Barbery-Eleganz

Dieser Roman der französischen, nun in Japan lebenden Schriftstellerin Muriel Barbery wurde für mich überraschend 2006 zu einem Weltbestseller. Dabei ist es eine Art Kammerspiel in einer Welt, in der Reich und Arm aufeinandertreffen: in einem französischen Haus mit Luxusappartements (die Rue de Grenelle 7 gibt es übrigens wirklich), wo hochrangige Politiker von links bis rechts sowie Industriemagnaten leben. Es wird aus zwei Tagebuch-Perspektiven geschrieben. Einerseits aus der Perspektive der 54-jährigen Portierin Renée Michel, andererseits der 12-jährigen Paloma, Tochter eines sozialistischen Ministers und einer Linguistin.

Renée Michel ist seit Geburt mit einem Buckel ausgestattet und lebt zurückgezogen in ihrer Wohnung, wo sie sich der hohen Literatur, der Philosophie, der klassischen Musik, der Malerei sowie dem künstlerischen Film hingibt. Besonders liebt sie Tolstoi und den japanischen Regisseur Yasujiro Ozu. Paloma ist hochbegabt, jedoch vom Leben gelangweilt, das nur eine Leere zu bieten hat wie das Leben der Erwachsenen. So beschließt sie, an ihrem dreizehnten Geburtstag die Wohnung ihrer Eltern anzuzünden und mit einer Überdosis Schlaftabletten, die sie von ihrer Mutter stiehlt, sich das Leben zu nehmen.

Eine Wende tritt ein, als nach dem Tod eines Restaurantkritikers dessen Wohnung von einem pensionierten Japaner namens Kakuro Ozu, einem weitschichtigen Verwandten des Regisseurs, gekauft wird. Tolstoi ist das gemeinsame Band, das eine Freundschaft beginnen lässt. Ozu lädt Michel in seine Wohnung und in ein Restaurant. Als er andeutet, es könne mehr zwischen ihnen entstehen als eine wahlverwandtschaftliche Freundschaft, zögert Michel, da ihre Schwester in jungen Jahren von einem Reichen schwanger verlassen worden und in den Tod gegangen ist.

Das Ende ist schließlich eine Art Cop-Out: Michel läuft einem bekannten Obdachlosen nach, weil er bedenklich torkelt, übersieht dabei einen Lieferwagen und stirbt an den Unfallverletzungen. Paloma, die mittlerweile nicht nur eine Freundschaft mit Michel aufgebaut, sondern auch Kontakt zu dem freundlichen Japaner geknüpft hat, kommt in Anbetracht des Todes von Michel zu dem Schluss, dass der Schritt ins Nie zu radikal sei, und gibt ihre Selbstmordidee auf.

Die Würze in diesem Roman sind die Reflexion von Michel und Paloma. Beiden schreibt Barbery die Sichtweise zu, dass Menschen nur Primaten seien, deren Triebe nur durch Erziehung und Zivilisation eingedämmt seien. Bei Michel ist es ein Symbol aus einem der Filme von Ozu: eine auf Moos wachsende Kamelie.
Die Zivilisation, das ist die gebändigte Gewalt, der stets unvollkommene Sieg über die Aggressivität des Primaten. Denn Primaten waren wir, Primaten bleiben wir, eine Kamelie auf Moos, an der uns zu erfreuen wir gelernt haben. Hierin liegt die ganze Funktion der Erziehung. Was heißt erziehen? Erziehen heißt, als Ablenkung vom Trieb der Gattung unermüdlich Kamelien auf Moos bereitzuhalten, denn der Trieb hört nie auf und bedroht fortwährend das fragile Gleichgewicht des Uberlebens.
Und Paloma schreibt in ihr Tagebuch:
im Grunde sind wir Primaten und darauf programmiert zu essen, zu schlafen, uns fortzupflanzen, unser Territorium zu erobern und zu sichern
Aber die Menschenwelt dreht die animalische Basis um:
Die Menschen leben in einer Welt, in der die Wörter und nicht die Taten Macht haben, in der die Beherrschung der Sprache die höchste Kompetenz ist. ... Die Menschen leben in einer Welt, in der die Schwachen herrschen. Das ist eine schreckliche Beleidigung für unsere animalische Natur, eine Art Perversion, ein krasser Widerspruch.
Für Michel hingegen sind Wörter eine mächtige Waffe im Kampf gegen die Aggressivität:
Die Zivilisation, das ist die gebändigte Gewalt, der stets unvollkommene Sieg über die Aggressivität des Primaten. Denn Primaten waren wir, Primaten bleiben wir, eine Kamelie auf Moos, an der uns zu erfreuen wir gelernt haben. Hierin liegt die ganze Funktion der Erziehung. Was heißt erziehen? Erziehen heißt, als Ablenkung vom Trieb der Gattung unermüdlich Kamelien auf Moos bereitzuhalten, denn der Trieb hört nie auf und bedroht fortwährend das fragile Gleichgewicht des Uberlebens.
Die Denkbasis jedoch ist ident:
Primaten, die wir sind, besteht der Hauptteil unserer Aktivität darin, unser Territorium zu erhalten und zu unterhalten, auf daß es uns Schutz gewähre und unser Selbstgefühl hebe, auf der hierarchischen Leiter der Sippe aufzusteigen oder nicht abzusteigen und, sowohl zum Vergnügen als auch der verheißenen Nachkommenschaft willen, auf alle möglichen Arten Unzucht zu treiben - und sei es in der Phantasie. So setzen wir einen nicht unbedeutenden Teil unserer Energie dazu ein, den anderen einzuschüchtern oder zu verführen, da diese beiden Strategien allein das territoriale, hierarchische und sexuelle Streben sichern ... es gibt nur noch primitive Hominiden, deren Fratzen und Lächeln, Gangart und Putz, Sprache und Kode, eingetragen auf der genetischen Karte des Durchschnittsprimaten, nichts anderes bedeuten als: die Rangstufe halten oder sterben.
Aber auch Paloma zieht Konstruktives dem Destruktiven vor. Sie bevorzugt das japanische Go-Spiel, bei dem aufgebaut werden muss, gegenüber dem Schachspiel, bei dem der Gegener vernichtet werden muss.

Michels Auseinandersetzung mit Kant und Husserl nach einem Monat "frenetischer Lektüre" wirkt beinahe skurril. Laut Kant könnten wir nur erkennen, was in unser Bewusstsein dringt. "Wir kennen von der Welt nur die Vorstellung, die sich unser Bewußtsein von ihr macht." Für Husserl sei die Welt eine unzugängliche Realität. Und Michels Schlussfolgerung?
Wie sieht der Tagesablauf eines Phänomenologen aus? Er steht auf, ist sich bewußt, unter der Dusche einen Körper einzuseifen, dessen Existenz jeder Grundlage entbehrt, ist sich bewußt, »genichtete« Brotschnitten zu essen, in Kleider zu schlüpfen, die wie leere Parenthesen sind, sich in sein Büro zu begeben und sich einer Katze zu bemächtigen.
Es kümmert ihn wenig, ob diese Katze existiert oder nicht existiert und was sie in ihrem eigentlichen Wesen ist. Was unentscheidbar ist, interessiert ihn nicht. Dagegen ist unleugbar, daß seinem Bewußtsein eine Katze erscheint, und dieses Inerscheinungtreten ist es, was ihn beschäftigt. ... Das also ist die Phänomenologie: ein einsamer und endloser Monolog des Bewußtseins mit sich selbst, ein Autismus in Reinform, den nie eine echte Katze behelligt.
Und Paloma setzt sich mit einem neu aufgetretenen Sauberkeitsfimmel ihrer sie mit Lärm terrorisierenden Schwester auf diese Weise auseinander:
Und so macht sie alles mit methodischer Sturheit, sie poliert, sie putzt, wie in der Armee. Der Soldat ist bekanntlich besessen von Ordnung und Sauberkeit. Er braucht das, um gegen die Unordnung der Schlacht anzukämpfen, gegen den Schmutz des Krieges und gegen all die zerstückelten Menschen, die zurückbleiben.
Palomas Medienkritik zum Fernsehen ist zwar gängig, aber dennoch griffig:
Ich könnte stundenlang fernsehen. Ich stelle den Ton ab und schaue. Ich habe dann das Gefühl, die Dinge mit Röntgenstrahlen zu sehen. Wenn Sie nämlich den Ton abstellen, nehmen Sie die Verpackung weg, das schöne Seidenpapier, das einen Schund zu zwei Euro umhüllt. Wenn Sie sich die Filmbeiträge der Fernsehnachrichten auf diese Weise ansehen, werden Sie merken: Die Bilder haben überhaupt keinen Zusammenhang untereinander, das einzige, was sie verbindet, ist der Kommentar, der eine chronologische Abfolge von Bildern als eine reelle Abfolge von Tatsachen ausgibt.