Oksanen-Stalins Kuehe

Dieser 2003 im Original veröffentliche Erstlingsroman der damals 26-jährigen finnischen Schriftstellerin Sofi Oksanen sorgte für Aufsehen ob seiner kompositorischen Macht. Kernfigur ist Anna, die an Bulimie (eigentlich nicht) leidet, jedoch ist es keine Autofiktion, sondern ein hochkomplexer Roman einer in Finnland geborenen Tochter eines Finnen und einer Estin.

Oksanen führt uns in eine Welt, in der Finnen auf ihre Sprachverwandten herabschauen, estnische Frauen sich an Finnen prostituieren (sei es im Wortsinn, sei es durch Ehe und Flucht).
Die estnischen Frauen verkaufen sich für ein Paar Strumpfhosen ... in der Sowjetunion lebt man gut, wenn man ein Auto, eine Wohnung und einen finnischen Liebhaber hat …
Wir lernen ihre Mutter kennen, die nicht will, dass Anna Estnisch lernt oder ihre estnische Abstammung offenbart. Wir lernen die in der sowjetischen estnischen Republik lebende Großmutter kennen, die Verschleppungen Hunderttausender vermeintlicher Faschisten in stalinistische Arbeitslager. Über die Lebensbedingungen im Lager schreibt Oksanen:
Osvald kommt ins Platinbergwerk von Norilsk. Er ist klein und mager genug, um zu überleben; die Kräftigeren ertragen die plötzliche Reduzierung der Nahrungsmenge nicht, von ihnen bleiben jeden Morgen einige auf den Pritschen neben Osvald liegen. Die Leichen werden in Säcken fortgebracht und auf einem Platz in der Nähe des Lagers gestapelt. Im Frühling, wenn der Boden - und die Leichen - aufgetaut sind, wird das, was die Tiere der Tundra davon übrig gelassen haben, in ein Massengrab gebracht. Die tägliche Brotration von dreihundert Gramm ist der Lohn für einen zwölfstündigen Arbeitstag, und sie darf nur im Lager gegessen werden, vielleicht wegen der Fluchtgefahr. So als könnte man von dort fliehen. So als wäre es möglich, mit dreihundert Gramm Brot durch Sibirien zu fliehen.
Osvalds Zähne beginnen auszufallen. Wie viel wiegt er? Vierzig Kilo oder fünfzig?
Die Gedanken stocken. Nicht lange, und der Hunger würde anfangen, das Gehirn aufzufressen.
Die Tage haben sich in Rationen von dreihundert Gramm Brot verwandelt und die Feiertage in eine Kelle Suppe.
Osvalds Brust ist blutig von den Läusen. Wunden heilen nicht, denn das Blut ist so dünnflüssig.
Die Bevölkerung Estlands und auch diejeigen, die als "Waldbrüder" Widerstand geleistet haben, werden von den Sowjetbehörden belogen:
Die russische Propaganda verbreitet Gerüchte, dass denjenigen, die aus dem Wald herauskommen, alles verziehen werde. Sie appelliert an Ehefrauen, Geschwister, Eltern und Freunde. Ein Flugzeug wirft über dem Wald Flugblätter ab, in denen gute Absichten beteuert werden.
Einige wollen das glauben.
Sie werden nach Sibirien geschickt oder erschossen.
Die Leichen der gefassten und getöteten Waldbrüder werden in Brunnen geworfen oder auf dem Markt zur Schau gestellt. Oder an die Diensthunde verfüttert.
1946 gibt es die Amnestie durch Stalin, die dann auch gilt. So kommt der Großvater Arnold, der bei den Waldbrüdern war, mit dem Leben davon. Doch damit ist nicht Frieden. Viele Menschen fliehen oder wollen fliehen. Und 1949:
Die Russen bombardieren die Schiffe, die von Virtsu und Haapsalu ablegen. Die Schiffe sind voller Esten, die aus dem Land flüchten ... Die estnischen Dörfer und Städte sind leer von Männern, übrig sind nur Frauen, Kinder und Greise. Bibeln und Kreuze sind in der Erde vergraben worden.
In der Nacht vom 23. zum 24. März 1949 werden unzählige Menschen nach Sibirien verschleppt und die leeren Häuser werden geplündert. Großvater Arnold wird nicht verschleppt, sein Hof muss jedoch in die Kolchose eingegliedert werden. Die nach Sibirien Verschleppten werden gezwungen zu unterschreiben, dass sie freiwillig nach Sibirien gegangen seien. Die in Estland Verbliebenen werden jahrelang immer und immer wieder vom NKWD verhört und drangsaliert. Die Zahl der Selbstmorde ist hoch.

In den Dörfern zeigen sich die Gewinner. Diejenigen, welche den Besitz der Verschleppten mit geplündert haben.
Die Mädchen der Remmels haben wunderschöne Kleider. So schöne, dass die Leute sich in der Stadt danach umdrehen. Als Katariina ein wenig älter ist, flüstert Sofia ihr zu, dass die Remmels die Kleider aus dem Haus der Röugs geholt haben, nachdem Aino und Eduard Röug mit ihren Kindern nach Sibirien gebracht worden waren. Mehr als diese geflüsterten Worte wird über die Sachen nicht gesprochen, obwohl alle es wissen. Wer was aus wessen Haus geholt hat. Was aus welchem Speicher »geholt worden ist« - niemals gestohlen, ausgeräumt, geraubt, immer nur »geholt«.
Die Vertriebenen getrauen sich zum Teil nicht mehr aus Sibirien zurückzukehren:
Die Röug'schen Söhne sind - anders als ihre Eltern und Schwestern - nicht bereit, Sibirien zu verlassen, obwohl die allgemeine Begnadigung der Gefangenen von 1956 sogar die Politischen betrifft und so auch der Familie Rõug das Recht gibt, nach Estland zurückzukehren. Die Söhne heiraten in Sibirien russische Frauen und bleiben dort. Wohin hätten sie auch gehen sollen? In ihr Dorf, das sie verraten hatte, in ihr Haus, in dem andere Leute wohnten, an dessen Tisch die Familie eines Denunzianten saß oder die dicke Tochter eines Russen, die Tee trank oder saure Gurken aß, in das Land, wo die Kühe des Kolchos weideten, und zu den Menschen, unter denen ihre Verschlepper waren, in dasselbe Dorf, um dieselben Wege entlangzuwandern, um für dieselben Menschen im Kolchos zu arbeiten, um denselben Mähdrescher zu fahren, um auf derselben Bank zu sitzen, um nachzusehen, ob Karlas, des lieben Onkels, Kaffeetasse dieselbe war wie die, aus der seinerzeit sie selbst tranken, ob Karlas Söhne die Hosen, die ihnen gehört hatten, bis zum Verschleiß abgetragen hatten, wie Elfride vielleicht als Heldenmutter gefeiert und wie sie im Kleid von Mutter Aino Röug auf einem Foto verewigt wird an dem Tag, als ihr der goldene Stern einer Heldin der sozialistischen Arbeit und Beifall und Blumen und Ehre zuteilwerden?
Bei den Besuchen der Großmutter in den 1980er Jahren wird der himmelschreiende Unterschied der Angebote zwischen Valutageschäften und Geschäften für sowjetische Normalbürger immer deutlicher erkennbar.
Um vorwärtszukommen, muss man Schlange stehen, überall warten und Schlange stehen, in Taxischlangen in Behörden im Café im Stoffladen beim Zoll; um irgendwohin zu kommen, muss man erst Schlange stehen, wenn man etwas haben möchte, muss man Schlange stehen, und sei es vor der leeren Ladentheke des Fleischgeschäfts, neben der die leeren Kühltruhen surren, vielleicht liegen am Grunde Pelmeni, Kinderwurst und Schweineklauen, eines Tages vielleicht auch andere Teile, dann, wenn die estnische Schweinerasse zu einem Schwein veredelt worden ist, von dem man auch anderes abbekommt als nur Schwanz, Klauen und Ohren, die auf dem Boden der großen Kühltruhe in einer weißen Emailleschüssel liegen, während die Verkäuferin in ihrem schmuddeligen Arbeitskittel mit saurer Miene dahinter steht und glotzt, unbeweglich neben ihrem Rechenbrett. Die übrigen Teile des in Estland gezüchteten Schweins werden nämlich nach Moskau gebracht... immer wird alles nach Moskau gebracht, das wie ein Fass ohne Boden ist ... Nichts bleibt hier ... Nach Moskau ... Nach Moskau ... oder in Geschäfte, die für das gewöhnliche Volk unzugänglich sind
Zwischen Annas Eltern passt nichts. Ihr Vater arbeitet seit Jahrzehnten an der finnischen Botschaft in Moskau und auch nachdem er mit seiner Frau in eine finnische Kleinstadt gezogen ist, lebt er in zwei Welten: Selten in Finnland, meistens in Moskau mit seinen russischen "Freundinnen". Statt dies auszusprechen, handelt die Mutter rachsüchtig:
Auf Vatis Einkaufsliste vom Dezember findet Mutter das Wort Shampoo und dann eine Flasche des für die Frau passenden Shampoos in Vatis Koffer. Mutter gießt das Shampoo aus und füllt stattdessen Kleister in die Flasche.
Und bei einem Besuch in Moskau:
Als Mutter und ich in Vatis Hotel die Korridore entlanggingen, sahen uns die Russinnen mit langen Blicken, abschätzend und hasserfüllt an.
Die Frau da trägt so einen Lederrock, wie Vati ihn einmal bei Seppälä gekauft hat. Nicht genau denselben, aber fast!
Es passte Vati überhaupt nicht, dass wir in sein Hotel gekommen waren. Er stürmte viele Meter vor uns her und war wütend. Mutter hatte aus purer Bosheit verlangt, das Hotel zu sehen, weil sie wusste, dass Vati uns dort nicht haben wollte.
Auch die Passagen, in der Anna über ihre Bulimie bzw. ihre Beziehungen schreibt, sind hochinteressant, da es keine Außenperspektive ist. Oksanen selbst litt/leidet unter dieser Krankheit. Ein Abschnitt, wie in der Sowjetunion mit Bulimie-Kranken umgegangen wurde, ist beklemmend:
In einer ganz frischen Zeitung, die ich auf dem Sofatisch gefunden habe, wird von einer Frau aus Pärnu berichtet, die im Jahr 1972 mit Elektro- und Insulinschocks wegen ihrer Krankheit behandelt wurde, die erst jetzt als Bulimie erkannt wurde. Jetzt hat diese Maie, deren Gesundheit durch die Behandlungen vollkommen ruiniert ist, die auf das Dreifache aufgequollen ist, einen Bart bekommen und den Tastsinn ihrer Hände verloren hat, den Rechtsweg beschritten, um vielleicht im Ausland irgendeine Behandlung zu bekommen, die ihren Zustand verbessern könnte.
Ein großartiges Buch.

Stalins Kühe waren übrigens Ziegen.