Der Turm - Einsamkeit
20.01.2024 um 21:32Sie holen ihn am späten Abend. Die Sonne verschwand schon zwischen den Häuserzeilen im Westen. Wieder sind sie zu fünft. „Wohin gehen wir?“ fragt er. „Ins Freibad. Kannst Du überhaupt schwimmen?“ „Na ja, nicht sehr gut.“ Sie lachen. Durch ein Loch im Zaun schlüpfen sie in das verlassene Bad. Er folgt, nicht wissend, was ihn erwartet. „Siehst Du den Turm? Da kletterst Du rauf und springst. Vom fünf Meter. Zieh dich aus!“ Er gehorcht. Zieht sich aus. Zögert, als er den Bund seiner Unterhose berührt. „Alles ausziehen. Ganz nackt!“ herrscht ihn Ingrid an, stopft seine Klamotten in eine Plastiktüte. Die beiden anwesenden Mädchen deuten auf den Penis des Jungen, der da jetzt nackt vor ihnen steht. Kichern. „Kuck ma, der ist ganz klein vor Angst. Pimmelchen!“ Ingo herrscht den Jungen an: „Und jetzt rauf da. Zack! Spring!“ Die Schritte werden immer verhaltener, kleiner mit jedem Schritt. Das Gras sticht in seine empfindlichen Fußsohlen. Nicht aufgeben, denkt er. Nicht versagen. Kein Feigling sein. Kein Opfer werden. Rauf da! Seine Rechte berührt die erste Sprosse der Leiter. Sie ist kalt. Kaltes, rostiges Eisen. Er wendet den Blick nach oben. Steht klein, nackt und schutzlos vor der scheinbar endlosen Leiter. Es wird dunkler. Mehr tastend als sehend greift er die nächste Sprosse. Zieht sich mehr, als das er steigt, von Sprosse zu Sprosse. Endlos viele. Der Turm ragt vor ihm auf. Die Welt unter ihm wird kleiner, immer kleiner. Je höher er steigt, desto kälter wird es. Weiter! Weiter!! Schließlich ist er oben angekommen, spürt den feuchten Beton unter den Füssen. Es hat angefangen zu nieseln. Spätsommer in Hamburg. Er spürt die abblätternde Farbe rau unter den Füssen. Zögert. Hält sich fest am Geländer. Wird nass. Friert. Hat Angst. Geht weiter. Zu langsam für die da unten. Er kann sie hören, aber nicht mehr sehen. Sieht das Brett, das ins Nichts ragt. Schwach sieht er es im Licht der Laternen an der Straße vor dem Bad. „Nun mach' schon,“ brüllt es von unten. „Wenn du nicht springst, dann hauen wir ab. Nehmen deine Klamotten mit. Dann kannste nackt nach Hause laufen. Also mach hin!“ Schritt um Schritt hinaus auf das Brett. So schmal. So verdammt schmal. Und darunter? Nichts? Wasser? Hat er überhaupt geprüft, ob da noch Wasser im Becken ist? Nein, hat er nicht. Was, wenn sie es wissen? Wenn kein Wasser da ist. Wenn er auf den Beton knallt und zerplatzt. Nirgendwo könnte es jetzt einsamer sein als auf diesem verdammten Turm. Fünf Meter über dem Unbekannten. Ein einsamer, nackter, frierender Junge im zunehmenden Regen, in der Schwärze, zwischen Himmel und Erde. Zwischen Angst und Überwindung. Allein. So allein. Allein mit seiner Angst. Vor der Tiefe. Vor der feixenden Meute da unten. Er geht. Geht weiter. Das Brett wackelt, zittert. Seine Knie wackeln. Er zittert. Angst. Einsamkeit und Angst. So allein. So verdammt allein. Er hat das Ende des Sprungbrettes erreicht. Unter ihm lauert das schwarze Nichts. Um ihn ist das schwarze Nichts. In seinem Kopf ist das schwarze Nichts. Er nimmt allen Mut zusammen. Springt. Fällt mehr, als dass er springt. Fällt ins Nichts. In die Schwärze. In die Tiefe. Die bodenlose Tiefe. Der Fall scheint endlos. Hilflos rudern die Arme. Die Beine gehorchen nicht. Der Kopf schon lange nicht mehr. Der ist nicht mit auf den Turm gekommen. Ein Knall. Kein Platschen. Ein Knall! Ohrenbetäubend. Das schwarze Wasser drängt in Augen, Ohren, Nase. Mach' den Mund zu. atme nicht. Wo ist oben? Wo ist unten? Das Chlorwasser brennt in Augen und Nase. Die Ohren dröhnen. Wo ist oben? Wo ist Luft? Ich ersticke. ich ertrinke, denkt er. Die Welt ist schwarz und schmerzt. Da: Er taucht auf. Hustet. Spuckt. Kotzt Chlorwasser. Reibt die brennenden Augen. Nicht tot. Überlebt. Mehr paddelnd als schwimmend ist der Ausstieg erreicht. Er steigt aus dem Wasser. Klappt zusammen. Möchte heulen – aber das sollen sie nicht sehen. Diesen Triumph gönnt er ihnen nicht. Er hat es geschafft, Hat die Angst überwunden, die Einsamkeit, so allein dort oben auf dem Sprungturm. Er hat überlebt, den Fall, das Wasser. Er ist noch einmal davon gekommen. Sie werfen ihm die Plastiktüte vor die Füße. „Bestanden!“ Zitternd zieht er sich an. Die anderen gehen. Er bleibt im nassen Gras sitzen und weint. Vor Erschöpfung, vor Angst, auch wenn sie überwunden wurde. Diese Einsamkeit, diese Verlorenheit auf dem Turm. Die bleibt. Die geht nicht mehr weg. Das weiß er. Darum weint er.