Franz Kafka - In der Strafkolonie
11.04.2024 um 15:40Mehrfach in meinem Leben habe ich diesen Text nun gelesen und immer wieder schrecke ich ob seiner zu Ende gedachten Radikalität zurück. Diese Hinrichtungsmaschine auf einer (französischen?) Strafinsel ist ob seiner rationalen Brutalität für mich immer noch ein Sinnbild dessen, was im 20. Jahrhundert an institutionalisierter Gewalt von Verbrecherregimen ausgeübt worden ist. Ob dieser Text Kafkas aus dem Oktober 1914 (zwei Monate nach Beginn des Ersten Weltkriegs) Vorahnung dessen ist, lässt sich kaum erschließen. Aber er ist einer der wenigen Texte Kafkas, in denen sowohl der Erzähler als auch eine der Hauptfiguren eindeutig Stellung nehmen und diese Form von Hinrichtung als unmenschlich ablehnen ("Die Ungerechtigkeit des Verfahrens und die Unmenschlichkeit der Exekution war zweifellos"). Auch wird explizit gegen ein Gerichtssystem Stellung genommen, in dem der Angeklagte kein Recht auf Verteidigung hat und in dem es keine Möglichkeit eines Einspruchs in einer höheren Instanz gibt.
Der Reisende, der auf Einladung des neuen Straflagerkommandanten ein Gutachten über diese Hinrichtungsmaschine des alten Kommandanten abgeben soll, erinnert an einen Delegierten des Roten Kreuzes oder einer internationalen Menschenrechtsorganisation, vielleicht auch einer (damals nicht mal in Ansätzen existierenden) Institution wie der UNO oder dem Völkerbund. Er hat kein Entscheidungsrecht, doch sein Gutachten sei doch so gewichtig, dass es ein Ende der Maschine herbeiführen kann.
Der Offizier, der den Reisenden begleitet, will ihm anhand einer Exekution den Mechanismus vorstellen, der über 12 Stunden hindurch mit Nadeln die Schuld des Verurteilten in den Körper sticht, bis er den Schuldspruch "lesen" kann und von den Nadeln der Maschine aufgespießt wird. Die Maschine ist jedoch bereits so schlecht gewartet, dass alle Zahnräder aus ihr fallen, der Verurteilte sich befreien kann.
Was hat er eigentlich verbrochen? Auf nächtlicher Wache hätte er stündlich seinen Vorgesetzten, der eh schläft, mit einem Salut grüßen sollen. Er ist erwischt worden, als er eingeschlafen ist. Die Maschine hätte Folgendes vollziehen sollen, wie der Offizier sagt:
»Unser Urteil klingt nicht streng. Dem Verurteilten wird das Gebot, das er übertreten hat, mit der Egge auf den Leib geschrieben. Diesem Verurteilten zum Beispiel« - der Offizier zeigte auf den Mann - »wird auf den Leib geschrieben werden: Ehre deinen Vorgesetzten!«Aufgrund der ablehnenden Haltung des Reisenden und der Desintegration der Maschine beschließt der Offizier sich selbst, als letzten offenen Befürworter dieser Bestrafungsmethode, auf die Maschine zu legen, die er zuvor akribisch repariert. Folgenden Spruch lässt er sich in die Haut schreiben, bevor die Maschine ihn aufspießen wird: "Sei gerecht!"
Bei der Abreise wollen der ehemals Verurteilte und dessen Bewachungssoldat, die beide kein Französisch sprechen (auch den kolonialen Aspekt hat Kafka in diesen Text integriert), auf dem Schiff von der Insel fliehen. Der Reisende hält sie davon ab, indem er ein schweres, verknotetes Seil drohend schwingt. Der Reisende verkörpert nicht das absolut Gute. Auch dies eine sehr präzise Vorahnung des 20. Jahrhunderts.