Zweig-Gestern

Der aus einer großbürgerlichen jüdischen Familie stammende österreichische Schriftsteller Stefan Zweig blickt als Flüchtling vor den Nationalsozialisten in Brasilien lebend 1941 auf die Welt zurück, die er (1881 in Wien geboren) durchlebt hat. Dabei steht weniger Privates als Kulturelles und schließlich Politisches im Zentrum.

Von finanziellen Sorgen befreit legte er Matura (Abitur), wobei er den Zwang der Schule hasste, wie auch eine Doktorprüfung in Philosophie ab. Bereits in der Schule jedoch lag sein Hauptinteresse an Literatur, vor allem auch modernster Literatur und begann enge Kontakte zu Literaturschaffenden zu knüpfen, was er Zeit seines Lebens ausbaute. Viel Raum nehmen seine Begegnungen und Freundschaften mit verschiedensten Schriftstellern und auch Schriftstellerinnen ein.

Zweig sieht sich als Europäer, als Weltbürger, und mehr als einmal reflektiert er darüber, dass er in der Zeit vor 1914 ohne Pass nicht nur in Europa, sondern auch nach Indien und die USA reisen konnte.
Niemand fragte mich nach meiner Nationalität, meiner Religion, meiner Herkunft, und ich war ja - phantastisch für unsere heutige Welt der Fingerabdrücke, Visen und Polizeinachweise - ohne Paß gereist.
Vor 1914 hatte die Erde allen Menschen gehört. Jeder ging, wohin er wollte und blieb, solange er wollte. Es gab keine Erlaubnisse, keine Verstattungen, und ich ergötze mich immer wieder neu an dem Staunen junger Menschen, sobald ich ihnen erzähle, daß ich vor 1914 nach Indien und Amerika reiste, ohne einen Paß zu besitzen oder überhaupt je gesehen zu haben.
Schon zu Beginn stellt er klar, dass der Nationalismus eine "Erzpest" sei, welche"die Blüte unserer europäischen Kultur vergiftet hat". Das "Zeitalter der Sicherheit" seiner Elterngeneration sei verschwunden, was ihn umso mehr erschüttert, da sowohl im gesellschaftlichen Leben (die Jugend wie auch die Frauen waren viel freier) als auch bezüglich der wissenschaftlichen Entwicklung (Technik, Medizin) gewaltige Fortschritte erzielt worden seien.
Soviel Fortschritt im Sozialen, im Technischen dies Vierteljahrhundert zwischen Weltkrieg und Weltkrieg gebracht, so gibt es doch im einzelnen keine Nation in unserer kleinen Welt des Abendlandes, die nicht unermeßlich viel ihrer einstigen Lebenslust und Unbefangenheit verloren hätte.
Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs sieht er in einer imperialistischen Gier der Großmächte begründet.
Frankreich strotzte von Reichtum. Aber es wollte noch mehr, wollte noch eine Kolonie, obwohl es gar keine Menschen hatte für die alten; beinahe kam es um Marokkos willen zum Kriege. Italien wollte die Cyrenaica, Österreich annektierte Bosnien. Serbien und Bulgarien wiederum stießen gegen die Türkei vor, und Deutschland, vorläufig noch ausgeschaltet, spannte schon die Pranke zum zornigen Hieb. Überall stieg das Blut den Staaten kongestionierend zu Kopf. Aus dem fruchtbaren Willen zur inneren Konsolidierung begann sich überall zugleich, als ob es bazillische Ansteckung wäre, eine Gier nach Expansion zu entwickeln.
Den Ersten Weltkrieg selbst absolvierte Zweig als Bilbiothekar im Kriegsarchiv (in dem zeitweise auch Rilke tätig war). Eine Reise nach Galizien (Tarnow, Drohobytsch, Lemberg), um russische Propagandaplakate zu sammeln, zeigte ihm das wahre Gesicht des Kriegs:
Ich sah vor allem das furchtbare Elend der Zivilbevölkerung, über deren Augen das Grauen über das Erlebte noch wie ein Schatten lag. Ich sah das nie geahnte Elend der jüdischen Ghettobevölkerung, die zu acht, zu zwölft in ebenerdigen oder unterirdischen Zimmern wohnte. Und ich sah zum erstenmal den ›Feind‹. In Tarnow stieß ich auf den ersten Gefangenentransport russischer Soldaten. Sie saßen eingezäunt in einem großen Viereck auf der Erde, rauchten und schwätzten, von zwei oder drei Dutzend älteren, meist bärtigen Tiroler Landsturmsoldaten bewacht, die ebenso abgerissen und verwahrlost waren wie die Gefangenen ...
Das letzte Jahr des Krieges verbrachte er in der Schweiz, in das er offiziell zur Uraufführung eines seiner Theaterstücke fahren durfte. In Genf nahm er den Kontakt zu alten französischen Bekannten wie Romain Rolland wieder auf. Nach Kriegsende fuhr Zweig wieder zurück in ein verkleinertes und verarmtes Österreich, wo er sich in Salzburg eine verfallene Villa gekauft hatte (heute berühmt auch als Touristenattraktion). Er sah die Armut, das Fehlen von Nahrungsmitteln wie Heizmaterial und erlebte den "Betrug", wie Zweig es nennt, der Inflation, mit welcher der Staat seine Schulden reduzierte. Er schreibt:
Wer vierzig Jahre gespart und überdies sein Geld patriotisch in Kriegsanleihe angelegt hatte, wurde zum Bettler. Wer Schulden besaß, war ihrer ledig. Wer korrekt sich an die Lebensmittelverteilung hielt, verhungerte; nur wer sie frech überschritt, aß sich satt.
Österreich erfing sich wieder, Salzburg wurde Dank der Gründung der Festspiele durch Max Reinhardt und Hugo von Hofmannsthal (eigentlich ein Projekt zur Unterstützung von arbeitslosen Künstlerinnen und Künstlern) zu einem Kulturzentrum, Stefan Zweigs Villa zu einem Treffpunkt der interantionalen Kunst und Kultur.

In diese Zeit des wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwungs fielen aber auch Beobachtungen des organisierten Faschismus in Italien, Deutschland und Spanien. Es handelt sich um das Auftreten militärisch gedrillter uniformierter Banden (in Deutschland die SA). Über die Beobachtung im spanischen Vigo bei einer Reise nach Lateinamerika reflektiert er über Francos Schlägertrupps, die er sah:
Aber nach einer Viertelstunde sah ich dieselben jungen Burschen verwandelt aus dem Rathaus herauskommen. Sie trugen blitzblanke, neue Uniformen, Gewehre und Bajonette; unter der Aufsicht von Offizieren wurden sie auf ebenfalls ganz neue und blitzblanke Automobile verladen und sausten durch die Straßen aus der Stadt hinaus. Ich erschrak. Wo hatte ich das schon einmal gesehen? In Italien zuerst und dann in Deutschland! Da und dort waren plötzlich diese tadellosen neuen Uniformen dagewesen und die neuen Automobile und Maschinengewehre. Und wieder fragte ich mich: wer liefert, wer bezahlt diese neuen Uniformen, wer organisiert diese jungen blutarmen Menschen, wer treibt sie gegen die bestehende Macht, gegen das gewählte Parlament, gegen ihre eigene legale Volksvertretung?
1934 ging Stefan Zweig, der während des dreitägigen Bürgerkriegs in Wien war und nichts persönlich mitbekommen hat, nach London. Er sah, wie es jüdischen Menschen unter Hitler erging, wie dieser seine Finger nach Österreich ausstreckte und wie auch in Österreich der Nationalsozialismus heimlich wie offen Anhängerschaft gewann. Seine Vorahnungen wurden durch die Ereignisse sofort nach der Annexion 1938 bestätigt, und auch in London hatte er genaueste Informationen über die Vorgänge.
Jetzt wurde nicht mehr bloß geraubt und gestohlen, sondern jedem privaten Rachegelüst freies Spiel gelassen. Mit nackten Händen mußten Universitätsprofessoren die Straßen reiben, fromme weißbärtige Juden wurden in den Tempel geschleppt und von johlenden Burschen gezwungen, Kniebeugen zu machen und im Chor ›Heil Hitler‹ zu schreien. Man fing unschuldige Menschen auf der Straße wie Hasen zusammen und schleppte sie, die Abtritte der SA-Kasernen zu fegen; alles, was krankhaft schmutzige Haßphantasie in vielen Nächten sich orgiastisch ersonnen, tobte sich am hellen Tage aus. Daß sie in die Wohnungen einbrachen und zitternden Frauen die Ohrgehänge abrissen - dergleichen mochte sich bei Städteplünderungen vor Hunderten Jahren in mittelalterlichen Kriegen ebenfalls ereignet haben; neu aber war die schamlose Lust des öffentlichen Quälens, die seelischen Marterungen, die raffinierten Erniedrigungen. All dies ist verzeichnet nicht von einem, sondern von Tausenden, die es erlitten, und eine ruhigere, nicht wie unsere moralisch schon ermüdete Zeit wird mit Schaudern einst lesen, was in dieser Stadt der Kultur im zwanzigsten Jahrhundert ein einziger haßwütiger Mensch verbrochen. Denn das ist Hitlers diabolischster Triumph inmitten seiner militärischen und politischen Siege - diesem einen Manne ist es gelungen, durch fortwährende Ubersteigerung jeden Rechtsbegriff abzustumpfen. Vor dieser ›Neuen Ordnung‹ hatte die Ermordung eines einzigen Menschen ohne Gerichtsspruch und äußere Ursache noch eine Welt erschüttert, Folterung galt für undenkbar im zwanzigsten Jahrhundert, Expropriierungen nannte man noch klar Diebstahl und Raub. Jetzt aber, nach den immer erneut sich folgenden Bartholomäusnächten, nach den täglichen Zutodefolterungen in den Zellen der SA und hinter den Stacheldrähten, was galt da noch ein einzelnes Unrecht, was irdisches Leiden? 1938, nach Österreich, war unsere Welt schon so sehr an Inhumanität, an Rechtlosigkeit und Brutalität gewöhnt wie nie zuvor in Hunderten Jahren. Während vordem allein, was in dieser unglückseligen Stadt Wien geschehen, genügt hätte zur internationalen Ächtung, schwieg das Weltgewissen im Jahre 1938 oder murrte nur ein wenig, ehe es vergaß und verzieh.
In London erlebte er noch die Kapitulation Chamberlains. Großbritannien war im Friedenstaumel, der jedoch bald, nach der Annexion Tschechiens, in ein Gefühl umschlug, dass der Aggressor gestoppt werden müsse. Stefan Zweig verlor nach der Annexion Österreichs seine Staatsbürgerschaft und erhielt in England einen Ausweis für Staatenlose. Nach der Kriegserklärung Großbritanniens an Deutschland nach dem Überfall auf Polen exilierte Zweig mit der Angst, nun "feindlicher Ausländer" zu sein, nach Brasilien, worüber er nicht mehr schreibt.

Ein sehr lohnendes Buch, vor allem wenn man sich für europäische Kulturgeschichte interessiert.