Hesse-Steppenwolf

Jetzt habe ich mich endlich durch diesen berühmtesten Roman von Hesse durchgequält. Als Schüler (oder junger Student?) habe ich die Lektüre schon mal entnervt im ersten Drittel abgebrochen, weil diese unglaubliche Arroganz eines abgetakelten 50-jährigen Trinkers einfach nur abstoßend war. Nach Komplettlektüre hat sich nicht sonderlich viel geändert.

Die Einleitung erzählt der Sohn der Vermieterin einer kleinen Dachkammer, in der Harry Haller einige Monate lebt, den Tag auf der Couch schlafend, lesend, trinkend verbringt, aber sonst recht still und nicht unsympathisch sei. Nach seinem Auszug hinterlässt Haller ein Manuskript über seine Monate in dieser nicht genannten Stadt (wohl irgendwo in der Schweiz, da in Franken bezahlt wird), das den Hauptteil bildet.

Haller ist geschieden, seine verrückt gewordene Frau habe ihn rausgeschmissen, hat Kontakt zur Wissenschaftswelt gehabt, hat jedoch den Glauben an diese verloren und lebt jetzt zurückgezogen, von Ort zu Ort ziehend, von seinen Ersparnissen und den Zinsen seiner Wertpapiere. Manchmal trifft er sich mit einer Geliebten (Erika). Im Kopf ist für ihn die Welt der hohen Kunst (Bach, Mozart, Goethe) das Ideal, die moderne Welt (der Roman erscheint 1927) stößt ihn ab.

Für den Vermietersohn lebt Haller in einer Zwischenwelt (damit gibt Hesse wohl die Interpretation vor). Die alte noble ist am Absterben, die neue im Entstehen:
Zum wirklichen Leiden, zur Hölle wird das menschliche Leben nur da, wo zwei Zeiten, zwei Kulturen und Religionen einander überschneiden. Ein Mensch der Antike, der im Mittelalter hätte leben müssen, wäre daran jämmerlich erstickt, ebenso wie ein Wilder inmitten unsrer Zivilisation ersticken müßte.
Gleich zu Beginn des Hauptteils konstatiert Haller, dass er "inmitten der zerstörten und von Aktiengesellschaften ausgesogenen Erde" lebe und man froh sein könne, wenn "heute wieder kein Krieg ausgebrochen, keine neue Diktatur errichtet, keine besonders krasse Schweinerei in Politik und Wirtschaft aufgedeckt worden ist". Schizophren wird es, wenn Haller, der die kleinbürgerliche Sauberkeit liebt, sich dort einmietet und sie genießt, den Normalmenschen abkanzelt:
Denn dies haßte, verabscheute und verfluchte ich von allem doch am innigsten: diese Zufriedenheit, diese Gesundheit, Behaglichkeit, diesen gepflegten Optimismus des Bürgers, diese fette gedeihliche Zucht des Mittelmäßigen, Normalen, Durchschnittlichen.
Haller ist sich dieser Schizophrenie bewusst:
Ich weiß nicht, wie das zugeht, aber ich, der heimatlose Steppenwolf und einsame Hasser der kleinbürgerlichen Welt, ich wohne immerzu in richtigen Bürgerhäusern, das ist eine alte Sentimentalität von mir. Ich wohne weder in Palästen noch in Proletarierhäusern, sondern ausgerechnet stets in diesen hochanständigen, hochlangweiligen, tadellos gehaltenen Kleinbürgernestern, wo es nach etwas Terpentin und etwas Seife riecht und wo man erschrickt, wenn man einmal die Haustür laut ins Schloß hat fallen lassen oder mit schmutzigen Schuhen hereinkommt. Ich liebe diese Atmosphäre ohne Zweifel aus meinen Kinderzeiten her, und meine heimliche Sehnsucht nach so etwas wie Heimat führt mich, hoffnungslos, immer wieder diese alten dummen Wege.
Und über das moderne Leben und die moderne Kultur äußert Haller:
Ich kann weder in einem Theater noch in einem Kino lange aushalten, kann kaum eine Zeitung lesen, selten ein modernes Buch, ich kann nicht verstehen, welche Lust und Freude es ist, die die Menschen in den überfüllten Eisenbahnen und Hotels, in den überfüllten Cafés bei schwüler aufdringlicher Musik, in den Bars und Varietés der eleganten Luxusstädte suchen, in den Weltausstellungen, auf den Korsos, in den Vorträgen für Bildungsdurstige, auf den großen Sportplätzen ... Jazz[musik] war mir zuwider, aber sie war mir zehnmal lieber als alle akademische Musik von heute ... Sie hatte etwas vom Neger und etwas vom Amerikaner, der uns Europäern in all seiner Stärke so knabenhaft frisch und kindlich erscheint.
Das dürfte die Stelle gewesen sein, an der ich die erste Lektüre wütend abgebrochen habe.

Im Anschluss wird der Roman unklar, ob Haller Realität, Traum oder Fikives schreibt oder alles mischt. Er kommt bei einem "Magischen Theater" vorbei, das nur "für Verrückte" sei und eine "anarchistische Abendunterhaltung" biete. Ein Mann, der für dieses Varieté wirbt, gibt ihm das Tractat vom Steppenwolf in die Hand, das namentlich von ihm selbst handelt und beschreibt, dass der Mensch nicht nur aus zwei Seelen (Wolf und Mensch) bestehe, sondern aus tausenden. Darin wird Haller folgendermaßen charakterisiert: Er sei ein zerrissener Mensch, der nie zufrieden sein könne. Und weiter:
Denn alle, die ihn lieb gewannen, sahen immer nur die eine Seite in ihm. Manche liebten ihn als einen feinen, klugen und eigenartigen Menschen und waren dann entsetzt und enttäuscht, wenn sie plötzlich den Wolf in ihm entdecken mußten. Und das mußten sie, denn Harry wollte, wie jedes Wesen, als Ganzes geliebt werden und konnte darum gerade vor denen, an deren Liebe ihm viel gelegen war, den Wolf nicht verbergen und weglügen. Es gab aber auch solche, die gerade den Wolf in ihm liebten, gerade das Freie, Wilde, Unzähmbare, Gefährliche und Starke, und diesen wieder war es dann außerordentlich enttäuschend und jämmerlich, wenn plötzlich der wilde, böse Wolf auch noch ein Mensch war, auch noch Sehnsucht nach Güte und Zartheit in sich hatte, auch noch Mozart hören, Verse lesen und Menschheitsideale haben wollte.
Diese Zerrissenheit sei es, die ihn zwar das Bürgertum hassen lasse, er aber mit seinem Vermögen bei den Bürgern lebe und ihre Ordentlichkeit schätze. Er liebe Revolutionäre, hasse jedoch Diebe oder Lustmörder.
Harry findet in sich einen »Menschen«, das heißt eine Welt von Gedanken, Gefühlen, von Kultur, von gezähmter und sublimierter Natur, und er findet daneben in sich auch noch einen »Wolf«, das heißt eine dunkle Welt von Trieben, von Wildheit, Grausamkeit, von nicht sublimierter, roher Natur.
Es gäbe jedoch auch einen "wahren Menschen", so das Tractat, zu dem Harry finden müsse:
Den Weg zum wahren Menschen, den Weg zu den Unsterblichen kann Harry zwar recht wohl ahnen, geht ihn auch hie und da ein winziges, zögerndes Stückchen weit und bezahlt das mit schweren Leiden, mit schmerzlicher Vereinsamung. ... Ein Mensch, der fähig ist, Buddha zu begreifen, ein Mensch, der eine Ahnung hat von den Himmeln und Abgründen des Menschentums, sollte nicht in einer Welt leben, in welcher common sense, Demokratie und bürgerliche Bildung herrschen.
Haller stößt nun (fast ein Klassiker für einen Mann in der Midlife Crisis) in die Welt der heiteren Unterhaltung und jungen Frauen vor. Er lernt eine Hermine (Kurtisanin, teils genderfluid) kennen und schätzen, sie führt ihn in die Welt der Unterhaltung und des Jazz ein und schanzt ihm mit einer schönen Maria eine junge Frau zu, mit der er viele Liebesnächte verbringt (er mietet extra für diese Liebesnächte noch ein weiteres Zimmer an). Düster prognostiziert Hermine, dass Haller sie töten werde, wenn sie das möchte. Einstweilen lehrt sie ihn, den Foxtrott zu tanzen. Eine weitere zentrale Figur lernt Haller kennen: den lateinamerikanischen Saxofonspieler Pablo, ein fescher junger Mann, den Hermine gut kennt.

Es ist dieser Pablo, der eine Vielzahl von Drogen kennt wie nutzt und das Magische Theater leitet, in das Haller mit Hermine und Pablo nach einem Maskenball geht. In diesem Theater finden sich viele Spiegel, in denen sich wohl die Seele spiegelt. Auch finden sich viele Türen mit plakativen Aufschriften. Haller tritt in einige Räume, und die Ereignisse sind verstörend. So tritt er in den Raum mit dem Plakakt "Hochjagd auf Automobile". Mit seinem ehemaligen Schulfreund und dem nunmehrigen Theologieprofessor Gustav erschießt er auf einer Bergstraße alle Insaßen von Fahrzeugen, die hochfahren. Eine radikale, antiindustrielle Aktion:
Wilde, prachtvoll aufreizende Plakate an allen Wänden forderten in Riesenbuchstaben, die wie Fackeln brannten, die Nation auf, endlich sich einzusetzen für die Menschen gegen die Maschinen, endlich die fetten, schöngekleideten, duftenden Reichen, die mit Hilfe der Maschinen das Fett aus den andern preßten, samt ihren großen, hustenden, böse knurrenden, teuflisch schnurrenden Automobilen totzuschlagen, endlich die Fabriken anzuzünden und die geschändete Erde ein wenig auszuräumen und zu entvölkern, damit wieder Gras wachsen, wieder aus der verstaubten Zementwelt etwas wie Wald, Wiese, Heide, Bach und Moor werden könne.
... es war Krieg, ein heftiger, rassiger und höchst sympathischer Krieg, worin es sich nicht um Kaiser, Republik, Landesgrenzen, um Fahnen und Farben und dergleichen mehr dekorative und theatralische Sachen handelte, um Lumpereien im Grunde, sondern wo ein jeder, dem die Luft zu eng wurde und dem das Leben nicht recht mehr mundete, seinem Verdruß schlagenden Ausdruck verlieh und die allgemeine Zerstörung der blechernen zivilisierten Welt anzubahnen strebte.
Und dieser Gustav äußert die Begründung des Handelns in den Worten eines wahnsinnigen Terroristen:
"Es ist aber in der Tat gleichgültig, wie die Leute heißen, die wir da umbringen. Sie sind arme Teufel wie wir, auf die Namen kommt es nicht an. Diese Welt muß kaputtgehen und wir mit."
Und zu einem Oberstaatsanwalt in seinem Auto sagt Gustav, bevor er ihn und seine Familie erschießt:
Nur töten wir nicht aus Pflicht, sondern zum Vergnügen, oder vielmehr: aus Mißvergnügen, aus Verzweiflung an der Welt.
Hinter weiteren Türen trifft er auf Goethe und Mozart, auch spielt er ein eigentümliches Schach. Bei sich trägt er ein Messer. Haller rekapituliert sein Leben ab dem Kennenlernen von Hermine:
Und doch war er seither einige hundert Jährchen älter geworden, hatte Musik und Philosophie getrieben und sattgekriegt, hatte im »Stahlhelm« Elsässer gesoffen und mit biederen Gelehrten über Krishna disputiert, hatte Erika und Maria geliebt, war Herminens Freund geworden, hatte Automobile abgeschossen und mit der glatten Chinesin geschlafen, hatte Goethe und Mozart angetroffen und verschiedene Löcher in das Netz der Zeit und der Scheinwirklichkeit gerissen, in dem er noch gefangen war. Hatte er auch seine hübschen Schachfiguren wieder verloren, so hatte er doch ein braves Messer in der Tasche. Vorwärts, alter Harry, alter müder Kerl!
So schreitet er die Türen des Magischen Theaters ab und trifft schließlich auf das nackt auf dem Boden ruhende Paar Pablo und Hermine. Auf ihrer linken Brust ein Liebesmal. In dieses rammt Haller sein Messer und tötet Hermine.
So war mein ganzes Leben gewesen, so war mein bißchen Glück und Liebe gewesen wie dieser starre Mund: ein wenig Rot, auf ein Totengesicht gemalt.
Der Besuch im Magischen Theater endet mit einem Gerichtsurteil, das Haller zum Leben verurteilt. Er solle lernen zu lachen und nicht Frauen aus Eifersucht erstechen.
Sie sollen lachen lernen, das wird von Ihnen verlangt. Sie sollen den Humor des Lebens, den Galgenhumor dieses Lebens erfassen.
»Wir könnten zum Beispiel das Mädchen wieder lebendig machen und Sie mit ihr verheiraten.«
»Nein, dazu wäre ich nicht bereit. Es gäbe ein Unglück.«
Was ist Realität? Was ist Spiel? Wird Gewalt propagiert? Wird Gewalt angeprangert? Wird Terrorismus als ökologischer Kampf gutgeheißen? Sind junge Frauen nur Beiwerk zu einer Katharsis älterer Männer? Über sehr weite Strecken ist mir dieser Harry Haller einfach nur auf die Nerven gegangen. Er bleibt letztlich nur ein sexbesessener alter Trinker mit hochkulturellem Dünkel, der in der Welt der Drogen auch nur sein Ich auf Kosten aller anderer sucht. Und wenn er so weiterlebt, wird er vermutlich sehr bald die "Ewigkeit" finden. Dabei hätte er auch ein politischer Mensch sein können, das Geld zum freien Handeln scheint er ja zu haben. Denn:

An manchen Stellen bricht Hesses messerscharfe Analyse der Gegenwart durch. So zum Beispiel als Haller einen ehemaligen Kollegen (Professor für altasiatische und indische Mythologien) besucht und dieser einen gewissen Haller abkanzelt, der pazifistische Artikel veröffentlicht habe. Haller müsse "ein übler Kerl und vaterlandsloser Geselle" sein. In diesem Haus sieht er, dass der Professor nur mehr militaristische und rechtsradikale Schriften lese. Haller:
er sieht nichts davon, wie rings um ihn der nächste Krieg vorbereitet wird, er hält Juden und Kommunisten für hassenswert
Dies sind die Grundsteine der nationalsozialistischen Ideologie, die sechs Jahre nach Erscheinen die Macht erringen und zwölf Jahre danach einen Weltkrieg anzetteln wird. Hesse hat (leider) recht behalten.

Und zu Hermine sagt er einmal mit Bezug auf den Ersten Weltkrieg:
... jedes Volk und sogar jeder einzelne Mensch müsse, statt sich mit verlogenen politischen ›Schuldfragen‹ in Schlummer zu wiegen, bei sich selber nachforschen, wieweit wir selbst durch Fehler, Versäumnisse und üble Gewohnheiten mit am Kriege und an allem andern Weltelend schuldig sei, das sei der einzige Weg, um den nächsten Krieg vielleicht zu vermeiden.
Das verzeihen sie mir nicht, denn natürlich sind sie selber vollkommen unschuldig: der Kaiser, die Generäle, die Großindustriellen, die Politiker, die Zeitungen - niemand hat sich das geringste vorzuwerfen, niemand hat irgendeine Schuld! Man könnte meinen, es stehe alles herrlich in der Welt, nur liegen ein Dutzend Millionen totgeschlagener Menschen in der Erde.
Zwei Drittel von meinen Landsleuten lesen diese Art von Zeitungen, lesen jeden Morgen und Abend diese Töne, werden jeden Tag bearbeitet, ermahnt, verhetzt, unzufrieden und böse gemacht, und das Ziel und Ende von dem allem ist wieder der Krieg, ist der nächste, kommende Krieg, der wohl noch scheußlicher sein wird, als dieser es war. ... keiner will den nächsten Krieg vermeiden, keiner will sich und seinen Kindern die nächste Millionenschlächterei ersparen, wenn er es nicht billiger haben kann. Eine Stunde nachdenken, eine Weile in sich gehen und sich fragen, wieweit man selber an der Unordnung und Bosheit in der Welt teilhat und mitschuldig ist - sieh, das will niemand! ... es gibt für mich kein »Vaterland« und keine Ideale mehr, das ist alles ja bloß Dekoration für die Herren, die das nächste Schlachten vorbereiten.