Hier haben wir ein Beispiel dafür, wie abstruse Theorien aus rechtsextremen Ecken heute leider zu Allgemeingut werden können.

Manfred Gerner gilt als Spezialist für historische Fachwerkbauten und hat einige Bücher dazu veröffentlicht. Im Jahr 2003 sorgte allerdings sein Buch „Formen, Schmuck und Symbolik im Fachwerkbau“ für Aufregung in der Fachwelt und veranlasste Kunsthistoriker G. Ulrich Großmann zu einem sehr kritischen Artikel, aus dem auch die folgenden Zitate stammen. Zu den Personen:
Wikipedia: Manfred Gerner (mit Erwähnung des Vorfalls)
Wikipedia: G. Ulrich Großmann

Was war passiert?

Die Erforschung von Fachwerkbauten als traditionelle Bauweise hatte im 19. Jahrhundert einen nationalen Hintergrund. Es wurden Thesen zu älteren Ursprüngen der traditionellen Bauweise deutscher Häuser aufgestellt. Um 1900 kam dann die völkische Bewegung auf dieses Thema und entwickelte wilde Theorien: In den Fachwerkstrukturen seien Runen und andere germanische Zeichen zu erkennen. So schrieb der völkische Autor Bartel Hanftmann 1907:
Der Holzbau guter Zeit ist kein Stilbau. Er kennt nicht Gotik noch Renaissance. Letztere schafft er sich selbst [...] durch Neuaufnahme arisch-germanischer Sinnbildzier, die die vorgotische Zeit ergiebig geübt hatte, die aber während der Zeit der Gotik [...] unterdrückt worden war. Fast das gesamte Schmuckwerk besteht aus alt-arischen Sinnbildern der Licht-, Herd- und Feuerverehrung.
Quelle: siehe unten

Diese völkisch geprägten Theorien wurden auch von der SS-Organisation „Ahnenerbe" und ihrem Mitglied Karl Theodor Weigel aufgegriffen und nach 1945 von einigen Autoren nahtlos weitergeführt, bis sie schließlich in dem oben erwähnten Buch von Manfred Gerner landeten, der sich ausdrücklich auf Weigel bezieht:
Er schreibt darin das "Wissen um die geheimnisvolle Symbolik" einerseits den "Meistern, den ,Wissenden' [zu], teilweise war es weitverbreitetes Volksgut". Im Mittelalter seien die Zeichen unterdrückt worden. Während der Christianisierung der Sachsen beispielsweise sei denen die Todesstrafe angedroht worden, die Zeichen zur Vertreibung von Dämonen an die Häuser schnitzen lassen, heißt es weiter, unter ausdrücklichem Verweis auf Karl Theodor Weigel. Das Wissen sei von Generation zu Generation vererbt worden. Es folgen weitere Behauptungen zur Überlieferung der Symbole, für die Gerner in gleicher Weise keinerlei seriöse Quellen oder Nachweise anführen kann und die sich letztlich als freie Erfindungen herausstellen. "Mit dem Aufleben des national geprägten ,Blut-und-Boden-Denkens' erinnerten sich die Forscher des Germanentums noch einmal der Runen und arischen Symbolsprache. Zahlreiche Arbeiten zu diesem Thema stammen aus der Zeit bis 1940."
Quelle: siehe unten

Besonders peinlich daran ist, dass Gerners Buch von der Fraunhofer-Gesellschaft herausgegeben wurde. Sie reagierte auf die Kritik sehr zögerlich, zog das Buch dann doch zurück, hat aber später wieder ähnliche Schriften veröffentlicht.
Die unwissenschaftliche Naivität, mit der die Fraunhofer-Gesellschaft als eine der Spitzenorganisationen der deutschen Forschung Theorien des SS-Ahnenerbes ein neues Forum gewährte, war der Hauptgrund für die Kritik des Verfassers und letztlich die Ursache für die gemeinsame Tagung des Germanischen Nationalmuseums und der Freien Universität Berlin. Dass Manfred Gerner seine Erkenntnisse von völkischen Publikationen des SS-Ahnenerbes übernommen hat, ist der Forschung spätestens seit 1985/86 bekannt. Dass auch die Fraunhofer-Gesellschaft in dieser Hinsicht anfällig ist, wenn auch wohl eher aus Unkenntnis oder Desinteresse, war nicht zu erwarten. Die Reaktion der Fraunhofer-Gesellschaft auf die Kritik an ihrem Buch war dementsprechend zunächst, vorsichtig ausgedrückt, ausgesprochen verharmlosend: "Die verlagsüblichen Qualitätskriterien" seien bei der Prüfung des Manuskriptes eingehalten worden, zitiert der "Spiegel" den Verlagsleiter Hans Kindt.
Quelle: siehe unten

Da waren allerdings Gerners Theorien schon in den Köpfen von Laien und Politikern festgesetzt; wurden durch Vereine, Verbände und Schulen weiter verbreitet; wurde Steuergeld dafür ausgegeben. Es kam auch zu Rechtsstreits. Großmanns Fazit:
Andererseits reichen bereits wenige Einzelpersonen aus, um in der Bundesrepublik bei einer größeren Zahl ahnungsloser Laienvereinigungen und selbst - nicht minder naiver - Wissenschaftlern (bzw. Hochschul- und Fachhochschullehrern, bei denen es sich nicht immer um Wissenschaftler handelt!) und Politikern das Aufgreifen völkischer Theorien auszulösen, durch den sich nationale und völkische, ja sogar nationalsozialistische Erklärungsmuster ausbreiten. Als derartige "Mitläufer" haben wir mehrere Professoren, Bürgermeister und Leiter von Landesbehörden feststellen müssen, denen dabei jedes Problembewusstsein fehlt. Man muss daher zu der Erkenntnis kommen, dass im weitesten Sinne "braune" Thesen, die nicht von Skinheads mit Springerstiefeln, sondern im Nadelstreifenanzug "vorgetragen" werden, eine erhebliche Chance auf Verbreitung haben.
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Quellen

G. Ulrich Großmann: Völkisch und national - Der "Beitrag" der Hausforschung. Zum Wiederaufleben der Runenkunde des SS-Ahnenerbes
https://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/2688/1/Grossmann_VoelkischundNational_2009.pdf
(daraus alle Zitate)

G. Ulrich Großmann: Völkische Fachwerkdeutungen zwischen 1907 und 2007 in Norddeutschland
https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/mitt-dgamn/article/view/17133

Arbeitskreis für Hausforschung: Runendiskussion. Symbole, Runen und die Fraunhofer-Gesellschaft
https://www.arbeitskreisfuerhausforschung.de/aktuell/runendiskussion
(mit Chronologie und weiteren Quellen)

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Der erste Artikel von Großmann erschien in dem Sammelband

"Völkisch und national: Zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert".

Inhaltsverzeichnis: https://d-nb.info/982030452/04
Tagungsbericht: https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-119648