Wer sich ernsthaft für Geschichte interessiert, wird sicher schon festgestellt haben, dass es manche Diskrepanzen zwischen den wissenschaftlich untermauerten Fakten und Interpretationen einerseits und verbreiteten, populären Vorstellungen andererseits gibt. Daran hat auch die leichtere Zugänglichkeit von Informationen durch die modernen Medien nicht viel geändert. Das Internet verbreitet Lügen und Irrtümer leider genauso wie Tatsachen.

Diese Falschdarstellungen können erstaunlich hartnäckig sein und ihre Vertreter regelrecht hysterisch werden, wenn ihnen widersprochen wird. Auch das Erbringen klarer Belege bleibt oft wirkungslos, wird zerredet oder sogar als persönlicher Angriff wahrgenommen.

Es ist offensichtlich, dass es dabei nicht nur um bloße Irrtümer geht. Bei vielen falschen Vorstellungen handelt es sich um Mythen. Mythen sind Erzählungen verschiedenster Art, die Sinn stiften und die Welt erklären, Orientierung und Gemeinschaft geben, selbst wenn sie in Wirklichkeit noch so falsch sind. Darunter fallen auch Verschwörungstheorien. Anders gesagt: Bei Entlarvung der Mythen würde im Extremfall das Selbstbild und Weltbild ihrer Anhänger zusammenbrechen. Das erklärt die heftigen Abwehrreaktionen.
In Abgrenzung zum religiösen [Mythos], der eine transzendentale Komponente hat, lässt sich "politischer Mythos" als stereotypisiertes, verfestigtes Geschichtsbild und zugleich als emotional konnotierte Narration zur Erklärung der Ursprünge und Gründung einer sozialen Großgruppe definieren. [...]

Da die Vergangenheit somit "mythisch gelesen" wird, beruhen politische Mythen auf einem historischen Kern, verklären aber Ereignisse und Entwicklungen im Sinne der intendierten kommunikativen Ziele. Hierbei rekurrieren sie auf den "ewigen Kampf zwischen Guten und Bösen", wodurch es zu einer Abgrenzung zwischen dem Eigenen und dem Fremden kommt. Die erinnerten Ereignisse werden stark vereinfacht, auf die jeweilige Botschaft hin zugespitzt und idealisiert, indem sie nicht passende Aspekte ausblenden. Schwer Erklärbares kann so für jeden Angehörigen einer Gemeinschaft klar nachvollziehbar werden – nur so kann die mythische Narration Sinn stiften und Orientierung geben.
Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/156772/deutsche-mythen-und-ihre-wirkung


Es ist nicht überraschend, dass gerade die Geschichte von der Mythenbildung betroffen ist. Geschichte ist eben nicht nur tote Vergangenheit, sondern wirkt bis heute. Sie wird auch genutzt, um Verhalten oder Forderungen von heute zu rechtfertigen. Geschichtsmythen nehmen zwar Bezug auf die Vergangenheit, haben für ihre Anhänger aber in Wirklichkeit eine Funktion in der Gegenwart. Siehe auch: erfundene Tradition.
Der Begriff "Geschichtsbilder" ist eine Metapher für gefestigte Vorstellungen und Deutungen der Vergangenheit mit tiefem zeitlichen Horizont, denen eine Gruppe von Menschen Gültigkeit zuschreibt. Politische und kulturelle Gemeinschaften können sich offenbar nur selbst verstehen, ihre Handlungen abwägen und Optionen für die Zukunft begründen, wenn sie in der "Zeit", d.h. zwischen vergangener und kommender Geschichte, zwischen Erfahrung und Erwartung, ihren Ort bestimmen. Solche selbstbezogenen Deutungen stiften im Chaos der unendlichen Vorgänge der Vergangenheit Sinn, bieten Orientierungshilfe und Handlungssicherheit. So werden Gefühl und Bewusstsein der Zusammengehörigkeit, wird kollektive Identität beglaubigt, der Daseinssinn einer Gemeinschaft gestiftet. Als gedeutete Vergangenheit beeinflussen sie Gegenwartsverständnis und Zukunftserwartung. Sie sind Elemente der "gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit".
Da Mythen auch entgegen der Faktenlage in ihrer Anhängerschaft als Wahrheit gelten, sind sie wissenschaftlich und politisch gesehen ein Problem. Auch die Mythenerzähler selbst sehen die Geschichtswissenschaft als Gegner und bis zur Geschichtsfälschung ist es dann nicht mehr weit.
Geschichtsbilder sind nicht Abbildungen des Vergangenen, sondern Ein-Bildungen der Vorstellungs- und Urteilskraft. Im Horizont der Weltgeschichte insgesamt sind diese "Bilder", die Stämme, Völker, Nationen oder auch Religions- und Kulturgemeinschaften sich selbst zuschreiben, nur partikularer Natur. Ihren Anhängern aber erscheinen sie als geschichtliche Wahrheit schlechthin. Widersprechende Bilder anderer Gruppen sind für sie falsch oder bösartig und bestenfalls kurios. Solche Geschichtsbilder sind faktenarm, hochselektiv, aber urteilsfreudig und gefühlsstark. Daher ist die Geschichtsforschung mit ihrem kritischen Instrumentarium ein Feind der Geschichtsbilder - mögen Historiker ihrem Bann auch nicht selten erliegen.
Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung (beide Zitate)
https://www.bpb.de/themen/erinnerung/geschichte-und-erinnerung/39810/geschichtsbilder-zeitdeutung-und-zukunftsperspektive/


Dies vorab als Grundlage. In diesem Blog soll es um einige konkrete Geschichtsmythen gehen, ihre Entstehung, Verbreitung und den Abgleich mit den Tatsachen. Ich sehe das vor allem als Materialsammlung. Die Relevanz und Aktualität des Themas liegt nach dem oben Geschriebenen auf der Hand.