kuh-physiognomik

1931 veröffentlichte der in Berin lebende Wiener Feuilletonist und Redner mit Prager jüdischen Wurzeln, Anton Kuh, einen Band mit Aussprüchen und Aphorismen. Wie auch seine Zeitungsartikel sind diese mit Andeutungen und Zeitbezügen versehenen Kurztexte manchmal schwierig zu entschlüsseln, da die Angesprochenen einfach nicht mehr allgemein bekannt sind. Kuh erkennt dies auch und spricht es in einem fiktiven Vorwort aus 2030 an, dass es ihm um den Typus gehe ungeachtet der Person, auf die sich ein Text bezieht. Den Zeitgeist des Jahres 1930 analysiert Kuh auf den Punkt gebracht:
Zwei Kulturen lösten einander ab. Der adelige Mensch wich dem gemeinen, der Geist streckte die Waffen, der Plebejer regierte das Zwischenreich.
Als Individualist und Bohème ist ihm Kollektivismus von Rechts wie von Links nicht nur ein Gräuel, sondern auch kaum verständlich, wie in diesen beiden Sprüchen messerschaft dargelegt:
Was ist ein Kollektiv? ... Eine Häufung von Nullen, die auf den Individualismus verzichtet haben, aber auf Namensnennung Wert legen.

Klassenumschichtung: den heroischen Geschichtsprofessor hat der martialische Bureaudiener abgelöst.

Wie kläglich, wenn sich das renommierende Knechttum für Herrentum hält!

Faschismus: der Militarismus der Zivilisten.

Die Dürftigen und Mißgestalten, die jetzt aus Kellerlöchern gekrochen kommen, lassen sich nirgends in einen Wettbewerb mit dem einzelnen ein. Sie rufen zu dessen Bezwingung einen Verein zu Hilfe. Der Verein, wie heißt er? Nation.
Für Kuh ist diese Borniertheit jedoch keine neue Entwicklung des Denkens. Goethes Faust wird nicht zum erhabenen Bürger, sondern er ist bis zum Ende ein plebejischer Zerstörer und Vernichter von Menschenleben, der Vordenker der Planer von Arbeitslagern:
O Faust! - Philosophie, Juristerei, Medizin und leider auch Theologie studiert habendes Urbild des Bürgers, dessen Liebe Zerstörung ist und dessen Werk der Katzenjammer! Der geborstene Seelen braucht, um seinen Kanal zu bauen!
Als belesener Literatur- und Theatermensch spricht er auch die damals neuen Medien Film, Radio und Fotografie an und kommt zu einer Schlussfolgerung, die heutzutage bezüglich unserer "neuen Medien" diskutiert wird: die Scheidung zwischen Wahr und Falsch sowie die Bilderflut.
Film und Radio - zwei Errungenschaften und die gleiche Bestimmung: daß sie, entgegen ihrem Sinn, die Wirklichkeit zu verbreiten, die Unwirklichkeit vermehrt haben.

Warum sind unsere Augen gemein geworden? Weil sie zu viele Photos gesehen haben.
Und Berlin ist ihm nur pars pro toto, ein Beispiel für auch eine heute beobachtete Tendenz, in einer Informationsflut zu ertrinken. Pointiert formuliert Kuh in einem Satz:
In den geistigen Küchen Berlins wird für das Wissen ein Ersatzstoff verwendet: die Informiertheit.
Neben diesen scharfen Beobachtungen zu den gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen zu Beginn der 1930er Jahre finden sich viele Sprüche zu Allgemeinmenschlichem. Zu Charaktertypen, zum Verhältnis zwischen Mann und Frau. Hervorstechend ist ein zweizeiliges Gedicht, das eines der tiefen existenziellen Paradoxa des Menschseins anspricht:

à la Claudius

So kurz die Lebenszeit und solche lange Weile!
Man bangt um jede Stund' und wünscht, daß sie enteile.