Glattauer-Nordwind

2006 war dieser E-Mail-Roman des österreichischen Schriftstellers Daniel Glattauer ein Bestseller. Zwei Mittdreißiger beginnen zufällig wegen einer fehlgeleiteten Mail einen längeren Dialog per Mail. Er (Leo Leike, Sprachspychologe) kämpft gerade gegen eine Trennungskrise, sie (Emma Rothner, Webdesignerin) ist in einer Ehe mit einem älteren Musiker (ihrem ehemaligen Klavierlehrer, dessen erste Frau bei einem Unfall verstorben ist), der zwei Kinder in die Ehe eingebracht hat. Ihr Dialog per Mail hat nicht eine besondere Tiefe, sie klammern die Außenwelt aus, monologisieren über sich selbst und basteln sich ein Idealbild der jeweils anderen Person. Mehrfach planen sie ein Treffen und als Leo eine Stelle in Boston übernimmt, gibt es einen Termin bei ihm in der Wohnung, den sie nicht wahrnimmt, da ihr Mann sie "Emmi" nennt, was er nie getan hat. Nur von Leo wird sie mit "Emmi" angeschrieben. Sie hat den Verdacht, dass er die E-Mails gelesen hat, was auch stimmt. Sie hat alle Mails ausgedruckt und gesammelt, ihr Mann sie gefunden gehabt. "Amüsiere dich gut, EMMI." Ihre letzte Mail wird vom Mailserver zurückgewiesen: Die Mailadresse von Leo gibt es nicht mehr und er ist unterwegs nach Boston, also ist auch die Wohnungsadresse hinfällig. Beide wissen nicht, wer sie sind.

Nur einmal wird die Realwelt plastischer, als nämlich Emmas Ehemann eine Mail an Leo schreibt.
Sie, Herr Leike, die stille »Außenwelt«. Liebesillusionen per E-Mail, sich stetig aufschaukelnde Gefühle, wachsende Sehnsucht, ungestillte Leidenschaft, alles auf ein nur scheinbar reales Ziel gerichtet, ein höchstes Ziel, das immer wieder weggeschoben wird, das Treffen aller Treffen, das nie stattfinden wird, weil es die Dimension des irdischen Glücks sprengen würde, die vollkommene Erfüllung, ohne Endpunkt, ohne Ablaufdatum, nur in den Köpfen lebbar. Dagegen bin ich machtlos.

Herr Leike, seit es Sie »gibt«, ist Emma wie verwandelt. Sie ist geistesabwesend und mir gegenüber distanziert. Stundenlang sitzt sie in ihrem Zimmer und starrt in den Computer, in den Kosmos ihrer Wunschträume. Sie lebt in ihrer »Außenwelt«, sie lebt mit ihnen. Wenn sie verklärt lächelt, gilt das längst nicht mehr mir.

Ich habe in Emmas Zimmer spioniert. Und ich habe in einer versteckten Lade schließlich eine Mappe gefunden, eine dicke Mappe, voll gefüllt mit Schriftstücken: ihr gesammelter E-Mail- Verkehr mit einem gewissen Leo Leike, fein säuberlich ausgedruckt, Seite für Seite, Mitteilung für Mitteilung.
Da es beiden nur um ihr Ich und das Idealbild des Gegenübers geht, bleiben die Charaktere oberflächlich, sie kommen einem nicht näher. Sie sind fast wie Sprechpuppen. Da Glattauer jedoch gut und witzig formulieren kann, war es streckenweise ein Lesevergnügen, doch letztlich bleiben zwei vermutlich langweilige Figuren in Erinnerung.