Michel Foucault - Überwachen und Strafen
09.05.2024 um 09:301975 veröffentlicht, zeichnet Foucault die Entstehung des Gefängnissystems mit Beispielen hauptsächlich aus Frankreich im 18. und 19. Jahrhundert nach. Seine Hauptthesen sind, dass die gesellschaftliche Grundlage die Bevölkerungsexplosion und die Entstehung der industriellen Produktionsweise ist, welche eine Entwicklung bedingte, bei der das Gefängnis nur ein Ausdruck, wenn auch der radikalste, ist.
Durch die immer arbeitsteiligere Gesellschaft entstehen Disziplinen im doppelten Wortsinn. Einerseits sind es Fertigkeiten in einem engen Bereich, die erst im Zusammenspiel mit weiteren Disziplinen ein wirkmächtiges System ergeben (sei es beim Militär, sei es in der Produktion, sei es gesamtgesellschaftlich), andererseits ist es die streng nach Norm erfüllte Tätigkeit, die eine Übernahme des Körpers durch eine Anforderung von außen bedeutet.
Indem nun von Menschen erwartet wird, dass sie eine Disziplin beherrschen (Machtfaktor), werden sie durch ein Überwachungssystem (vom Notensystem an Schulen, über die Einstufung der Arbeitsqualität oder Qualifizierungen in der Arbeitswelt oder bis zur Polizei bzw. Justizwache in Gesellschaft und im Strafvollzug) in ihrer Disziplin individualisiert und eingestuft.
Für das Strafsystem bedeutet dies, dass an einem Deliquenten nun nicht mehr die furchtbare und grausame Rache des Souveräns vollzogen wird (Foucault bringt Extrembeispiele an grausamen Bestrafungen zur frühen Neuzeit) und dass auch nicht die Reformbestrebungen sich durchgesetzt haben, dass eine Tat nach ihrem Charakter gleichförmig und öffentlich bestraft wird (Mord durch Tod, Diebstahl durch Vermögensstrafen), sondern ein am Kloster mit seinen Zellen und seiner strikten Zeit- und Tätigkeitseinteilung orientiertes Haftsystem, in dem der Verurteilte permanent überwacht wird. Ähnliche Systeme werden nun auch beim Militär (Kasernen), in der Ausbildung (Schulen, Internate), in der Produktion (Arbeitshäuser, Fabriken) errichtet.
Auch das Wesen der Strafen ändert sich. Immer stärker ist das Individuum und dessen Resozialisierbarkeit im Fokus. Normgerechtes, also diszipliniertes Verhalten kann zu einer Verkürzung der von einem Gericht festgelegten Strafzeit führen. Nicht normgerechtes, also undiszipliniertes Verhalten kann zu einer Verlängerung der Strafzeit führen. Um solche Entscheidungen treffen zu können, werden - wie in Schulen oder Krankenhäusern - Akte über jede Person angelegt, in denen alle Verhaltensauffälligkeiten (normgerechte wie gegen die Normen verstoßende) angelegt.
Das Gefängnissystem als Strafvollzug gegen Gesetzesverstöße funktioniert nun wie die disziplinierte Gesellschaft, die Norm- und Regelverstöße sanktioniert (schlechte Noten, Verlust eines Arbeitsplatzes, Ausstoß aus einer Gemeinschaft). Auf der anderen Seite funktioniert die Gesellschaft immer mehr wie ein Gefängnis: das Individuum wird permanent in seinem normgerechten, disziplinierten Verhalten bewertet, eingestuft und gegebenenfalls sanktioniert.
Der Kern für alle diese Systeme ist die Prämisse der Nützlichkeit des Individuums im jeweiligen Kontext. Ausgesetzt ist es einer Mikro-Justiz, mittels der Macht sich in unterschiedlichsten Gesellschaftsbereichen durchsetzt: Verhaltensregister, Prüfungen als Beispiele. Mittels dieser erlangen Individuen bei Normentsprechung Privilegien oder sie werden, wenn Normen nicht entsprochen wird, ausgeschlossen. Klassifikation und Besserung (im Sinne einer Normenentsprechung) sind die Ziele eines Systems der Mikro-Justiz.
Mit dieser Einstufung von Menschen nach ihrer Nützlichkeit entsteht auch eine Begrifflichtkeit über den Nützlichkeitswert, an deren unterster Stufe Menschen mit körperlichen Beeiträchtigung, die nicht mehr nützlich sein können. Diese werden nun als invalide, wörtlich: wertlos bezeichnet. Und zur Vergleichbarkeit der Einstufung, Normierung, Disziplinierung des Menschen entwickeln sich nun Humanwissenschaften mit ihren Unterwissenschaften: Psychologie, Pädagogik, Kriminologie und weitere.
Auch wenn das Buch mehr wie ein Essay und manchmal mäandernd geschrieben ist, so versucht Foucault auch die Mechanismen und Regeln der Disziplinierung auszuarbeiten. Dies verleiht dem Text, der sich mehr oder weniger auf das 18. und 19. Jahrhundert beschränkt, die Möglichkeit, die Gültigkeit der Aussagen auch für die aktuelle Gesellschaft zu überprüfen. Auch wenn das Werk in den letzten Jahren immer wieder kritisiert worden ist, besitzt es fast 50 Jahre nach seinem Erscheinen noch eine nachdenkenswerte Aktualität.