Woolf-OrlandoOriginal anzeigen (0,2 MB)

Der 1928 erschienene Roman spiegelt anhand der unsterblichen (?) Figur Orlando die britische Gesellschaft vom elisabethanischen Zeitalter im 16. Jahrhundert bis ins Jahr 1928.

Orlando ist ein reicher Gutsbesitzer im Süden Englands (365 Schlafzimmer, 200 Diener) und bereits der Einstieg ist makaber: Er spielt in seinem Zimmer mittels eines Säbels mit einem Kopf eines von seinem Vater getöteten Afrikaners. Der junge Orlando ist sehr Literatur zugeneigt und bekommt Zugang zum Hof von Königin Elisabeth I., deren Günstling er aufgrund seiner vorzüglichen Manieren wird.

Der Wendepunkt kommt, als er sich in eine russische Prinzessin verliebt, die aber am Ende des Großen Frosts während eines Themse-Hochwassers mit dem Botschaftsschiff davonfährt und ein Rendezvous mit Orlando nicht einhält. Er fährt als Gesandter nach Konstantinopel, schließt sich dort "Zigeunern" (im Original "gipsies") an, nachdem er nach einem mehrtägigen komatösen Starrzustand durch märchenhaftes Zutun dreier Allegorien (Herrin Reinheit, Herrin Keuschheit, Herrin Bescheidenheit) als dreißigjährige Frau erwacht ist. Die kulturellen Unterschiede sind zu groß, so reist sie zurück nach England und kämpft darum, als Frau weiterhin Gutsherrin sein zu können.

Im Viktorianischen Zeitalter, das ihr wegen der Familienorientierung und der rigiden Moral ("Die Entfremdung der Geschlechter wurde immer größer"), die sich auch in der Londoner Architektur der gleichförmigen Bürgerreihenhäuser ausdrückt, heiratet sie einen Schiffskapitän, der jedoch kaum zuhause ist. Aber immerhin kann sie mit Hilfe eines auch langlebigen (unsterblichen?) Dichters Nick Green, den sie bereits aus dem 16. Jahrhundert kennt, mit ihrem Gedicht "Der Eichbaum" einen Literaturpreis gewinnen.

Der Roman endet 1928. Orlando ist eine moderne, reiche 36-jährige Frau, die mit einem Auto in ein Warenhaus einkaufen fährt.

Schwerpunkt sind Beobachtungen des sozialen Frauenbilds, der klimatischen Veränderungen (vom Großen Frost über die Kleine Eiszeit - "Alles war Finsternis: alles war Zweifel: alles war Wirrnis. Das achtzehnte Jahrhundert war vorüber; das neunzehnte Jahrhundert hatte begonnen") und der sozialen Veränderungen von der vorindustriellen Zeit bis in die Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts.

Woolf legt deutlich dar, dass das Frauenbild männlich geprägt ist:
Es fiel ihr ein, daß sie als junger Mann nachdrücklich gefordert hatte, eine Frau müsse gehorsam, züchtig, mit Wohlgerüchen besprengt und köstlich gekleidet sein. »Nun muß ich solche Forderungen am eigenen Leibe büßen«, sagte sie sich, »denn die Frauen sind (soweit ich es nach meiner kurzen Erfahrung in diesem Geschlecht beurteilen kann) an und für sich keineswegs gehorsam, züchtig, wohlriechend und köstlich gekleidet.
Orlando ist sich als Frau der erniedrigenden Rolle, die Frauen in der Gesellschaft zu spielen haben, deutlich bewusst:
Habe ich erst einmal den Fuß auf englischen Boden gesetzt, so darf ich nur noch Tee eingießen und die Herren der Schöpfung fragen, wie es ihnen schmeckt. Etwas Zucker gefällig -? Etwas Sahne gefällig -?‹
Andererseits wird sie auf dem Schiff von Konstantinopel nach England vom Kapitän umschwänzelt:
Als Kapitän Bartolus Orlandos Rock sah, ließ er sogleich ein Sonnensegel für sie spannen, drängte ihr noch eine Scheibe Fleisch auf und lud sie ein, in der Pinasse mit ihm an Land zu fahren. Diese Artigkeiten hätte er ihr gewißlich nicht erwiesen, wenn ihre Röcke nicht niedergewallt wären, sondern nach Art von Kniehosen eng ihre Beine umschlossen hätten.
Angesprochen wird auch die von Marx Entfremdung genannte Auswirkung der industriellen Warenproduktion, die Orlando jedoch ins Magische holt, als sie gegen Ende des Romans das Warenhaus betritt:
Im achtzehnten Jahrhundert wußten wir bei jedem Ding genau, wie es gemacht wurde; hier aber hebe ich mich in die Luft empor; ich höre Stimmen aus Amerika herüberklingen; ich sehe Menschen fliegen - und ich komme nicht einmal dazu, auch nur darüber nachzudenken, wie es gemacht wird. So gewinne ich meinen Glauben an Magie zurück.‹
Aufgrund der vielen Beschreibungen, der massenhaften Erzählerkommentaren und der eher traumhaft als logisch gestalteten Handlungs- und Zeitsequenzen ist der Roman manchmal langatmig zu lesen. Nach dem ersten Kapitel bin ich auf eine deutsche Übersetzung gewechselt (beide Versionen sind frei auch online zugänglich).