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Judith Kerr - Als Hitler das rosa Kaninchen stahl
30.12.2024 um 17:20Judith Kerr war die Tochter des bekannten Literaturkritikers Alfred Kerr und in der Figur der neunjährigen Anna zeichnet sie die Flucht ihrer Familie vor den Nationalsozialisten 1933 bis 1935 nach. Zunächst ziehen sie in die Schweiz und von dort weiter nach Paris. Die Familie ist verarmt, da sie keinerlei Vermögenswerte mit auf die Flucht haben nehmen können, und für ihren Vater ist es schwierig, in Frankreich Artikel gegen Geld verkaufen zu können. Eine Exilzeitung, in der er schreibt, kann aufgrund finanzieller Schwierigkeiten wenig oder gar nicht zahlen. Nach zwei Jahren in Paris wird in England ein Filmmanuskript über Napoleon für 1000 Pfund gekauft, und die Familie entscheidet 1935, nach England zu ziehen.
Der Text ist strikt aus der Sicht von Anna geschrieben, was Kerr in beeindruckender Weise gelingt. Einerseits ist sie von den verschiedenen Eindrücken beinahe begeistert, andererseits schreibt sie von den Schwierigkeiten, sich in Frankreich einleben zu können, ihren verzweifelten Versuchen Französisch zu lernen, was ihr 1935 so weit gelingt, dass sie das französische Staatsexamen schafft. Auch wird geschildert, wie Anna und ihr Bruder Max (in Realität Michael) als Außenseiter versuchen, sich zu integrieren. Das geht so weit, dass der in Deutschland und der Schweiz "lernfaule" Max an der französischen Schule zum Klassenbesten wird. Auch Anna, die so mit dem Französischen gekämpft hat, bekommt einen Sonderpreis des französischen Präsidenten für einen der besten Aufsätze des Jahrgangs, in dem sie über die Geheimreise ihres grippegebeutelten Vaters nach Prag schreibt, um die Flucht vorzubereiten.
Der Bezug zum Titel ist, dass sie ein altes rosa Plüschkaninchen in Deutschland zurücklassen musste, und nach der Konfiszierung des gesamten Eigentums der Familie, meint die kleine Anna, dass Hitler nun wohl ihr rosa Kaninchen liebhabe.
Am Ende blieb nur Platz für ein paar Bücher und eines von Annas Stofftieren. Sollte sie sich für das rosa Kaninchen entscheiden, das ihr Spielgefährte gewesen war, solange sie sich erinnern konnte, oder für ein neues wolliges Hündchen? Es war doch schade, den Hund zurückzulassen, da sie noch kaum Zeit gehabt hatte, mit ihm zu spielen, und Heimpi packte ihn ihr ein.
Das Klavier war weg ... die Vorhänge im Eßzimmer mit dem Blumenmuster ... ihr Bett ... alle Spielsachen, auch das rosa Kaninchen. Es hatte schwarze, aufgestickte Augen - die Glasaugen waren schon vor Jahren ausgefallen - und es sackte so reizend zusammen, wenn man es auf die Pfoten stellte. Das Fell war, obgleich nur noch verwaschen rosa, so weich und vertraut gewesen. Warum hatte sie nur, statt ihres lieben rosa Kaninchens diesen blöden Wollhund mitgenommen? Das war ein arger Fehler gewesen, und sie würde ihn nie wieder gut machen können.Dieser erste Teil einer Trilogie erschien im Original 1971, übersetzt wurde er auf großartige Weise von Annemarie Böll.
»Ich wußte immer, daß wir die Spiele-Sammlung hätten mitnehmen sollen«, sagte Max. »Hitler spielt wahrscheinlich im Augenblick Dame damit!«
»Und hat mein rosa Kaninchen lieb!« sagte Anna und lachte. Aber gleichzeitig liefen ihr Tränen über die Wangen.