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Erich Maria Remarque - Im Westen nichts Neues
21.04.2023 um 23:44Dieser 1929 veröffentlichte Roman von Erich Maria Remarque ist durch den aktuellen Filmerfolg wieder in aller Munde und der Ukraine-Krieg holt diese schrecklichen Kriegserlebnisse wieder in die Tagesaktualität Europas.
Remarque schreibt diesen Ich-Roman erstaunlich emotionslos, sachlich, beschreibend, und es gelingt ihm damit, dieses erlebte Grauen noch eindrücklicher zu gestalten. Paul Bäumer zieht mit vielen seiner vermutlich Abiturklasse freiwillig in den Krieg, angestachelt durch patriotisch und kriegslüstern gestimmte Lehrer, die sich schließlich im Landsturm als Memmen zeigen. Von einem Postbeamten namens Himmelstoß während der Ausbildung gequält, ziehen sie an die Front.
Der Roman steigt aber nicht damit ein, die erste Szene zeigt Bäumers Kompanie nach einem Kampfeinsatz beim Essenfassen. Alle freuen sich, dass es eine doppelte Essensration gibt. Warum? Von den 150 Männern der Kompanie kommen nur mehr 80 zurück. Der Rest ist tot oder vewundet. Und immer wieder wird auf das Thema der Abgestumpftheit, die Redukton des Lebens auf das Primitivste, die Verabschiedung von Zivilisation und Kultur, die Tierwerdung des Menschen hingewiesen, was im Feld notwendig ist, um zu überleben. Die Friedenswerte zählen nicht mehr.
Beinahe distanziert werden die Kampfeinsätze in ihrer Brutalität beschrieben und geschildert, das unfassbare Schicksal der Sterbenden und Verwundeten wird durch eine Emotionslosigkeit in seiner Unbegreiflichkeit geschildert. Bauchschüsse, Amputationen, Operationen ohne Narkose, aber auch medizinische Experimente (Plattfußoperationen, um Männer wieder tauglich zu machen, enden meist in Klumpfüßen). Bei einem Heimaturlaub ist Bäumer nicht in der Lage, zu schildern, wie es an der Front zugeht. Die Familie hungert, die Mutter hat Krebs, alles Geld geht in ihre Behandlung, Bäumer muss wieder zurück an die Front.
Menschliche Beziehungen gibt es zu den engsten Kameraden in der Kompanie. Da wird schon mal eine Woche lang bei der Bewachung eines evakuierten Dorfes der Offiziersproviant der abgerückten alliierten Armee geplündert, und als die gelichtete Kompanie hinter der Front auf Auffüllung wartet, wird mit Brot und Würsten über einen Kanal zu hungernden französischen Mädchen geschwommen, die sich den jungen Deutschen für Essen willfährig zeigen.
Gegen Kriegsende knipst nicht nur der Zufall einen nach dem anderen aus, sondern eine besser ausgestattet, besser verpflegte alliierte Armee aus Franzosen, Briten und Amerikanern überrollt die nichts mehr gegenhalten könnenden deutschen Besatzungstruppen mit schierer Übermacht. Und sie haben Tanks, neue Geschütze, Flugzeuge. Es wird der Kriegsgewinnler gedacht: der Unmengen Profit einfahrenden deutschen Kriegsindustrie, die am Ende nichts mehr liefert. Die Geschütze der deutschen Armee sind ausgemergelt.
Mehrfach wird die Sinnlosigkeit des Krieges im Roman angeprangert. Dass letztlich vielleicht 30 Leute darüber entscheiden, dass Millionen von Männern sich gegenseitig töten. Und diese 30 ziehen nie in den Kampf. Es stehen sich Menschen einander gegenüber, die sich nicht kennen, die nie Verbindung zueinander hatten. Als Bäumer in einem Trichter einen französischen Soldaten ersticht, der im gleichen Trichter Schutz sucht, verzweifelt er. Er nimmt dessen Brieftasche und sieht die Fotos der Familie und dass er im Zivilberuf Drucker ist. Dies ist die einzige Stelle, an der Remarque so etwas wie einen Gefühlsausbruch zulässt.
Bäumer hofft, dass nach Ende des Krieges die durch den Krieg vergeudete, die "zerstörte" Generation die alten Entscheider zur Verantwortung ziehen werden. Doch dann greift der Erzähler zum ersten und letzten Mal ein. Paul Bäumer fällt im Oktober 1918 an einem Tag ohne viel Kriegshandlung. Im Militärbericht steht für diesen Tag: "Im Westen nichts Neues".
Ein Abschnitt über junge Rekruten, die an die Front geschickt werden, ist bemerkenswert aktuell, wenn man sich die Berichte über die jungen Männer, die Russland im Augenblick in den Krieg schickt, vor Augen führt. Junge Rekruten haben laut Remarque eine Sterbequote, die fünf bis zehnmal höher ist als diejenige der fronterfahrenen Soldaten. Hier der Textauszug:
Obschon wir notwendig Verstärkung brauchen, haben wir fast mehr Arbeit mit den Rekruten, als daß sie uns nützen. Sie sind hilflos in diesem schweren Angriffsgebiet und fallen wie die Fliegen. Der Stellungskampf von heute erfordert Kenntnisse und Erfahrungen, man muß Verständnis für das Gelände haben, man muß die Geschosse, ihre Geräusche und Wirkungen im Ohr haben, man muß vorausbestimmen können, wo sie einbauen, wie sie streuen und wie man sich schützt.Absolut lesenswert.
Dieser junge Ersatz weiß natürlich von alledem noch fast gar nichts. Er wird aufgerieben, weil er kaum ein Schrapnell von einer Granate unterscheiden kann, die Leute werden weggemäht, weil sie angstvoll auf das Heulen der ungefährlichen großen, weit hinten einhauenden Kohlenkästen lauschen und das pfeifende, leise Surren der flach zerspritzenden kleinen Biester überhören. Wie die Schafe drängen sie sich zusammen, anstatt auseinanderzulaufen, und selbst die Verwundeten werden noch wie Hasen von den Fliegern abgeknallt.
Die blassen Steckrübengesichter, die armselig gekrallten Hände, die jammervolle Tapferkeit dieser armen Hunde, die trotzdem vorgehen und angreifen, dieser braven, armen Hunde, die so verschüchtert sind, daß sie nicht laut zu schreien wagen und mit zerrissenen Brüsten und Bäuchen und Armen und Beinen leise nach ihrer Mutter wimmern und gleich aufhören, wenn man sie ansieht!
Ihre toten, flaumigen, spitzen Gesichter haben die entsetzliche Ausdruckslosigkeit gestorbener Kinder.