Narrenschiffer
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Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo
14.09.2024 um 10:33Die Geschichte von Christiane Felscherinow aus 1978 dürfte zumindest in Grundzügen bekannt sein, dennoch ist die Lektüre, wie eine 15-Jährige über ihre Heroinsucht berichtet, beeindruckend. Ihre Aussagen regen doch sehr zum Nachdenken an: Häusliche Vernachlässigung und Gewalt, Lebensumfeld in Hochhaussiedlungen (hier die Gropius-Stadt in Berlin) bzw. Armenvierteln (Kreuzberg), ihre Suche nach einer Gruppe, Selbstüberschätzung und Selbsterhöhung (wir sind besser als die anderen), Selbsttäuschung (nach den mehrfachen Entzügen wird weiter gedrückt mit der Meinung, nun sei man eh nicht mehr abhängig und könne den Drogenkonsum kontrollieren).
Sehr anschaulich wird geschildert, wie schließlich das Geld beschafft wird, um an die Droge zu kommen: Anschaffen am Strich (ihr Freund am Schwulenstrich), Dealen (was Christiane letztlich Kontakt mit der Polizei einbrachte).
Christiane zieht mit ihren Eltern, die sich schließlich wegen des gewalttätigen Vaters scheiden lassen, wegen Arbeitslosigkeit vom Land nach Berlin, der Plan eines Eheanbahnungsinstituts scheitert, sie landen in der Gropiusstadt. Was Christiane auffällt, ist das andere Spiel der Kinder. Am Land spielten sie gemeinsam, in der Stadt geht es darum, sich gegenseitig fertigzumachen. Idyllisierend schreibt sie:
Es gab auch keinen Anführer bei uns im Dorf. Jeder konnte Vorschläge machen, was gespielt werden sollte. Dann wurde solange rumkrakeelt, bis sich ein Vorschlag durchgesetzt hatte. Es war gar nichts dabei, wenn die Älteren mal den Kleinen nachgaben. Es war eine echte Kinder-Demokratie.Städtische Kinderspiele nimmt sie so wahr:
Das ganze Spiel war, den anderen fertigzumachen und für sich selbst Vorteile herauszuschinden, Macht zu erobern und Macht zu zeigen.In der Gropiusstadt gab es einen evangelischen Jugendclub Haus der Mitte, in dem sie mit Drogen in Kontakt kam. Ohne behelligt zu werden, rauchten Jugendliche und Kinder Haschisch (letztlich wurde er geschlossen, als auch die Heroinszene dort ihrer Sucht nachgehen konnte). In der alternativen Disko Sound kommt sie als 13-Jährige mit der Heroin-Szene in Kontakt, begann zu sniffen und schließlich zu drücken. Wie die verschiednenen Drogenszenen hierarchisiert wurden, beschreibt sie folgendermaßen:
Die Schwächsten kriegten die meisten Prügel. Meine kleine Schwester war nicht sehr robust und ein bißchen ängstlich. Sie wurde ständig vertrimmt, und ich konnte ihr nicht helfen.
Die Scene im Sound wurde inzwischen immer härter. Das Heroin kam rein wie eine Bombe. ...Ihren Weg zu Heroin beschreibt Christiane:
Andererseits hatte ich wieder diese Hochachtung vor den Gruppen, in denen gedrückt wurde. Das war wieder die nächst höhere Clique für mich. Die Fixer sahen auf uns Hascher und Pillenschlucker mit einer ungeheuren Verachtung herab.
Haschisch hieß bei ihnen die Babydroge.
... irgendwie mußte sich in den Wochen, in denen mir Tabletten, Shit und LSD nichts mehr gegeben hatten, meine Einstellung zu H geändert haben. Jedenfalls waren die unüberwindlichen Barrieren, die zwischen mir und den Fixern gewesen waren, offenbar weg.Ihr erstes H-Sniffen:
Ich sog das Pulver sofort durch die Nase ein. Alles, was ich spürte, war ein beißend bitterer Geschmack. Ich mußte Brechreiz unterdrücken und spuckte dann doch eine Menge von dem Zeug wieder aus. Dann kam es aber unheimlich schnell. Meine Glieder wurden wahnsinnig schwer und waren gleichzeitig ganz leicht. Ich war irrsinnig müde, und das war ein unheimlich geiles Gefühl. Die ganze Scheiße war mit einem Mal weg. Kein »It is too late« mehr. Ich fühlte mich so toll wie noch nie. Das war am 18. April 1976, einen Monat vor meinem 14. Geburtstag. Ich werde das Datum nie vergessen. ... Ich fühlte mich wie in einer tollen neuen Familie. Ich sagte nicht viel, aber ich hatte das Gefühl, zu den beiden über alles reden zu können. Das H machte uns zu Geschwistern.Christianes Mutter, die auch interviewt wurde, äußerte mehrfach ihr Unverständnis bzw. ihre Wut auf einen Staat, der nichts mehr auf die Reihe bekommt, der sie mit ihrer Tochter allein lässt: Therapieplätze gibt es für Kinder nicht, der Kinderstrich an der Kreuzung Kurfürstenstraße/Potsdamer Straße werde geduldet.
Die Schilderungen Christianes bestätigen die Beobachtungen ihrer Mutter. Ihr Vater, mit dem sie wieder Kontakt hat, will einen Dealer anzeigen, der minderjährige Fixerinnen zu sexuellen Handlungen zwingt. Die Antwort der Polizei ist mehr als befremdlich:
Die Bullen sagten ihm, daß man an der Hasenheide nur eine richtige Razzia machen könne, und das ginge nicht so von heute auf morgen. Die hatten also gar keinen Bock, so einen »Kinderverführer« - wie mein Vater sagte - zu verhaften, weil ihnen das zu viel Mühe machte.In einer Fußnote wird erwähnt, dass dieser Mann 1978 wegen Heroinverkaufs und sexuellen Missbrauchs einer Minderjährigen zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt wurde.
Der Polizei war der Kinderstrich mit Minderjährigen ganz offensichtlich nicht nur egal, es waren auch Polizisten unter den Freiern:
Die Streifenwagen fuhren vorbei, und die Bullen winkten uns oft fröhlich zu. Einer von ihnen gehörte sogar zu meinen ständigen Freiern.Nach mehrfachen Entzugsversuchen und zweimaliger Gelbsucht fliegt ihre Mutter Christiane zu Verwandten in einen kleinen Ort bei Hamburg, wo sie nur wegen ihres Vorlebens von der Realschule in die Hauptschule versetzt wurde. Die Trennung zwischen Hauptschülern bzw. Realschülern und Gymnasiasten ist extrem. Sie verkehren nicht nur in unterschiedlichen Diskos, auf dem Schulgelände gibt es einen Strich am Schulhof, der die beiden Gruppen trennt. Sie dürfen einander nicht treffen.
Quer über den Schulhof lief ein weißer Strich. Auf der einen Seite waren in den Pausen die Oberschüler, auf der anderen die Hauptschüler. Es war verboten, über den weißen Strich zu gehen. Ich durfte mich also mit meinen Mitschülern aus der alten Klasse nur über den Strich unterhal-ten.Christiane verkehrt trotzdem mit Schülern aus höheren Schulformen und wird clean.
Ihre Lebensgeschichte nach Veröffentlichung dieses Buchs, das ihr doch viel Geld einbrachte, ist nachlesbar. Aber was sie als Fünfzehnjährige für dieses Buch erzählt hat, ist ein Zeitdokument allerersten Ranges.