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Die ungarische Dichterin Krisztina Toth hat 2006 (deutsche Übersetzung 2011) 15 kurze Erzählungen einer Ich-Erzählerin aus verschiedenen Lebensphasen (oder sind es 15 verschiedene?) während der Endzeit des kommunistischen Regimes und der 1990er Jahre veröffentlicht. Strukturiert ist nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern wie Erinnerungen oder Beobachtungen ungeordnet. In poetischer Sprache werden die dunklen Seiten der ungarischen Gesellschaft wie auch der menschlichen Seele beleuchtet.

UNBEWOHNT (Trennlinie): Gleich die Eingangsgeschichte (1990er Jahre?) beginnt mit dem Tod eines 80-Jährigen in der Provinzstadt Kecskemét, dessen Verhältnis zur Erzählerin unklar bleibt, und schwenkt dann über auf einen amputierten Obdachlosen namens Robin in einer Budapester U-Bahnstation, der in Containern nach Brauchbarem sucht. Erinnerungsfetzen gehen zurück in die Jugend, dass sie einen hübschen 20-Jährigen Robin kannte, der ein Meister auf dem Skateboard war. Ob dies dieselben Personen sind?

FEDERMÄPPCHEN (Richtlinie): Schulzeiterinnerung. Das Treppenlaufen während des Sportunterrichts, da nicht ausreichend Sporträume zur Verfügung standen, und dass die Tochter eines Parteifunktionärs ein schickes Federmäppchen mit Magnetverschluss aus dem Ausland hatte, was für nicht privilegierte Kinder es in Ungarn nicht zu kaufen gab. Und als es gestohlen wurde, gesteht sie die Tat. Ob sie es war, bleibt offen.

WEISSE LANDKARTE (Lebenslinie): 6. Juli 1989, der Todestag von János Kádár. Die Erzählerin ist Studentin der Geschichte, hat eine Geschichteprüfung, bei der sie weiße Landkarten mit Daten hätte befüllen sollen, verschoben, am Plattensee macht ihr Freund mit ihr Schluss. Sie öffnet sich die Pulsadern. Überlebt. Der Einstieg in die Geschichte: Eine Freundin sieht in ihrer Hand eine unterbrochene Lebenslinie.

DER ZAUN (Blutlinie): Kindheitserinnerungen an den Vater, der einen teuren Plankenzaun um das Gartengrundstück legen will, um es vor rumlungernden Alkoholikern schützen zu können. Aufgrund einer Gallenkrankheit muss herausgefunden werden, warum er so viele unregelmäßige Operationsnarben an Brust, Bauch und Rücken hat und ein Splitter an der Leber zu sehen ist. Offiziell war es ein Autounfall, in Wirklichkeit war er als 14-Jähriger 1956 bei einem Fluchtversuch nach Österreich der einzige Überlebende, als die Gruppe von Grenzwächtern niedergeschossen wurde. Ein Arzt holte am Küchentisch die Kugeln raus.

AMEISENSTRASSEN (Weglinien): Kindheitserinnerung an das heruntergekommene Häuschen der Großmutter, ihren Freund Schuli, an den Dreck, den Gestank. Als sie zu Verwandte nach Újpest fährt, wird ihr der Schorf an der Kopfhaut mit Petroleum abgewaschen und in den juckenden After wird Kernseife gesteckt.

DAS SCHLOSS (Grenzlinie): Erinnerungen an die Sommerbesuche eines extrem dicken Onkel Franz aus Kaschau in der Slowakei, dessen Mutter in einer verwahrlosen Souterrain-Wohnung hauste. Onkel Franz bringt immer kleine Geschenke mit und sein Hund reibt seinen Penis am Bein des Mädchens. Erinnerungen an ein zweiwöchiges Ferienlager, das als Bonus für gute Noten gewährt wurde. Das Ferienlager ist ein Horror mit militärischem Drill, Spind- und Bettkontrollen, Sportübungen, weggenommenen Medikamenten und Vitaminpillen, diktatorischen Betreuerinnen, eine von ihnen treibt es mit dem jungen Arzt. Wegen einer Blutvergiftung landet das Mädchen im Krankenhaus. Wutausbruch des Vaters: „Vermaledeite Pissnelken und Kommunistenschweine“.

LAUWARME MILCH (Strichcode): Wieder eine Geschichte eines Schulmädchens so um die 14 bis 15 Jahre. Sie spielt vermutlich in den späten 70er Jahren, Jimmy Carter wird erwähnt. In die ungarische Familie kommt eine Gastschülerin aus den USA, Kathy. Der Vater wundert sich, warum Kathy kein Wort versteht, wenn seine Tochter etwas auf Englisch sagt und dürfte wohl an das rausgeschmissene Geld für den Privatunterricht denken. Das Mädchen ist in einen Robi verliebt, der sich beim Eislaufen jedoch an Kathy heranmacht. In der Schule gibt es vor, eine Leukämie-Diagnose zu haben, wird entlassen, stiehlt Robis Eishockey-Ausrüstung und zerstört sie auf ihrem Heimweg. Warum „Strichcode“? Zu Beginn wird darüber geschrieben, wie alle beinahe als Heiligtum verehrten Waren aus dem Westen, meist aus Wien, diese nicht erklärbaren Aufkleber mit den schwarzen Strichen haben. Der Vergleich mit den Nummertätowierungen von KZ-Häftlingen ist dann doch etwas übertrieben. „Lauwarme Milch“? Eine solche mit Haut wird Kathy an den Hals gewünscht.

SCHWARZER SCHNEEMANN (Liniennetz): Aufwachsen in einem Plattenbauviertel mit seiner linienförmigen Anordnung wie die Linien in karierten Mathematikschulheften. Die Wände sind dünn, der Hausmeister ist Hausverwalter, die Kinder spielen im Hof und holen sich schwarze Schlackesteine von der Baustelle, an der weitere Plattenbauten hochgezogen werden. Aus diesen Schlackesteinen werden Figuren gestaltet, die als Schmuck getragen werden. Erst viel später erfährt die Erzählerin, dass diese Hochofenschlackesteine hochgiftig waren.

WARMER BODEN (Schnittlinie): Ein 14-jähriges Mädchen mit einem gleichaltrigen Freund (Klein-Tibi), der sexuell näher kommen will. Sie zieht mit ihm und seinem Vater zum Pfuschen (Auslegen von Teppichböden) in Plattenbauwohnungen. Es sei viel Geld damit zu verdienen (vor oder nach der Wende 1989 bleibt offen). Dass die Kinder einen Teppich falsch zuschneiden, scheint den Vater nicht zu irritieren. Die Besitzer sind nicht da und sie sind wieder weg. Eine Geschichte an der Pubertätswende, die Kindlichkeit wird noch durch das Sammeln von internationalen Fahrscheinen bzw. Klein-Tibis Fan-Begeisterung für einen Fußballverein betont. Häusliche Gewalt wird angedeutet, bleibt aber skurril (in der Küche der Familie des Jungen ist eine Art Galerie eingezogen, in den er bei Strafe verbannt wird).

KALTER BODEN (Höhenlinie): Eine ungarische Dichterin fliegt nach Japan zu einem Schriftstellerkongress, um den es nicht geht. Sie will zwölf erotische Wünsche, die sie auf Zetteln ihrem ehemaligen Geliebten/Mann geschrieben hat, an geeigneten Orten anbringen. „Trauerarbeit“, wie geschrieben ist. So finden die Zettel Platz im Maul eines Löwen einer Shinto-Tempels oder in einer Sparbüchse eines Spielwarengeschäfts. Wir erfahren auch noch, dass sie ohne Angabe von Gründen bei der Einreise am Flughafen festgenommen und ebenso wieder freigelassen wurde. Der Titel bezieht sich auf die Klimaanlage des Hotels, mit der sie nicht umgehen kann - sie heizt auf und findet sich am Morgen am kalten Boden liegend. Der Untertitel wird wohl vom Fuji stammen. Sie wollte einen Zettel in den Krater werfen, kommt jedoch nicht mal in die Nähe des Berges. Oder von der Höhenlinie der Hochhäuser Tokios.

ES WAR EINMAL EINE HEXE (Hotline, besetzt): Eine gerahmte, sehr bedrückende Ich-Erzählung. Die Erzählerin, verheiratet und Mutter eines Kindes, ist schwanger und erfährt, dass es Zwillinge sein werden. Sie fährt zu ihrem Mann, der nicht nach Hause kommt und dessen Telefon dauernd besetzt ist, zum Sommerhäuschen, wo er Gartenarbeiten erledigt, um ihm zu berichten, trifft ihn jedoch mit einer halbnackten Frau an. Er fährt sie noch nach Hause und verlässt sie. Die beiden Kinder werden Totgeburten und sie kehrt anscheinend zu ihrem Elternhaus zurück, über das sie berichtet, wie sie als Vierjährige aus diesem mit ihren Eltern in eine Wohnung gezogen sind und ihre Puppe im Ofen verbrannt worden ist. Mit dem Nachbarjungen hat sie abgemacht, dass sie mal drei Kinder haben würden. Es ist Halloween, die Nachbarstochter kommt vorbei, es sei Halloween. Ihr Sohn möchte als Hexe gehen.

WAS HAST DU DA? (Bikini-Linie): Die Ich-Erzählerin hasst Strand, gemeinschaftliches Baden und reflektiert die Frauwerdung anhand ihrer auch fotografisch festgehaltenen Badekleidung, seit sie Kleinkind war, als nur ein Höschen reichte, auch wenn der Unterschied zwischen Buben und Mädchen bereits sichtbar war. Sie denkt an ihren ersten Bikini, als der Oberteil eigentlich noch nichts zu verdecken hatte, an ihre erste Menstruation, schließlich ans Mutter-Sein.
Mein ganzes Erwachsenenleben wurde durch dieses Unbehagen bestimmt. Ich hasste das Treiben am Strand, das gemeinschaftliche Baden, die ungeschlachten, transpirierenden Leiber, die Zurschaustellung von Haut, von Knitterfalten, die schamlose Tristesse der Füße, das selbstvergessene Herumtollen der armseligen Wesen: hasste die sich duschenden, quietschenden, klatschnassen Ebenbilder, die sich waschenden, uns dabei den Rücken zukehrenden alten Frauen, denen, wenn sie sich nach dem Handtuch greifend vorbeugten, zwischen den Schenkeln verklebte graue Haarbüschel herunterhingen, hasste, dass es Leiber gibt und Tod und dass der Tod sich über den Körper äußert.
ICH TANZE GERN (Schlusslinie): Diese Erzählung thematisiert die Bruchlinien zwischen Budapest und dem ungarischen Land sowie das Ende einer toxischen Beziehung. Die Ich-Erzählerin besucht regelmäßig mit Zoltán, ihrem geschiedenen Lebensgefährten, Bekannte (oder Verwandte?) am Land. Von den Nachbarn wird ihre Beziehung als „Heidenart“ kritisiert. Die Skizze umfasst einige Jahre. Annusch-Néni ist die Besuchte, die schließlich an Darmkrebs stirbt. Zoltán wird als Mensch gezeichnet, dem andere (Lebewesen) egal sind. Eine verletzte Ziege will er schlachten, eine Wespe tötet er aus Lust und Laune, beim Autofahren riskiert er durch gefährliche Manöver Unfälle. Am Ende wartet sie auf ihn mit einem Abendessen, am Telefon hört sie ihn zu einer Edith flüstern, als er erscheint, ist der vormals bärtige Zoltán rasiert. Einziger Kommentar und Schlussbemerkung: „Sie hat einfach gut getanzt. Und ich tanze gern.“

TAKE FIVE (Bruchlinie): Die Ich-Erzählerin ist ungarische Studentin in Paris, ihr Freund lebt noch immer in Budapest und schreibt ihr Briefe. Sie hat wenig Geld, lebt in einem Dachmansardenzimmer ohne Bad und WC zur Untermiete, lebt von Maisdosen und Fischstäbchen. Ihr Nachbar ist laut und putzt das gemeinsame WC nicht. Eigentlich hasst sie ihn, doch als sie eines Tages ihn durch seine offene Wohnungstür mit einem riesigen Schwanz masturbieren sieht, bricht das Animalische in ihr durch. Mehrfach haben sie miteinander wilden Sex: am Gang, in ihrem Zimmer. Sie findet heraus, dass er ein Saxophon besitzt. Als ihr ungarischer Freund zu Besuch kommt, findet sie ihn langweilig, seine Sexualität zu weich und milde. Als sie gemeinsam einen Jazzclub besuchen, wagt sie es nicht, den Saxophonisten zu betrachten. So endet die Geschichte. Ob es zum Bruch kommt oder ob ihre enthemmte Sexualität in den Bereich der Wunschträume verdrängt wird, bleibt offen.

MISERERE (Einen Strich ziehen): Die Ich-Erzählerin erinnert sich an einen Sommer, den sie als kleines Kind bei Freunden ihrer Eltern hat verbringen müssen, da ihre Eltern nach Deutschland gereist sein. Sie erinnert sich, dass der größere Bub namens Jenö mit einem Freund mit Angelhaken Frösche gefangen und damit gequält haben. Einmal braten sie Froschschenkel, die sie von einem lebenden Frosch abgehackt haben, die jedoch nicht schmecken. Die Erzählerin ist jetzt erwachsen, bereits Mutter, und sie besucht Jenö in einer Plattenbauwohnung. Er ist gelähmt, hat Anfälle und die Krankheit MIserere. Er speit Kot. Und so beginnt diese Geschichte:
Auch wenn sie auseinanderklafft, ist die Welt doch irgendwie ein Gefüge von Gesetzen, gelegentlich undurchschaubar oder wie der im Morgendämmern aufblitzende Spinnwebfaden in einem Netz aus Zusammenhängen: das Ende der Fäden festgemacht in ganz unterschiedlichen Ecken der Zeit.
Der ungarische Schriftsteller Péter Nádas lobt die Dichterin überschwänglich, vergleicht sie mit Tschechow, Gorki oder Camus. Beeindruckt ist er von ihrer „Liebessensitivität“ gepaart mit „Liebesbrutalität“, die ihrem äußeren Bild, das er nur von Fotografien kennt, nicht zusammenpasse. Die Dichterin Kristina Tóth hat für ihn die „Kraft eines Büffels“ und die „Schwerelosigkeit eines Falters“.

Vielleicht müsste man diese Texte auf Ungarisch lesen, denn ich selbst habe die Erzählungen zwar interessant gefunden, aber einen so richtigen Zugang habe ich nicht zu ihnen gefunden.