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Englands Alleinschuld am Bombenterror (Eher-Verlag 1943)
16.06.2022 um 00:12Es ist immer wieder faszinierend, ein eigentümliches Buch ausgraben zu können. Diesmal ist es ein 1943 veröffentlichter Dokumentenband des NS-Verlags Eher aus dem Jahr 1943. Autoren werden nicht genannt.
Der Aufbau: Eine relativ kurze Einleitung mit Dokumenten zum Thema Bombenkrieg. Ich habe einige Stichproben der Dokumente durchgeführt, und das Ergebnis ist: Ja, sie sind echt und kein Fake. Nächste Frage: Ist die Auswahl ausgewogen oder manipulativ selektiert? Die Antwort fällt letztlich eindeutig aus: Nein, die Auswahl ist kaum ausgewogen (die Dokumente sind gekürzt und kommentiert, Kommentare sind im graphischen Bild kaum von den Dokumenten zu unterscheiden) und eine manipulative Intention kann nicht nur in der Auswahl, sondern auch in den Beiträgen attestiert werden. Warum?
Grundthese ist, die NS-Regierung habe sich international durchgehend für ein Verbot von Luftbombardierungen ausgesprochen. Alleine diese These wird im Dokumentationsteil relativiert. Deutschland hat sich international für ein komplettes Verbot von Bombardierungen ausgesprochen, aber das war 1932. England hat das abgelehnt, das ist korrekt. Die englischen Argumente sind manchmal skurril, manchmal überzeugend. Letztlich scheiterte der Vorschlag an der Undurchführbarkeit irgendwelcher Rüstungskontrollen, aber auch an der Nichtbereitschaft, sich selbst zu entwaffnen, ohne die Möglichkeit zu haben, wirklich zu kontrollieren, dass andere Staaten nicht doch an einer Luftwaffe arbeiten.
Was war die Position des NS-Staates, der ja behauptet, diese Position zu vertreten? Dies stimmt nicht, was auch an den Dokumenten zu erkennen ist. Die Position des NS-Staates und von Hitler dreht sich um Bombardierungsbeschränkungen, und der Kernbegriff ist die "offene Stadt". Nur hat dieser zwei Bedeutungen: Einerseits ist dies eine Stadt, die sich gegen eine Eroberung nicht wehrt (Kriegsrecht) und andererseits meint er eine unbefestigte Stadt (Alltagsgebrauch).
Aus den genannten Beispielen, dass Deutschland nie eine offene Stadt bombardiert hätte, geht eindeutig hervor, dass damit Städte gemeint sind, die sich dem Überfall des deutschen Militärs bedingungslos hätten ergeben sollen. Die Bombardierungen von Warschau und Rotterdam werden damit rechtfertigt, dass diese Städte Abwehrsysteme errichtet haben, um eine Einnahme durch deutsche Truppen zu verhindern. Sie wurden als "Festungen" und somit zu legitimen Bombenzielen erklärt.
Umgekehrt wird moniert, dass England und die USA "offene Städte" in Deutschland bombardierten. Damit sind unbefestigte Städte gemeint. Im kriegsrechtlichen Sinne waren sie nicht offen. Diese Städte haben sich ja nicht ergeben und sich den Alliierten übergeben wollen. Damit ist der Vergleich, der gezogen wird, schlichtweg nicht gültig. Er ist ein Mimimi: Wir als Aggressoren dürfen, ihr nicht.
Was von deutscher Seite permanent durchgezogen wird, ist die Täter-Opfer-Umkehr. Dass Deutschland einen Angriffskrieg führt, wird schlichtweg nicht erwähnt. Im Gegenteil: Der Krieg war Deutschland aufgezwungen. Von Polen wie von Großbritannien (je nachdem, über welchen der beiden Staaten gerade die Rede ist). Und wenn allgemein über ihn geschriebe wird, ist er "ausgebrochen" wie ein Vulkan oder ein Gefangener.
Das Fazit: Aggressoren sehen sich nicht als solche, sondern im Recht. So wird der Widerstand der Polen mehrfach als "wahnwitzig" bezeichnet, da sie ja eh keine Chance hätten (Deutschland überfiel Polen mit 1,6 Millionen Soldaten, das ist etwa das Zehnfache der Anzahl, mit der Russland heuer die Ukraine überfiel). Auch ist interessant zu sehen, dass die Aggressoren sich nicht nur im Recht sehen (sie verteidigen sich ja schließlich), sondern den Widerstand als verrückt erklären. Damit eröffnet dieser Band möglicherweise Sichtweisen in Gehirne von Aggressoren heutzutage. Und das macht Angst. Es ist ein beinahe autistischer Tunnelblick, der Realitäten nicht mehr erkennt.
Dass mit solchen Schlussfolgerungen die NSDAP ihre Ansicht vom Ende des Ersten Weltkriegs pervertiert, wird nicht erkannt. Die Kapitulation Deutschlands machte den Staat zu einem offenen Staat. Einen Kampf auf deutschem Boden lehnte Hindenburg ab. Ein Widerstand wäre - nach der Diktion dieses Buches - "wahnwitzig" gewesen. Nur: Hitler und die NSDAP lehnten Kapitulationen grundsätzlich ab, sie wollten bis zum "letzten Mann" kämpfen. Dass Polen dies vielleicht genauso gesehen hat, wird zurückgewiesen. Widerstand heißt Recht darauf, Nichtkombattanten nicht mehr zu schonen. Aber das gilt nicht für den Gegner.