Schiller-Geisterseher

1787 erschien dieser Fortsetzungsroman in zwei Büchern Friedrich Schillers, das Ende jedoch blieb offen. Absicht oder Verirrung im Plot? Auf jeden Fall sind Elemente in diesem einzigen Romans Schillers wegweisend und von Einfluss auf die spätere sogenannte Schwarze Romantik.

Im Zentrum des Romans steht ein nicht namentlich genannter 35-jähriger württembergischer Prinz, der in Venedig residiert. Im ersten Buch schreibt ein Graf von O* über seine Begegnung mit dem Prinzen. Dieser erhält von Zuwendungen aus seiner Heimat, lebt eher zurückgezogen und liest viel. Die Ereignisse, mit welchen die beiden konfrontiert werden, haben es aber in sich.

  • Bei einem Spaziergang treffen sie auf einen sie verfolgenden armenisch gekleideten Mann, der dem Prinzen den Tod seines Cousins mitteilt. Damit wird die Möglichkeit eröffnet, Thronfolger zu werden.
  • Bei einem Kartenspiel streitet der Prinz mit einem Venezianer, der seine Anwesenheit am Tisch nicht wünscht. Der Prinz und der Graf werden von der Staatsinquisition festgenommen und in einen Keller gebracht. Der den Prinzen beleidigt habende Venezianer wird geköpft.
  • Bei einer Geisterbeschwörung eines sizilianischen Magiers will der Prinz den Geist eines nach einer Schlacht verstorbenen Freundes beschwört haben, damit er dessen letzten unvollendeten Satz zuende sprechen kann. Die Erscheinung wird von einer zweiten unterbrochen, der behauptet, er sei der Geist des wirklich Verstorbenen. Und er beendet den Satz.


Der Sizilianer wird wegen Täuschung festgenommen und dieser Teil des Romans ist ein Debunking allererster Güte. Alle technischen Tricks und die akribische Vorbereitung der Magier dieser Zeit werden vorgestellt. Doch Schiller lässt eine Hintertür offen: Die zweite Erscheinung bleibt ungeklärt und vor ihr hat auch der Magier Angst. Auch die Person des Armeniers könnte übernatürlichen Ursprungs sein. Der Magier: "Bei uns kennt man ihn nur unter dem Namen des Unergründlichen."

Das zweite Buch besteht aus unbeantworteten Briefen eines Barons von F* an den abgereisten Grafen von O*. Religion wird das Hauptthema, das Okkultische wird nicht mehr aufgegriffen. Der Prinz versteigt sich in eine drückende Religiosität:
Alle seine Vorstellungen von Religion hatten etwas Fürchterliches an sich, und eben das Grauenvolle und Derbe war es, was sich seiner lebhaften Einbildungskraft zuerst bemächtigte und sich auch am längsten darin ershielt. Sein Gott war ein Schreckbild, ein strafendes Wesen; seine Gottesverehrung knechtisches Zittern oder blinde, alle Kraft und Kühnheit erstickende Ergebung.
Aus dieser Beklommenheit versucht sich der Prinz zu befreien, indem er sich der libertinen Geheimgesellschaft der Bucentauro (Goldene Barke) anschließt, sich der ausschweifenden Welt der Gesellschaft hingibt und Feste veranstaltet, die sein Budget bei Weitem übersteigen. Nach außen fröhlich, bleibt sein Inneres jedoch düster. Von einem Marchese Civitella, dem er das Leben gerettet hat, leiht er eine hohe Summe, und wegen seines Lebenswandels stellt seine Familie schließlich die Zahlungen ein, der Prinz wird gebeten, Venedig zu verlassen, was er verweigert, da er sich in eine angebliche Griechin verliebt hat.

Graf von O* reist nach Venedig, um dem Prinzen beizustehen, doch als er ankommt, sind dessen Schulden bezahlt, er lebe bei dem Armenier, habe eine katholische Messe besucht. Die angebliche Griechin, wohl eine illegitime Tochter eines hohen deutschen Adeligen, ist vergiftet worden.

Damit bricht der Roman ab. Viele Fragen bleiben auch im zweiten Buch offen. Ist der Prinz Ziel eines vatikanischen Komplotts? Will der Vatikan sich über ihn Zugang zu einem protestantischen Fürstentum in Deutschland verschaffen? Wäre der Fortgang des Romans ein Agenten-Thriller geworden? Diese Fragen hat Schiller nie beantwortet und sich anderen Texten zugewendet.

Hervorzuheben ist auch der gesellschaftliche Umbruch zwei Jahre vor der Französischen Revolution, den Schiller gestaltet. Man wird mit einem Adel konfrontiert, dessen Lebensführung die finanziellen Ressourcen übersteigt, und mit Venedig ist nicht nur ein mysteriöser Sehnsuchtsort gewählt, sondern auch eine reiche Stadtrepublik, die im Kontrast zur deutschen Welt des alten Adels steht.

Im vierten Brief des zweiten Buchs findet sich ein langer philosophischer Dialog, den Schiller ab der zweiten Auflage rausgenommen hat. Einige Bemerkungen sind durchaus interessant. So zum Beispiel über die Despotie:
Der Despot ist das unnützlichste Geschöpf in seinen Staaten, weil er durch Furcht und Sorge die tätigsten Kräfte bindet und die schöpferische Freude erstickt. Sein ganzes Dasein ist eine fürchterliche Negative; und wenn er gar an das edelste, heiligste Leben greift und die Freiheit des Denkens zerstöret - hunderttausend tätige Menschen ersetzen in einem Jahrhunderte nicht, was ein Hildebrand [der spätere Papst Gregor VII. (1073-1085)], ein Philipp von Spanien in wenigen Jahren verwüsteten.
Dennoch lehnt der Prinz die Einzelverantwortlichkeit ab, wenn Despoten ihre Ziele umsetzen. Als Beispiel nennt er "das jahrelange Komplott der Bartholomäusnacht" sowie "die Verschwörung des Cueva gegen Venedig".
Stellen Sie zusammen, was zusammengehört. War jenes Komplott eine Handlung, oder nicht vielmehr eine Kette von hunderttausenden? - und von hunderttausend mangelhaften, gegen welche Ihre kleine Wohltat noch immer im Vorteile stehet. Der Trieb der Menschenliebe schlief bei allen
Auch die Fernwirkung von längst Vergangenem hält er für bedeutsam:
Oft, sehen wir, läßt sie den Faden einer Tat, einer Begebenheit plötzlich fallen, den sie drei Jahrtausende nachher ebenso plötzlich wieder aufnimmt, versenkt in Kalabrien die Künste und Sitten des achtzehnten Jahrhunderts, um sie vielleicht im dreißigsten dem verwandelten Europa wieder zu zeigen, ernährt viele Menschenalter lang gesunde Nomadenhorden auf den tatarischen Steppen, um sie einst dem ermattenden Süden als frisches Blut zuzusenden, wie sie auf ihrem physischen Gange das Meer über Hollands und Seelands Küsten wirft, um vielleicht eine Insel im fernen Amerika zu entblößen! ... wie oft ward ein ganzes Leben vielleicht nur gelebt, um eine Grabschrift zu verdienen, die in die Seele eines späten Nachkömmlings einen Feuerstrahl werfen soll! - Weil vor Jahrhunderten ein verscheuchter Vogel auf seinem Fluge einige Samenkörner da niederfallen ließ, blüht für ein landendes Volk auf einem wüsten Eiland eine Ernte
Beinahe als Vordenker der Arbeitswerttheorie von Karl Marx erscheint der Prinz in dieser Passage:
Das eben ist das Schlimme, daß wir nur moralisch vollkommen, nur glückselig sind, um brauchbar zu sein, daß wir unsern Fleiß, aber nicht unsre Werke genießen. Hunderttausend arbeitsame Hände trugen die Steine zu den Pyramiden zusammen - aber nicht die Pyramide war ihr Lohn. Die Pyramide ergötzte das Auge der Könige, und die fleißigen Sklaven fand man mit dem Lebensunterhalt ab. Was ist man dem Arbeiter schuldig, wenn er nicht mehr arbeiten kann, oder nichts mehr für ihn zu arbeiten sein wird? Was dem Menschen, wenn er nicht mehr zu brauchen ist?