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Franz Kafka - Brief an den Vater
15.05.2023 um 16:55Kafka schrieb als 36-Jähriger 1919 einen langen Brief an seinen Vater, den er ihm nie überreichte und der erst 1952 veröffentlicht wurde. Er ist eine Abrechnung mit dessen Charakter und dessen Erziehungsmethoden, die Kafka für ausschlaggebrend hielt, dass er sich als ängstlicher, menschenscheuer, zurückgezogener, kaum arbeitsfähiger und nicht heiratsfähiger Mann entwickelt hat. Sein Vater sei ein selbstgerechter Tyrann gewesen, der von anderen Menschen stets verlangt hat, so auch von seinen Kindern, was er selbst nicht eingehalten hat, und wenn diese seinen Vorstellungen nicht entsprochen hätten, wären jähzornige Schimpftiraden, Drohungen und Vorwürfe die Konsequenz gewesen. Dies sei der Grund, warum Kafka sich nicht nur vom Vater zurückgezogen hätte, was diesem wieder nicht gepasst hätte, sondern das negative Urteilen über Lebensentscheidungen (Berufswahl, Schreiben, die Wahl des literarischen Freundeskreises, die Wahl der Beziehungen) habe ihn entscheidungsunfähig gemacht. Sein Leben sei ein Pendeln zwischen Anpassen-Wollen und kompletter Ablehnung der väterlichen Vorstellungswelt. Von seinem Vater fühlt er sich als Sklave behandelt und als "ein Nichts" gesehen. Seine Erziehungsmittel seien "Schimpfen, Drohen, Ironie, böses Lachen und - merkwürdigerweise - Selbstbeklagung" gewesen.
Dass Kafka diesen Brief nie zugestellt hat, ist durchaus nachvollziehbar. Der Text scheint eher ein Ventil gewesen zu sein, sich mit seinem eigenen Leben und dem Einfluss des "riesenhaften", polternden, lauten, rechthaberischen, tyrannenhaften Vaters auseinanderzusetzen. Und das auf einem zwar reflektierten, aber trotzdem ungeschminkten und sprachlich allerhöchsten Niveau.
Wie sehr sich in seinen höchst metaphorischen Werken das Verhältnis zu seinem Vater spiegelt, ist in diesem Satz zu erkennen:
Mein Schreiben handelte von Dir, ich klagte dort ja nur, was ich an Deiner Brust nicht klagen konnte.Dieser Brief gilt als Beispiels-Klassiker für Freuds Persönlichkeitstheorie: Über-Ich (Vater), Ich (Kafka im Leben), Es (die nicht verwirklichten Lebenswünsche Kafkas).