Kapitalismus am Limit
02.04.2024 um 02:04Zwei Tage habe ich gebraucht, um diesen neu erschienen Band der beiden marxistischen Politologen Ulrich Brand (Universität Wien) und Markus Wissen (Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin) gelesen zu haben.
Weniger interessant ist die Analyse des Ist-Zustands, der - wie vieles - von anderen übernommen wurde (auch ordentlich referenziert) und bekannt ist, sondern schon mehr die Bewertung sowie die vorgeschlagene Behebungsstrategie.
Brand und Wissen gehen von Gramsci aus, dass wir uns ein einer Übergangsperiode befinden (die Herrschenden können nicht mehr, wie sie wollen, und das Neue kann noch nicht hervorgebracht werden) und dass Klimakrise wie soziale Krisen auf der Expansionsnotwendigkeit des Kapitalismus beruhen (Marx). Dabei wird sehr stark mit Verallgemeinerungen gearbeitet. Die Welt wird in einen "globalen Norden" und einen "globalen Süden" geteilt (der "kollektive Westen" kommt nicht vor, den Angriffskrieg Putins lehnen sie ab) und im "globalen Norden" herrscht eine "imperiale Lebensweise" vor (ein altes Theorem der beiden), wobei die Lohnarbeiter (männlich und weiß) gezwungen sind, ihre Reproduktionsmittel am kapitalistischen Markt zu kaufen, was ihnen durchaus gefällt und was auch als Rollenmodell für aufstrebende Ökonomien im "globalen Süden" dient. Beklagt wird, dass einerseits eine Subsistenzwirtschaft (also Selbstversorgung) durch die Kapitalakkumulationsentwicklungen zerstört wurde/wird, andererseits Reproduktionsaufgaben wie Pflege oder Haushaltsarbeit kostenlos an Frauen bzw. die Familie ausgelagert sind.
Das Verhältnis zwischen "globalem Norden" und "globalem Süden" ist ein Ausbeutungsverhältnis seit Jahrhunderten und daran werde sich auch nichts ändern, wenn der "globale Norden" auf ökologische Produkte umsteigt, die Ausbeutung der Rohstoffländer bleibt, Kosten werden in Raum wie auch in Zeit (auf zukünftige Generationen) abgewälzt. Die Beispiele des Rohstoffabbaus von zum Beispiel Lithium sind durchaus korrekt ermittelt. Logischerweise wird dann auch die EU-Initiative des European Green Deal abgelehnt. Dies sei nichts anderes als ein Grüner Kapitalismus und ein Hegemonieprojekt des Rohstoffkolonialismus.
Sämtliche Parteien der "liberalen Demokratie" (konservative, sozialdemokratische, Grüne) im "globalen Norden" werden als Systemerhalter gebrandmarkt, was aufgrund der vielen Wiederholungen mich schon beinahe an Stalins Sozialfaschimusthese erinnert. Die rechtspopulistischen Parteien hätten die vertikalen Konflikte (Klassenkonflikte) auf horizontale (ethnische, identitäre) umgemünzt und so die deklassierte weiße männliche Arbeiterschicht abgeholt (Trump wird als Beispiel herangezogen, Meloni oder die weiblichen Le Pens werden nicht genannt - diese passen wohl nicht ganz ins Klischee der "Petromaskulinität", das mehrfach vorgebracht wird).
Auch das aktuelle China wird ins kapitalistische Boot geholt. Deren augenblickliches Wirtschaftsmodell beruhe auf einem Postfordismus (der im Westen ab der Krise der 1970er Jahre Einzug gehalten hat und im Neoliberalismus seine ideologische Stütze fand) mit einem "starken und industriepolitisch aktiven Staat". Damit ist eine Diskussion über kommunistischen Imperialismus vom Tisch, China ist kapitalistisch. Die restlichen kommunistisch regierten Staaten werden nie erwähnt.
Was ist nun die Perspektive von Brand und Wissen? Grundsätzlich wird liberale Demokratie abgelehnt, da sie nur dazu diene, die Herrschaft des Kapitals zu bedienen. Doch was ist die Alternative? Kurz wird erwähnt, dass Basisbewegungen in den Regierungen, Parteien, Gewerkschaften, Verbänden stärkeren Einfluss erhalten sollen (also eine ideologische Meritokratie anstelle eines One Person One Vote-Prinzips). Im Wortlaut:
Statt nur Wähler*innen oder Mitglieder repräsentieren zu wollen, müssen Regierungen und Parteien, Gewerkschaften und Verbände, denen es um grundlegende Veränderungen geht, zur Ermächtigung von Bewegungen beitragen, aus der sie umgekehrt ihrerseits Kraft ziehen.Außer diesem sehr bolschewistischen Konzept kommt nichts, obwohl die Begriffe "Demokratie" und "Solidarität" permanent wiederholt werden. In ihren Worten:
Im Rahmen der liberalen Demokratie ... lässt sich die sozial-ökologische Krise nicht mehr bearbeiten. Die Alternative ist stattdessen, hinter die liberale Demokratie zurückzufallen und die imperiale Lebensweise autoritär zu stabilisieren oder über beide hinauszugehen, das heißt die Demokratie zu demokratisieren und eine solidarische Lebensweise anzustreben.Aber zugute möchte ich den beiden halten, dass sie nicht im Vagen bleiben, sie werden ganz konkret und das hat es in sich.
Eine solidarische Bearbeitung der Krise der Externalisierung erfordert ... tiefe Eingriffe in die Eigentums- und Verfügungsrechte der Erdzerstörer sowie eine radikale Beschränkung solcher 'Freiheiten' wie ... das Fliegen (mit Privatjets), die Produktion und Nutzung großer Autos, das Rasen ohne Tempolimit, der Erwerb von Aktien von Rüstungs-, Auto-, Öl- oder Bergbaukonzernen.Wie also sollen "tiefe Eingriffe in die Eigentums- und Verfügungsrechte" nach Brand und Wissen aussehen? Es folgt die Forderung nach einer "Ausweitung demokratischer Verfahren auf solche gesellschaftlichen Bereiche, die bislang systematisch gegenüber ihnen abgeschottet waren". Klingt gut und sehr kommunistisch: In keinem kommunistischen System war bisher definiert, was "demokratisch" bedeutet, die Kontrolle wurde/wird von der Partei übernommen. Und die war demokratisch, weil sie die objektiven Interessen der Arbeiterklasse vertrat/vertritt. Der Wortlaut:
Gefordert wäre folglich eine Ausweitung demokratischer Verfahren auf solche gesellschaftlichen Bereiche, die bislang systematisch gegenüber ihnen abgeschottet waren. Die Förderung von Öl, die Abholzung von Wäldern für die industrielle Landwirtschaft, die Produktion von Gütern wie Handys, Billigfleisch und Panzern, die Herstellung und Nutzung von unsinnigen und schädlichen Luxusgütern wie SUVs, Privatjets oder Yachten dürften nicht länger eine Angelegenheit privater Entscheidungen sein. Dasselbe gilt für Kernbereiche des Grünen Kapitalismus wie die Elektro-Automobilisierung, die - vorangetrieben von starken Partikularinteressen - viele Menschen andernorts und in der Zukunft schädigt, ohne dass diese die Möglichkeit hätten, an den entsprechenden gesellschaftlichen Weichenstellungen mitzuwirken.Auch bei obigem Zitat bleiben Brand und Wissen noch unkonkret, doch als Marxisten formulieren sie bald, dass es nur eine Entität gibt, die wirksam arbeiten kann, der Staat:
Der Staat und das internationale politische System sind zentral bei der rechtlichen, finanziellen, administrativen und diskursiven Absicherung emanzipatorischer Errungenschaften.Und was soll der Staat gewährleisten?
solidarische Begrenzungen, Vergesellschaftung als Basis für eine sozial-ökologi-sche Wirtschaft, solidarische Resilienz, Reparatur sowie ein anderes Verständnis und eine andere Praxis von Freiheit.Jetzt sind wir dort: Vergesellschaftung und Begrenzung. Das klassische Lenin'sche Modell. Und was soll vergesellschaftet werden?
- Wohnraum
- Wasserversorgung
- Landwirtschaft
- Ernährungssystem
- Boden (vergesellschaftet oder genossenschaftlich)
- Industrie (Autoindustrie, Rüstungsindustrie)
- Energie
Und dann wird ein Umbau zu einer nachhaltigen Wirtschaft möglich sein. Weltweit. Vergessen haben die beiden auf die Finanzwirtschaft (zumindest wäre mir dieser Bereich nicht aufgefallen). Aber es wird wohlwollend das Bundestagsmitglied Hans Thie der deutschen Partei Die Linke zitiert:
Alles Eigentum, das über das Persönliche hinausgeht und - in welcher Form auch immer - Macht über andere Menschen begründet, wäre demokratiepflichtig.Was immer "demokratiepflichtig" meint, dies sind Gedanken, die mich an die ultralinken Phasen Maos erinnern. Die "demokratische Kontrolle" von Eigentum, die "über das Persönliche hinausgeht", war in manchen Zeiten für die Betroffenen tödlich. Aber ich gehe davon aus, dass Thie, Brand und Wissen sich ihre Traumzukunft nicht tödlich vorstellen.
Wie leichtfertig Brand und Wissen mit ihren Interpretationen umgehen, sei noch an einem Beispiel gezeigt. So wird die Maastricht-Begrenzung der Schulden auf 60 Prozent des BIP kritisiert, weil damit die EU-Staaten nur mehr wenig Spielraum hätten und dies eine neoliberale Entscheidung gewesen sei. An anderem Ort werden die hohen Schulden der USA angeprangert, die bei 70 Prozent des BIP lägen. Dies sind keine schlüssigen Interpretationen, dies ist unstimmige Propaganda und keine Wissenschaft.