Traven-TotenschiffOriginal anzeigen (0,3 MB)

Wer der unter dem Pseudonym B. Traven schreibende Autor wirklich gewesen ist, weiß man immer noch nicht mit Sicherheit. Vermutet wird, dass es sich um den in Mexiko lebenden deutschen Maschinenschlosser und Gewerkschafter Otto Feige gehandelt haben könnte. Unabhängig davon: Dieser 1926 erschienene Roman zählt zu einem der Klassiker der Abenteuer- wie auch kapitalismuskritischen Literatur, in dem die Problematik der Staatenlosigkeit in Europa nach dem Ersten Weltkrieg sowie die Praxis des Versicherungsbetrugs durch Reedereien thematisiert wird.

Der aus New Orleans stammende Seemann Gales wird in Antwerpen bei einem Landgang von seinem Schiff vergessen (als Anstreicher ist er nicht funktionsrelevant) und findet sich ohne Geld und ohne Papiere in Belgien. Das US-Konsulat kann/will ihm nicht helfen, da er keine Papiere vorweisen kann, die seine Identität bestätigen. Gales wird nach Holland abgeschoben, von dort zurück nach Belgien, von wo aus er über Frankreich, wo er als Knecht auf Bauernhöfen arbeitet, nach Spanien weitergeht. Spanien findet er ganz in Ordnung, da er als Odach- und Staatenloser von den Behörden nicht belästigt wird und die Menschen sehr freigebig sind. Dennoch heuert er in Barcelona auf einem heruntergekommenen Schiff, der Yorrike, an, auf dem ausschließlich Seeleute ohne Papiere ("Tote") arbeiten. Gales gibt sich als Ägypter aus und arbeitet als Heizer. Die Yorrike wird zum Waffen- und Munitionsschmuggel nach Nordafrika verwendet.

Bei einem Landgang in Dakar werden Gales und sein aus Posen stammende Kumpel Stanislaw Koslowski mit Gewalt auf das Schiff "Empress of Madagascar" entführt, da ihnen Heizer fehlen. Dieses erst drei Jahre alte Schiff soll zum Untergang gebracht werden, da es die vorgesehene Maschinenleistung nicht erbringen kann (es fährt nur 4 Knoten statt 12), was in einem Sturm vor der Westküste Afrikas auch gelingt. Gales und Koslowski treiben auf Trümmerteilen, Letzterer ertrinkt und auf einer Kajütenwand treibt Gales nun mit Halluzinationen auf dem Meer. Wie es mit dem Ich-Erzähler Gales weitergeht, bleibt offen.

Traven nimmt in diesem Roman offen eine linksanarchistische Position ein. Den Staat hält er für einen mächtigeren Unterdrücker als alle Könige und Tyrannen zuvor, da er in der Lage ist, über den einzelnen gnadenlos mittels bürokratischer Maßnahmen zu bestimmen. Gezeigt wird das an Gales, der als papierloser US-Amerikaner kein solcher mehr ist, und an Koslowski, der nach dem Ersten Weltkrieg weder für die deutsche noch für die polnische Staatsbürgerschaft optieren konnte, da er auf See war, und nun staatenlos ist, da sowohl in Polen als auch in Deutschland die Frist für eine Antrag auf eine Staatsbürgerschaft ausgelaufen ist. Ähnlich erging es einem Kumpel Koslowskis aus dem Elsass, einem anderen aus Memel (Klaipeda).

Seinen linken Standpunkt legt Traven bereits anhand des Lohnes auf dem regulär zahlenden amerikanischen Schiff dar, mit dem Gales nach Antwerpen fährt:
Der Lohn war ja nicht gerade hoch. Das könnte ich nicht behaupten. Aber wenn ich fünfundzwanzig Jahre lang keinen Cent ausgäbe, jede Monatsheuer sorgfältig auf die andre legte, nie ohne Arbeit wäre während der ganzen Zeit, dann könnte ich nach Ablauf jener fünfundzwanzig Jahre unermüdlichen Arbeitens und Sparens mich zwar nicht zur Ruhe setzen, könnte aber nach weiteren fünfundzwanzig Jahren Arbeitens und Sparens mich mit einigem Stolz zur untersten Schicht der Mittelklasse zählen. Zu jener Schicht, die sagen darf: Gott sei gelobt, ich habe einen kleinen Notpfennig auf die Seite gelegt für Regentage. Und da diese Volksschicht jene gepriesene Schicht ist, die den Staat in seinen Fundamenten erhält, so würde ich dann ein wertvolles Mitglied der menschlichen Gesellschaft genannt werden können. Dieses Ziel erreichen zu können, ist fünfzig Jahre Sparens und Arbeitens wert. Das Jenseits hat man sich dann gesichert und das Diesseits für andre.
Auch die Kritik an Staat und Bürokratie wie Travens Individualismus werden deutlich formuliert:
Im Grunde und ganz ohne Scherz gesprochen, war ich ja schon lange tot. Ich war nicht geboren, hatte keine Seemannskarte, konnte nie im Leben einen Paß bekommen, und jeder konnte mit mir machen, was er wollte, denn ich war ja niemand, war offiziell überhaupt gar nicht auf der Welt, konnte infolgedessen auch nicht vermißt werden. Wenn mich jemand erschlug, so war kein Mord verübt worden. Denn ich fehlte nirgends. Ein Toter kann geschändet, beraubt werden, aber nicht ermordet. Das freilich sind konstruierte Einbildungen, die gar nicht möglich, ja sogar ein Zeichen von Wahnsinn wären, wenn es keinen Bürokratismus, keine Grenzen, keine Pässe gäbe. Im Zeitalter des Staates sind noch ganz andre Dinge möglich und können noch ganz andre Dinge aus dem Universum ausgewischt werden als ein paar Menschen. Die intimsten, die ursprünglichsten Gesetze der Natur können ausgewischt und abgeleugnet werden, wenn der Staat seine innere Macht vergrößern und vertiefen will auf Kosten des einen, des einzelnen, der das Fundament des Universums ist. Denn das Universum ist aufgebaut aus Individuen, nicht aus Herden.
Und weiter:
Das Zeitalter der Tyrannen, das Zeitalter der Despoten, der absoluten Herrscher, der Könige, Kaiser und deren Lakaien und Mätressen ist besiegt worden, und der Sieger ist das Zeitalter eines größeren Tyrannen, das Zeitalter der Landesflagge, das Zeitalter des Staates und seiner Lakaien.
Noch vor Brechts berühmtem "Erst kommt das Fressen, dann die Moral" formuliert Traven, dass Moral den Arbeitermassen eingetrichtert wird, damit sie Skrupel davor haben, sich die Güter der Reichen zu nehmen:
Da kroch ich in einer Wache in der Nacht mal so ’rum in den Eingeweiden. Manchmal findet man ganz angenehme Dinge. Nüsse, Apfelsinen, Tabakblätter, Zigaretten und andres. Manchmal muß man die Kisten aufmachen und sehen, ob neue Hemden drin sind oder Stiefel oder Seife. Moral wird einem ja nur darum gelehrt, damit die, die alles haben, alles behalten können und das übrige noch dazu kriegen. Moral ist die Butter für die, denen das Brot fehlt.
Aufgrund der Schilderungen der oft brutalen Arbeit auf diesen Totenschiffen und der oft lakonischen, sarkastischen Schreibweise ein flott zu lesender Roman mit mehr Tiefgang als viele andere Abenteuergeschichten. Nicht ganz klar ist, warum die US-Konsulate, die Gales aufsucht, nicht die Möglichkeit haben, seine Aussagen zur Identität nachzuprüfen. Eine Transatlantik-Telegraphenverbindung gab es in den 1920er Jahren bereits seit einigen Jahrzehnten.

Verfilmt wurde der Roman 1959 vom österreichischen Regisseur Georg Tressler mit Horst Buchholz in der Rolle von Gales.