Ferrante-Freundin

Dies ist der erste Teil der vierteiligen Neapel-Saga der unter einem Pseudonym veröffentlichenden Schriftsteller:in Elena Ferrante, der in den 2010er Jahren einen ziemlichen Hype auslöste. Es geht um zwei 1944 im neapolitanischen Kleinbürgerviertel Luzzatti zur Welt gekommene Frauen: Raffaella Cerullo (Lina, Lila) und Elena Greco (Lenuccia, Lenu). Letztere schreibt ihre Lebensgeschichte auf und beginnt im Prolog damit, dass ihre Freundin Lila mit 66 Jahren im Jahr 2010 spurlos verschwunden ist. Wir erfahren zunächst nur, dass Elena in Turin lebt. Danach beginnt sie in Ich-Form die gemeinsame Lebensgeschichte aufzuschreiben, die im ersten Band damit endet, dass Lila mit 16 Jahren (1960) heiratet und mit ihrem Mann in eine kleine Eigentumswohnung zieht.

Wir lernen die beiden Mädchen im Neapel der 1950er Jahre kennen und ihr Freundschaftsgeflecht zu Gleichaltrigen, deren Familien Krieg und Faschismus unterschiedlich erlebt haben, manche waren bei den Faschisten und wurden relativ wohlhabend, andere waren bei den Kommunisten im Widerstand (es gibt auch einen Mord eines kommunistischen Vaters an einem faschistischen Vater). Der Handel wird von der Camorra dominiert, einer der Jungen wird auch Mitglied. Da Ferrante strikt aus der Perspektive Lilas, also eines Kindes schreibt, erhalten wir keine tiefergehenden Einblicke in die politischen bzw. kriminellen Geflechte. Gegen Ende wird betont, dass die Jugend anders sein wollte als ihre Eltern.

Das politische Geflecht der verschiedenen Familien wird so beschrieben.
Den Faschismus, den Nazismus, den Krieg, die Alliierten, die Monarchie, die Republik, alles das ließ sie zu Straßen, Häusern, Gesichtern werden. Don Achille und der Schwarzmarkt; Peluso, der Kommunist; der Großvater der Solara-Brüder, der Camorra-Mitglied war; deren Vater Silvio, ein schlimmerer Faschist als Marcello und Michele; Lilas Vater, der Schuster Fer-nando, und mein Vater, alle, alle, alle waren sie in ihren Augen auf der ganzen Linie mit finstersten Untaten befleckt, alle waren sie hartgesottene Verbrecher oder duldsame Komplizen, alle gekauft mit ein paar Brotkrumen. Lila und Pasquale sperrten mich in eine schreckliche Welt, aus der es kein Entrinnen gab.
Und weiter:
Lila zufolge wollte Stefano alles auf null stellen. Er wollte versuchen, aus dem Früher auszubrechen. Wollte nicht wie unsere Eltern so tun, als wäre nichts gewesen, sondern im Gegenteil einen Satz geltend machen wie: »Ich weiß, mein Vater war der, der er war, doch jetzt bin ich da, wir sind da, und damit basta.« Kurz, er wollte dem ganzen Rione zu verstehen geben, dass er nicht Don Achille war und dass auch die Pelusos nicht der ehemalige Tischler waren, der ihn umgebracht hatte.
Beide Mädchen sind in der Grundschule sehr gute Schülerinnen (Lila immer besser als Lenu), doch Lila (Tochter eines Schusters) durfte nicht in höhere Schulen, sondern begann in der Schusterwerkstatt zu arbeiten. Lenu (Tochter eines Pförtners) durfte weitergehen und ist mit der Zeit auch im Gymnasium die beste Schülerin. Die Freundschaft reißt nicht ab, Lila liest sehr viel in ihrer Freizeit und lernt auch ohne Schule Latein, Griechisch und Englisch, wobei sie besser und schneller ist als Lenu. Überhaupt wird Lila sehr übertrieben dargestellt: Sie ist zwar ruppig, entwickelt sich spät, jedoch zu einer "Filmschönheit", einmal wird sie mit der Venus von Botticelli verglichen, spricht nicht nur rauen Dialekt, sondern auch gepflegtes Italienisch in Wort und Schrift, ist fleißig, arbeitssam, ordentlich und designt bereits als Kind Schuhe. Ihr Verlobter kauft sich in die Schusterwerkstatt ein und sie beginnen schließlich mit der Produktion ihrer Entwürfe (ob sie erfolgreich sein werden, bleibt noch offen). Die Figur Lilas ist etwas dick aufgetragen.

Lenu reflektiert viel über die Pubertät und ihre wankelmütige Zuneigung zu verschiedenen Jungen, auch von ihren sexuellen Erfahrungen (wird zum Teil explizit geschildert). Während eines Erholungsaufenthalts auf Ischia wird auch von der Zudringlichkeit des Vaters eines der umschwärmten Jungen erzählt. Vergewaltigt wird sie nicht, aber sexuell belästigt (Griff zwischen die Beine).

Gegen Ende des Romans fühlt sich die 16-jährige Lenu nach der Hochzeit ihrer Freundin immer mehr von ihrem Stadtteil entfremdet, da sie ja in zwei Jahren das Abitur ablegen werde. Dies verunsichert sie:
Auf dieser Fahrt zur Via Orazio begann ich mich deutlich als Fremde zu fühlen, die unter der eigenen Fremdheit litt. Ich war mit diesen Jungen aufgewachsen, hielt ihr Benehmen für normal, ihre grobe Sprache war meine. Doch ich ging seit nunmehr sechs Jahren einen Weg, über den sie überhaupt nichts wussten, den ich jedoch so hervorragend meisterte, dass ich die Beste war. Bei ihnen konnte ich nichts von dem anwenden, was ich Tag für Tag lernte, ich musste mich zurücknehmen, mich gewissermaßen herabsetzen. Was ich in der Schule war, musste ich hier beiseitelassen oder gegen sie vewenden, um mir Respekt zu verschaffen.
Auf wen sich der Titel bezieht, ist nicht klar. Eigentlich wäre es die überzeichnet dargestellte Lila, weil sie in allem besser und auch schöner ist, doch sagt diese einmal zu Lenu, dass diese ihre "geniale Freundin" sei.

Der Roman ist flott geschrieben, aber da die Perspektive des Mädchens über das aktuelle Wissen nicht hinausgeht, geht er - außer wenn es die Lebenswelt der Mädchen betrifft - nicht in die Tiefe, es bleiben Lücken. Der Eindruck bleibt, dass der Hype nicht zuletzt wegen des Rätsels, wer die Autor:in ist, so groß war.

Ein Kontinuitätsfehler sticht übrigens ins Auge, der vom Lektorat eigentlich hätte behoben werden können: 1960 gab es das Super-8-Filmformat noch nicht.