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H. G. Wells - Die ersten Menschen im Mond
30.10.2024 um 13:21Bild: Zassen / Wikimedia / CC BY-SA 3.0
Ich habe die Übersetzung dieses 1901 erschienenen Romans von Wells in der Erstübersetzung von Felix Paul Greve 1905 im Bruns-Verlag, wie sie auch im Projekt Gutenberg online zu finden ist, gelesen. Sprachlich ist sie manchmal holprig, vor allem wenn umgangssprachliche Passagen übersetzt wurden, aber auch einige Scan-Fehler sind zu finden, die sich darauf zurückführen lassen, dass das Original in Fraktur gedruckt war.
Sprachlich ist es vielleicht nicht das beste Werk von Wells, aber die Ideen sind für 1901 durchaus bemerkenswert. Der aufgrund von Fehlspekulationen verschuldete Schriftsteller Bedford zieht sich in das südostenglische Dorf Lympne zurück, um ein Theaterstück zu schreiben, und trifft dort auf den zurückgezogen lebenden Physiker und Erfinder Cavor, der an einem Material arbeitet, welches Gravitationsstrahlen abschirmen kann, was ihm schließlich spektakulär gelingt. Beide gehen eine Partnerschaft ein, bauen eine Raumkapsel ("Spähre"), die sich mit Hilfe von Cavorit-Jalousien steuern lässt, und entscheiden sich für eine Reise zum Mond. Cavor aus wissenschaftlicher Neugier, Bedford mit dem Ziel, Rohstoffe vom Mond zu holen.
Die Reise gelingt und im Krater, in dem sie landen, befindet sich Eis, und als der Mondtag anbricht, taut es und es gibt eine dünne, aber sehr sauerstoffreiche Atmosphäre. Sie beobachten, wie sich verschiedene pilz- und kakteenartige Pflanzen entwickeln. Sie treffen auf riesige fette Tiere, die sie Mondkälber nennen, die von ameisenartigen Wesen gehütet und geschlachtet werden. Diese Wesen leben in Mondhöhlen und schließlich werden Cavor und Bedford von diesen gefangen genommen.
Es gelingt den beiden zu fliehen, und auf der Suche nach der Sphäre trennen sie sich. Bedford stößt auf eine Nachricht von Cavor, dass er sich das Bein gebrochen habe und wieder gefangen worden ist. So beschließt er, alleine auf die Erde zurückzureisen. Mitbringsel: Fußfesseln, Handschellen und Ketten aus Gold. Die Rückreise gelingt, er landet beim englischen Seebad Littleton. Eine Rückkehr zum Mond wird durch einen kleinen Jungen verunmöglicht, der in die Sphäre klettert, an den Hebeln spielt und im Weltraum verschwindet. Erklärt wird es durch ein Experiment des nahegelegenen staatlichen Sprengstoffversuchsgeländes. Glauben, dass er am Mond war, schenkt ihm niemand.
Bedford reist nach Amalfi in Italien, veröffentlicht seinen Bericht von der Mondreise, der als fiktive Geschichte aufgefasst wird, bis ihn ein Brief des Schweizer Astronomen Wendigee erreicht, in dem er von Radionachrichten vom Mond berichtet. In der Schweiz hört Bedford die Aufzeichnungen von Cavor, die er zur Erde schickt.
Der Kern ist nicht die Story, sondern letztlich die Frage, wie mit intelligenten Wesen kommuniziert werden kann, die nicht humanoid sind. Zunächst wird überlegt, ob man sich mit grundlegenden Erkenntnissen der Geometrie bildlich verständlich machen kann. Dabei bezieht sich Wells auf Francis Galton, der über die Kommunikation mit Marsianern eine Kurzgeschichte geschrieben hat:
Seine Idee war, mit jenen allgemeinen Wahrheiten zu beginnen, die allen denkbaren geistigen Existenzen zugrunde liegen müssen, und darauf eine Basis zu begründen. Zunächst mit den großen Prinzipien der Geometrie. Er schlug vor, irgendeinen führenden Lehrsatz des Euklid zu nehmen und durch Konstruktion zu zeigen, daß uns seine Wahrheit bekannt sei, zum Beispiel zu beweisen, daß die Winkel an der Basis eines gleichseitigen Dreiecks gleich sind, und daß, wenn man die gleichen Seiten verlängert, auch die Winkel auf der anderen Seite der Basis gleich sind, oder daß das Quadrat auf der Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks gleich der Summe der Quadrate über den beiden Katheten ist. Dadurch, daß wir unsere Kenntnis dieser Dinge dartäten, würden wir zeigen, daß wir im Besitz eines vernünftigen Intellekts sind ...Doch die wirkliche Kommunikation gelingt Cavor, als er allein am Mond ist. Ihm werden zwei intelligente Seleniten beigestellt, welche die englische Sprache erlernen.
So erfährt Cavor, dass die Seleniten ähnlich wie Insekten ab Geburt für spezielle gesellschaftliche Rollen gezüchtet werden: Mondkalbhirten, Schlachter, Administratoren, Sachverständige, Gelehrte, Matronen (sie gebären), Larvenbetreuerinnen, ...
"Im Mond", sagt Cavor, "kennt jeder Bürger seinen Platz. Für diesen Platz ist er geboren, und die sorgfältige Zucht der Abrichtung und Erziehung und Chirurgie, die er durchmacht, paßt ihn seinem Platz zuletzt so vollständig an, daß er für irgendwelchen Zweck darüber hinaus weder Ideen noch Organe mehr hat."Die Selektionsmaßnahmen nach Geburt sind zum Teil brutalst geschildert:
doch ganz kürzlich traf ich auf eine Anzahl junger Seleniten, die in Krüge eingeschlossen waren, aus denen nur die Vorderglieder heraussahen; sie wurden komprimiert, um Maschinenwärter einer besonderen Art zu werden. Die ausgestreckte ›Hand‹ wird in diesem hochentwickelten System der technischen Ausbildung durch Reizmittel angetrieben und durch Injektion ernährt, während man den Rest des Körpers hungern läßt.Jedes Individuum hat eine Aufgabe zu erfüllen und falls es nichts zu tun gibt, werden die untätigen Individuen mit Hilfe eines Schlafpilzes in künstlichen Tiefschlaf versetzt, bis sie wieder Aufgaben zu erfüllen haben.
Diejenigen mit intellektuellen Aufgaben (Administratoren, Sachverständige, Gelehrte, der Mondherrscher) haben überdimensionierte Gehirne, da es keine Knochenschale gibt, die das Gehirn in seinem Wachstum einschränken könnte.
Jene Wesen mit den großen Köpfen, denen die intellektuellen Arbeiten zufallen, bilden in dieser seltsamen Gesellschaft eine Art Aristokratie, und an ihrer Spitze steht als Quintessenz des Mondes jenes wunderbare, gigantische Nervenzentrum, der Mondherrscher.Schriftliche Aufzeichnungen existieren nicht. Sämtliches Wissen ist in den Gehirnen der Gelehrten gespeichert.
Im Vergleich der selenitischen und menschlichen Zivilisation spielt das Kriegerische des Menschen eine zentrale Rolle. Bereits nach der ersten Sichtung der Seleniten äußert sich Cavor sehr pessimistisch:
Die Regierungen und Mächte werden hierherzukommen ringen, sie werden gegeneinander kämpfen und gegen dies Mondvolk; das wird nur Krieg verbreiten und die Anlässe des Krieges vermehren. In kurzer Zeit, in sehr kurzer Zeit wird dieser Planet, wenn ich mein Geheimnis sage, bis in seine tiefsten Galerien hinein mit menschlichen Leichen besät sein.Nach der Begegnung mit dem Mondherrscher, als Cavor von den irdischen Kriegen berichtet hat, wird anscheinend mit Gewalt eine weitere Kommunikation mit der Erde unterbunden. Sein weiteres Schicksal bleibt offen.
Andere Dinge sind zweifelhaft, aber das ist sicher ... Es ist nicht, als ob der Mensch irgend etwas mit dem Mond anfangen könnte. Was könnte der Mond den Menschen nützen? Selbst aus ihrem eigenen Planeten haben sie nichts gemacht als ein Schlachtfeld und einen Schauplatz unendlicher Narrheit.
Zum Astronomischen: Der Mond mit Atmosphäre ist nicht möglich, da die geringe Schwerkraft Sauerstoff nicht halten kann. Der Mond selbst wird als Schwamm bezeichnet (lockeres Gestein), der innen hohl ist. Die Vulkantheorie wird abgelehnt. In der Hohlwelt, die durch phosphorizierendes Material blau erleuchtet ist, können die Seleniten existieren, in der Atmosphäre auf der Oberfläche Mondkälber, Pilze und Pflanzen. Im Zentrum des Mondes befindet sich ein Zentralmeer, in dem zum Teil monströse Wesen leben, die auch Fischer attackieren können.
Zum Technischen: Gravitationsabschirmung als Mittel der Fortbewegung ist eine elegante Idee, nur nicht umsetzbar, da es wohl keine Gravitationsstrahlen gibt. Die Auswirkungen sind sehr anschaulich beschrieben, wenn die Abschirmung ungesteuert eingesetzt wird (Häuser fliegen explosionsartig in die Luft). Ziemlich korrekt wird bereits beschrieben, dass beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre sich eine Raumkapsel erwärmt. In Realität noch viel heftiger als im Roman beschrieben.