karaokekultur

Dubravka Ugresic (verstorben 2023) war bis 1993 slawistische Literaturwissenschafterin mit Schwerpunkt russische Avantgarde in Zagreb sowie Schriftstellerin. Nach der Unabhängigkeit Kroatiens wurde sie aus ihrem Beruf wie auch dem Staat geekelt, da sie sich öffentlich gegen einen neuen Nationalismus sowie faschistische Tendenzen in den neu erstandenen Staaten sowie in Kroatien ausgesprochen hat. Sie ging nach Amsterdam ins Exil und war an niederländischen wie US-amerikanischen Universitäten tätig.

In diesem 2012 erschienenen Band sind Essays gesammelt, die urspünglich in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlicht wurden. In vielen von ihnen setzt sie sich mit der Entwicklung des Kultur- und Kunstschaffens am Westbalkan auseinander, die aufschlussreiche Einblicke in - wie sie schreibt - von Mafiosos und Kriminellen regierten neuen Staaten bieten. Breiten Raum nimmt der auch im Westen sehr bekannte serbische Filmregisseur Emir Kusturica mit dessen pseudohistorischem Holzdorf Drvengrad ein, wo er wie ein Mafiapate herrscht. Damit sei Kusturica Teil einer Karaokekultur geworden, die amateurhaft Originales nachahmt. Wörtlich:
Künstler gibt es nicht mehr, es gibt Gesten, die zur Kunst erklärt werden können, aber nicht müssen.
Diese Karaokekultur (so der Titel des längsten Essays) sei für die weltweite Kultur dominierend geworden. Nicht mehr das Originelle oder Originale sei Kennzeichen der Kultur, sondern das Amateurhafte, das Nachahmende. Den Verlust formuliert sie - und dies bringt sie selbst zum Zweifeln, ob dieser Standpunkt nicht elitär sei - folgendermaßen:
Die Wertekodexe haben sich geändert, die Wertunterschiede zwischen den Meistern und den Amateuren, zwischen guter und schlechter Literatur existieren kaum noch, weil niemand mehr es wagt, sie zu definieren. Diese Unterschiede werden nicht von den Verlagen definiert, denn es ist beinahe sicher, dass sie mit einem guten Autor Verluste machen, an einem schlechten jedoch gut verdienen. Diese Unterschiede werden nicht mehr von den Kritikern definiert, weil sie fürchten, man werde ihnen Elitismus vorwerfen. Außerdem sind die Kritiker verunsichert, sie wissen nicht mehr, womit sie sich befassen sollen, denn zur Kritik verpflichtet sie heute weder Berufsethik noch Kompetenz. Die Unterschiede werden nicht mehr von den Literaturabteilungen der Universitäten definiert, denn die Literaturwissenschaft hat sich ohnehin zu Kulturwissenschaften ausgewachsen. Die Unterschiede werden auch nicht mehr von den Theoretikern definiert, weil die Literaturtheorie ohnehin im Begriff ist auszusterben und der Teil von ihr, der bemüht war, sogenannte ästhetische Werte zu definieren, schon längst nicht mehr existiert. Auch die Literaturkritiker in den Feuilletons definieren keine Unterschiede mehr; sie werden schlecht bezahlt, außerdem gibt es für die Buchbesprechungen immer weniger Platz. Schließlich definieren auch die Literaturzeitschriften keine Unterschiede mehr, weil ihre Zahl immer weiter schrumpft, die auf dem Markt verbliebenen Zeitschriften teuer sind und daher von den Buchhandlungen nicht gern vertrieben
Mit der Kommerzialisierung und der weltweiten Verbreitung der Internetzugänge sei diese Tendenz stark steigend. Ugresic führt unzählige Beispiele für ihre These an. Wikipedia als Amateur-Enzyklopädie nimmt einen zentralen Platz ein, aber auch Fanfiction, Twitterliteratur ("Twitteratur") und Exhibitionismus von Amateuren ("Angst vor dem Tod"). Im Internet ersetzen das Pseudonym und der Avatar das Individuum, der anonyme Autor habe Macht, da er unverletzlich und ohne Verantwortung sich äußern kann.

Beim Lesen stellt sich die Frage, woher Ugresic all ihre Beispiele nimmt. In einem der Essays ist dies beantwortet: "Ich gehe spät ins Bett, stehe früh auf und surfe wie besessen im Internet". Ugresic ist also Teil der von ihr so heftig kritisierten Kultur. Eine Essaysammlung mit Augenzwinkern? Auf der anderen Seite sind da die Passagen über innereuropäischen Menschenhandel von Sexsklavinnen bis Ernte- und Pflegehelfer:innen in Schwarzarbeit sowie den chinesischen Organhandel.