Wilde-Gray

1890 ist dieser Roman von Oscar Wilde erschienen und gilt als einer der ganz großen des Fin de Siècle, der abschätzig als Dekadenzepoche des ausgehenden 19. Jahrhunderts bezeichneten Literatur und Kunst.

Wilde zertrümmert die englische Oberschicht, die er als Ire in Oxford und London kennengelernt hat, am Beispiel seiner Hauptfigur Dorian Gray, eines reichen jungen Schönlings, der unter den Einfluss des Hedonisten und Soziopathen Lord Henry Wotton gerät und sein Leben danach ausrichtet. Lord Henry lernt er als Jüngling im Atelier des Malers Basil Hallward kennen, der - von Grays Schönheit angezogen - ein Porträt von ihm malt. Dieses Bild nimmt Gray zu sich nach Hause, und nachdem er eine junge Schauspielerin, der er die Ehe verspricht, nach einem schlechten Auftritt verlässt und diese sich das Leben nimmt, bemerkt er, dass das Bild grausame Züge annimmt. Gray erinnert sich daran, dass er nach Vollendung des Bilds den Wunsch geäußert hat, das Bild möge altern und er selbst für immer sein jugendliches Äußeres behalten. So ist es auch.

In vielen Oberschichtgesprächen erfahren wir, dass Gray während der nächsten 20 Jahre ein ausschweifendes Leben führt, das nur sein narzisstisches Ego befriedigen will, während er das Bild im Dachboden wegsperrt. Männerfreundschaften zerbrechen, Frauen werden ins Unglück gestürzt, er selbst gibt sich dem Opiumrausch hin, ohne dass sein Äußeres altert, was ihm auch das Leben rettet, als der Bruder der Schauspielerin ihren Tod 18 Jahre später rächen will, aber mit dem Gesicht eines 20-Jährigen nichts anfangen kann. Er denkt, sich geirrt zu haben.

Sein Bild jedoch wird immer mehr zur Fratze, und als er eines Tages Hallward zu sich holt und ihm das Bild zeigt, ermordet er ihn und lässt die Leiche nach einer Erpressung von einem ehemaligen, naturwissenschaftlich gebildeten Freund in Salpetersäure auflösen. Der Freund wird sich das Leben nehmen.

Grays Leben endet nach einem Jagdunfall, der Bruder der Schauspielerin wird versehentlich erschossen, und nach einem langen Gespräch mit Lord Henry, als er mit einem Messer das Bild zerstören will. Seine Diener finden Grays Leiche vor einem Bild, das ihn in seiner jugendlichen Schönheit zeigt, während Grays Gesicht welk, zerfurcht und hässlich ist.

Wilde zerlegt mit Gray den Hedonismus der Oberschicht (vielleicht auch seinen eigenen), einer Schicht, die er "Faulenzerklasse" nennt. Auch wenn das Äußere schön und edel erscheint, die Seele wird durch extremen Egoismus, der andere Menschen nicht wahrnimmt und verachtet, zerfressen.

Wer Action erwartet, ist sicherlich enttäuscht, die Ausschweifungen Grays werden in vielen Gesprächen nur angedeutet, womit das Lesen sich durchaus dahinzieht, da so richtig sich nicht erschließt, worin Grays Vergehen liegen. Der Mord am Maler kommt ziemlich unvermittelt, wonach Wilde jedoch sehr zügig den Roman einem Ende zuführt. Das Anrüchige, das dem Roman zum Zeitpunkt seiner Erstveröffentlichung anhaftete, liegt wohl eher darin, dass die Leserschaft sich Grays Handeln in ihrer Fantasie ausschmücken konnte.