Musil-Toerless

Diese Erzählung war der Erstling des 26-jährigen Robert Musil im Jahr 1906 und mit Hilfe des Starkritikers Alfred Kerr wurde der Text ein Verkaufserfolg. Musil thematisiert anhand von etwa 17-Jährigen in einem Internat eines kk-Militärgymnasiums in Mähren (Tschechien) auch noch heute Aktuelles: toxische und gewaltbereite Männlichkeit, Homoerotik und Gender-Fluid. Musil selbst war im mährischen Weißkirchen/Hranice an einer Militär-Oberschule und beschäftigte sich zur Zeit der Niederschrift mit Philosophie und Psychologie an der Universität in Berlin.

Der aus armen Verhältnissen stammende Schüler Basini bestiehlt Kameraden, um seine Schulden begleichen zu können, die er für seinen aufwendigen Lebensstil macht. Der Freundeskreis Törleß, Beineberg und Reitling decken den Diebstahl auf, zeigen Basini jedoch nicht bei der Direktion an, sondern Beineberg und Reitling beginnen ihn als Sex- und Foltersklaven zu halten. Ort: Eine alte Dachkammer, zu der sie Schlüssel haben. Beineberg will eine indische Seelentheorie austesten, Reitling seine Gewalttätigkeit ausleben (er wird als "Tyrann" bezeichnet). Törleß als Zuseher bei vielen Folterungen will dadurch seinen Charakter stärken, auch wenn ihn die Folterungen immer mehr anekeln und er sicih homoerotisch zu dem masochistischen (?) Basini hingezogen fühlt. Als Reitling und Beineberg die ganze Klasse über die Diebstähle informieren und Basini Opfer von Massengewalt werden soll, empfiehlt Törleß Basini, sich bei der Direktion zu melden und sich selbst anzuzeigen, was dieser tut.

Beineberg und Reitling verteidigen sich, dass sie durch ihre Selbstjustiz Basini haben helfen wollen, wieder in die Gemeinschaft zurückzufinden und nicht durch ein Direktionsurteil ausgestoßen zu werden. Es wird geglaubt, die Folter wird toleriert, es gibt keine Strafen. Törleß stellt seine verwirrten Theorien, warum er zugeschaut hat vor: Er wollte herausfinden, ob es neben der rationalen Welt auch eine irrationale gäbe (wie in der Mathematik mit den irrationalen Zahlen). Der Religionslehrer ist begeistert, er sieht in Törleß einen Gott- und Seelensucher. Bestraft wird Basini, er muss die Schule verlassen, womit ihm die Möglichkeit für den Militär- oder Staatsdienst genommen wird. Törleß verlässt freiwillig die Schule (das hat auch der Direktor empfohlen) und entwickelt sich laut einem Vorgriff zu einer "ästhetisch-intellektuellen Natur von sehr feinem und empfindsamem Geiste".

Die Folterungen werden nicht im Detail geschildert, sondern eher angedeutet, der Hauptteil des Textes sind die durch einen Erzähler vermittelten Gedanken Törleß', die oft so wirr sind, dass in heutiger Zeit die Lektüre dadurch etwas erschwert wird.

Gleich zu Beginn der Erzählung wird konstatiert, dass die Gedankenwelt von Jugendlichen zwar unfertig und ohne Bedeutung ist, doch sie darauf hinzuweisen (also nicht ernst zu nehmen), wäre eine Katastrophe.
Denn diese von außen kommenden Assoziationen und erborgten Gefühle tragen die jungen Leute über den gefährlich weichen seelischen Boden dieser Jahre hinweg, wo man sich selbst etwas bedeuten muß und doch noch zu unfertig ist, um wirklich etwas zu bedeuten. Ob für später bei dem einen etwas davon zurückbleibt oder bei dem andern nichts, ist gleichgültig; dann findet sich schon jeder mit sich ab, und die Gefahr besteht nur in dem Alter des Überganges. Wenn man da solch einem jungen Menschen das Lächerliche seiner Person zur Einsicht bringen könnte, so würde der Boden unter ihm einbrechen, oder er würde wie ein erwachter Nachtwandler herabstürzen, der plötzlich nichts als Leere sieht.
Konstatiert wird auch, dass die erste Leidenschaft junger Männer nicht Liebe, sonder Hass sei:
die erste Leidenschaft des erwachsenden Menschen ist nicht Liebe zu der einen, sondern Haß gegen alle.
Törleß wird als Einzelkind charakterisiert, dessen sexuelles Erwachen sich nicht in übermütigem männlichem Gehabe äußere, aber in seinen Gedanken umso schamloser sei. Die Grundage seines voyeuristischen Ergötzens an den Folterungen Basinis ist gelegt.
Törleß beteiligte sich nicht an dieser übermü-tigen, frühreifen Männlichkeit seiner Freunde.
Der Grund hiezu lag wohl teilweise in einer gewissen Schüchternheit in geschlechtlichen Sachen, wie sie fast allen einzigen Kindern eigentümlich ist, zum größeren Teile jedoch in der ihm besonderen Art der sinnlichen Veranlagung, welche verborgener, mächtiger und dunkler gefärbt war als die seiner Freunde und sich schwerer äußerte.
Während die anderen mit den Weibern schamlos - taten, beinahe mehr um «fesch» zu sein, als aus Begierde, war die Seele des schweigsamen, kleinen Torleß aufgewühlt und von wirklicher Schamlosigkeit gepeitscht.
Die Heftigkeit der Leidenschaft von Törleß gegenüber Basini bricht an einem langen Feiertagswochenende aus, als nur wenige Schüler und Lehrer an der Anstalt sind und Basini einmal nackt zu ihm ins Bett kriecht, was der Erzähler als für damals üblich in Internaten beschreibt. Die Gefühle von Törleß:
In der Nacht hätte Törleß beinahe Basini überfallen. Solch eine mörderische Sinnlichkeit war in ihm nach der Pein des gedankenlosen, stumpfsinnigen Tages erwacht. Zum Glück erlöste ihn noch rechtzeitig der Schlaf.
Seine Gedanken jedoch zeigen, wie er sich erotisch von Basini angezogen fühlt, jedoch selbst nicht in der Lage wäre, Gewalt gegen ihn auszuüben:
Törleß befand sich in einem eigentümlichen Zustande, der ihn wach erhielt. Gestern waren es sinnliche Bilder der Einbildungskraft gewesen, in denen er gefiebert hatte. Erst ganz zum Schlusse hatten sie eine Wendung zu Basini genommen, gleichsam sich unter der unerbittlichen Hand des Schlafes, der sie verlöschte, zum letzten Male aufgebäumt, und er hatte gerade daran nur eine ganz dunkle Erinnerung. Heute aber war es von Anfang an nichts als ein triebhafter Wunsch, aufzustehen und zu Basini hinüberzugehen. Solange er das Gefühl gehabt hatte, daß Basini wache und zu ihm herüber horche, war es kaum auszuhalten gewesen; und jetzt, da dieser doch wohl schon schlief, lag erst recht ein grausamer Kitzel darin, den Schlafenden wie eine Beute zu überfallen.
Törleß spürte schon die Bewegungen des Sichaufrichtens und aus dem Bette Steigens in allen Muskeln zucken. Trotzdem vermochte er aber noch nicht, seine Reglosigkeit abzuschütteln.
«Was soll ich denn eigentlich bei ihm?» fragte er sich in seiner Angst fast laut. Und er mußte sich gestehen, daß die Grausamkeit und Sinnlichkeit in ihm gar kein rechtes Ziel hatte. Er wäre in Verlegenheit gekommen, wenn er sich wirklich auf Basini gestürzt hätte. Er wollte ihn doch nicht prügeln? Gott bewahre! Und in welcher Weise sollte sich denn seine sinnliche Erregung an ihm befriedigen? Er empfand unwillkürlich einen Abscheu, als er an die verschiedenen kleinen Knabenlaster dachte.
Basini jedoch kam zu ihm:
Als er sich umdrehte, stand Basini nackt vor ihm.
Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück. Der plötzliche Anblick dieses nackten, schneeweißen Körpers, hinter dem das Rot der Wände zu Blut wurde, blendete und bestürzte ihn. Basini war schön gebaut; an seinem Leibe fehlte fast jede Spur männlicher Formen, er war von einer keuschen, schlanken Magerkeit, wie der eines jungen Mädchens.
Dass Törleß seine Neigungen nicht ausleben darf, wird an seiner späteren Abwehr gegen diese eine Nacht gezeigt:
Er schämte sich jetzt überhaupt häufig. Aber nicht eigentlich deswegen, wozu er sich hatte verführen lassen, - denn dies ist in Instituten nichts so Seltenes, - als weil er sich nun tatsächlich einer Art Zärtlichkeit für Basini nicht erwehren konnte und andererseits eindringlicher denn je empfand, wie verachtet und erniedrigt dieser Mensch war.
In einem Rückblick auf die frühe Kindheit von Törleß wird gezeigt, dass er sich nicht als Bub, sondern als Mädchen gefühlt hat, eines sein wollte. Die biologischen Unterschiede kannte er noch nicht.
Als er ganz klein war, - ja, ja, da war's, - als er noch Kleidchen trug und noch nicht in die Schule ging, hatte er Zeiten, da in ihm eine ganz unaussprechliche Sehnsucht war, ein Mäderl zu sein. Und auch diese Sehnsucht saß nicht im Kopfe, - oh nein, - auch nicht im Herzen, - sie kitzelte im ganzen Körper und jagte rings unter der Haut umher. Ja es gab Augenblicke, wo er sich so lebhaft als ein kleines Mädchen fühlte, daß er glaubte, es könne gar nicht anders sein. Denn er wußte damals nichts von der Bedeutung körperlicher Unterschiede, und er verstand es nicht, warum man ihm von allen Seiten sagte, er müsse nun wohl für immer ein Knabe bleiben. Und wenn man ihn fragte, warum er denn glau-be, lieber ein Mäderl zu sein, so fühlte er, daß sich das gar nicht sagen lasse ...
Während Reitling ein sadistischer Tyrann ist, zeigt sich Beineberg als Nihilist, dem das Opfer nichts bedeutet und sein Ich alles. Er sieht in seinen Foltertaten sogar ein Opfer. Selbst die gesamte Menschheit ist ihm nichts. Im Wortlaut:
"ich kann mir nicht vorstellen, daß so ein Mensch in dem wundervollen Mechanismus der Welt irgend etwas bedeuten soll. ... Gerade daß es mir schwer fällt, Basini zu quälen, - ich meine, ihn zu demütigen, herabzudrücken, von mir zu entfernen, - ist gut. Es erfordert ein Opfer. Es wird reinigend wirken. Ich bin mir schuldig, täglich an ihm zu lernen, daß das bloße Menschsein gar nichts bedeutet, - eine bloße äffende, äußerliche Ähnlichkeit."
Beineberg lässt Basini nackt am Boden kriechen, ihn bellen wie ein Hund und grunzen wie ein Schwein. Das Opfer wird entmenschlicht. Verbrämt wird dies mit einer indischen Reinkarnationslehre. Basini über Beineberg:
"Er hält mir erst lange Reden über meine Seele. Ich habe sie beschmutzt, aber gewissermaßen nur den ersten Vorhof von ihr. Im Verhältnis zu dem Innersten sei dies etwas Nichtiges und Äußerliches. Nur müsse man es abtöten; so seien schon viele aus Sündern zu Heiligen geworden. ... er behauptet, daß möglicherweise eine meiner früheren Existenzen so [ein Hund oder ein Schwein] gewesen sei und daß man sie hervorlocken müsse, um sie unschädlich zu machen."
Ein weiterer Aspekt, der von Beineberg angeführt wird, ist der Generationenkonflikt. Eine neue Jugend. Ein Thema, das eine Generation nach Musil von Ödön von Horváth in Jugend ohne Gott mit Bezug auf die nationalsozialistische Jugend aufgegriffen wurde. Beineberg:
"Wir sind jung, eine Generation später, vielleicht sind uns Dinge vorbehalten, die sie nie in ihrem Leben geahnt haben."
Die Rekapitulation des Erzählers am Schluss lässt offen, ob er die Ansicht von Törleß oder die von Musil spiegelt. Gewalt und Folter werden als naturgegeben in Form einer Baummetapher mehr oder weniger rechtfertigt, was durch die Nicht-Bestrafung von Beineberg und Reitling unterstrichen wird.
Eine Entwicklung war abgeschlossen, die Seele hatte einen neuen Jahresring angesetzt wie ein junger Baum, - dieses noch wortlose, überwältigende Gefühl entschuldigte alles, was geschehen war.
Verfilmt wurde diese Erzählung unter anderem 1965 von Volker Schlöndorff.