Mitglied hat 1 Prozent des BIP beizutragen, die Hauptlast des Budgets trugen die USA aufgrund ihrer Wirtschaftsstärke mit 72 Prozent des Gesamtbudgets.
Neben der Versorgung, die schwierig genug war und vor allem Großbritannien in ihrer Zone wirtschaftlich stark belastete, waren Lager zu errichten und komplexe Fragestellungen zu lösen. Einerseits gab es Friktionsflächen zwischen Kriegsgefangenen, Verfolgten und Freiwilligen, andererseits war bei vielen nicht klar, welchem Staat sie zuzurechnen sind. Dies betraf einerseits Menschen jüdischer Religion (sind sie als Juden zusammenzufassen oder den einzelnen Staaten zuzuordnen), andererseits waren nun Gebiete von der Sowjetunion annektiert, die vor dem 1. September 1939 bei Polen bzw. der Tschechoslowakei waren. Bei Letzteren konnte sich die Sowjetunion nicht durchsetzen, dass sie nun in die Sowjetunion zu repatriieren sind. Diesen ehemaligen Polen und Tschechoslowaken wurde freigestellt, wohin sie wollen. Ansonsten war das Prinzip: Diese Menschen sollen in ihr Heimatland zurückkehren.
Ausführlich und in einzelnen Kapiteln werden die Lager der jüdischen, baltischen, westukrainischen und weißrussischen Menschen abgehandelt, die unterschiedliche Ziele hatten und nicht in ihre ehemalige Heimat wollten. Für jüdische Menschen stellte sich die Frage, ob sie nach Palästina/Israel wollen oder nicht, für die ehemals polnischen Menschen mussten Aufnahmeländer gefunden werden, was sich sehr kompliziert gestaltet hat, da viele Länder enge Auswahlkriterien hatten und auch auf billige Arbeitskräfte aus waren. Auch dies wird akribisch und detailliert präsentiert.
Als die USA immer mehr das Gefühl hatten, dass die regierenden Kommunisten in Polen und Jugoslawien die Unterstützung (es gab auch sehr viele Sachleistungen, um die Industrie aufzubauen) nicht den DP zugute kommt, sondern für eigene politische Zwecke nutzen, wird die UNRRA bereits 1946 aufgelöst und die International Refugee Organization (IRO) gegründet, die unter US-Federführung stand und der sich die Sowjetunion nicht mehr angeschlossen hat (oder besser: sie wurde ausgeschlossen). Was aber nicht bedeutete, dass DPs nicht in nun kommunistische Staaten zurückgeführt wurden.
Komplexer wurde die Lage, als nach antijüdischen Pogromen in Polen die Zahl der jüdischen Flüchtlinge in den Westen stieg. Die USA haben sie erst 1950 als DP anerkannt und die Möglichkeit einer Immigration angeboten.
Da viele Staaten ausschließlich Arbeitsfähige immigrieren ließen, befanden sich Anfang der 1960er Jahre immer noch mehr als 100.000 DPs in Lagern in der Bundesrepublik, die von der schließlich gegründeten Flüchtlingsorganisation der UNO (UNHCR) betreut wurden.
In weiteren Kapiteln wird die Vertreibung und Flucht Deutscher aus Ostpreußen abgehandelt, die nicht als DPs, sondern als "Refugees" galten, und als solche wurden nur Menschen kategorisiert, die innerhalb des eigenen Staatsgebiets fliehen mussten. Sie waren daher nicht in das Versorgungssystem der UNRRA eingegliedert, was für diese Flüchtenden eine Katastrophe war.
Auch wird Palästina und die Gründung Israels im Kontext der jüdischen Besiedelung sowie des massiven Streits zwischen Großbritannien und der USA bzw. des Konflikts mit in Palästina lebenden Arabern abgehandelt.
Einzelne Kapitel präsentieren Details aus den unterschiedlichen UNRRA-Lagern bzw. das Leben in diesen sowie Einzelschicksale.
Insgesamt ist es eine sehr bewegende Lektüre, die aufgrund der Quellenarbeit Shephards auf Detailfakten beruht. Ein eher wenig beachteter Aspekt der Nachkriegsgeschichte wird umfassend nachgezeichnet.