Manfred Aigner - NS-Herrschaft in Österreich
26.05.2022 um 11:33Manfred Aigner war als Historiker und Politikwissenschafter in der österreichischen Lehrerbildung tätig, und dies ist ein sechzigseitiges Manuskript einer Vorlesungsreihe, die er 2001/02 an der Pädagogischen Akademie in Linz (Oberösterreich) gehalten hat, und es war vor 20 Jahren online (ich weiß nicht mehr, wo - nun ist es im Internet nicht mehr auffindbar).
Wertvoll ist dieses Manuskript, da es auf der damaligen aktuellen Forschungsliteratur beruht und neben dem Bekannten auch interessante Informationen bietet.
Dass bereits vor dem Einmarsch deutscher Truppen am 13. März 1938 in Landeshauptstädten wie Linz geputscht wurde, ist bekannt, immerhin war ja mit Seyss-Inquart bereits ein Nationalsozialist Innenminister. Auch dass Hitler durch den begeisterten Empfang während seiner Fahrt von Passau über Linz nach Wien zu einer sofortigen Eingliederung Österreichs ins Deutsche Reich überzeugt wurde, ist bekannt. Doch wie hoch war die Anhängerzahl? Es wird geschätzt, dass jeweils 35 % der Bevölkerung für bzw. gegen eine NS-Herrschaft waren, die restlichen 30 % seien unpolitisch gewesen, die aber zu einem Gutteil zumindest in der Anfangszeit als Sympathisanten gewonnen werden konnten, vor allem auch wegen der verstärkten Industrialisierung, da Österreich in das Rüstungsprogramm einbezogen wurde, womit sich die hohe Arbeitslosenzahl drastisch reduzierte. Mit Sozialprogrammen wurde versucht, die in Österreich starke sozialdemokratische Arbeiterschaft zu gewinnen. So wird geschätzt, dass ein Drittel der Mitglieder des Republikanischen Schutzbunds (paramilitärische Organisation der Sozialdemokraten) zur NSDAP wechselten.
Die Industrialisierung wurde im Krieg fortgesetzt, nur dass wegen der Rekrutierungen etwa ein Drittel der Arbeitsplätze mit „Fremd“- und Zwangsarbeitern belegt wurde. Auch der Frauenanteil in der Industrie stieg. Zwangsarbeiter wurden auch in einem hohen Maß in der Landwirtschaft eingesetzt, dazu kamen sowjetische Kriegsgefangene, deren Mortalitätsrate mit über 50 Prozent extrem hoch war.
Interessant im Zusammenhang der Industrialisierung war die Reaktion der Bundesrepublik Deutschland 1955 auf die Bestätigung der Verstaatlichung „deutschen Eigentums“ durch den Staatsvertrag mit den Alliierten: Der deutsche Botschafter wurde abgezogen. Erst 1957 konnte der Konflikt in einem Vermögensvertrag zwischen Österreich und der Bundesrepublik beigelegt werden.
Was ist mit den Gegnern? Bekannt ist, dass in den ersten Tagen der NS-Herrschaft etwa 50.000 Menschen verhaftet, interniert und zum Teil ins KZ Dachau verschleppt wurden. Von den etwa 190.000 Juden wurden 180.000 vertrieben oder ermordet, dazu kamen 25.000 Menschen, die sich selbst nicht als Juden sahen, aber durch die Nürnberger Rassengesetze zu solchen gemacht wurden. Etwa die Hälfte der österreichischen Juden scheint den Massenmorden entkommen zu sein. Im Mai 1939 lebten noch 95.000 Juden (davon 82.000 bekennende) in der „Ostmark“, zu Kriegsbeginn 66.000. Zu Kriegsende lebten noch 8.000 Juden auf österreichischem Gebiet, meist in „Mischehen“, womit sie kriegsverlaufsbedingt einer Deportation in ein Lager entkommen konnten. Etwa die Hälfte der in Österreich lebenden Roma wurden interniert, von denen ein großer Teil in Vernichtungslagern ermordet wurde.
Die Nachkriegslage war also vertrackt. Die Sozialdemokraten bemühten sich, die ins Lager der NSDAP abgedrifteten Ehemaligen zurückzuwerben, war also nicht an zu großen Repressalien interessiert, wenn keine persönlichen Verbrechen nachgewiesen werden konnten (eine Debatte, die bis zur Waldheimaffäre in den 1980er Jahren nachwirkte). Auch eine Remigratrion der Geflohenen wurde nicht offensiv betrieben, viele blieben in ihren Fluchtländern. Die Anzahl der bekennenden Juden in Österreich änderte sich bis heute nicht im Vergleich zu 1945: etwa 8.000. Ferner förderte die SPÖ aktiv die Bildung einer Partei des dritten Lagers mit ehemaligen Nationalsozialisten (1949 den Verband der Unabhängigen und 1955 die Freiheitliche Partei). Mit eine Rolle spielte sicherlich, dass die Sozialdemokraten Österreich als Teil Deutschlands sahen. Das war schon nach dem Ersten Weltkrieg so, das erste Gesetz nach dem Krieg definierte Österreich als Teil Deutschlands, der sozialdemokratische Außenstaatssekretär Otto Bauer verhandelte in Deutschland mit dem Außenminister Deutschlands um einen Anschluss. Dieser wurde durch die Verträge von Versaille und Saint Germain verunmöglicht und ein Verbleib bei Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg war keine Option. Unsäglich in Erinnerung ist ein Interview eines der Staatsgründer der Ersten Republik vom 3. April 1938 im Neuen Wiener Tagblatt, in dem er aussagt, bei der Anschluss-Volksabstimmung mit Ja stimmen zu wollen (Faksimile im DÖW-Archiv). Dies ermöglichte ihm, unbehelligt die NS-Herrschaft zu überleben, und es war Renner, der Stalin kontaktierte, um eine neue Regierung nach der Vertreibung der Nationalsozialisten zu gründen, wie es dann auch geschah.
Interessant übrigens eine Aussage Aigners zur österreichischen Neutralität, die am 26. Oktober 1955 als Verfassungsgesetz verabschiedet wurde (Teil des Deals bei den Staatsvertragsverhandlungen). Eine Aufhebung der Neutralität und ein Beitritt Österreichs zur NATO müsse außenpolitisch nicht genehmigt werden. Die Begründung ist wohl, dass Österreich sich in keinem völkerrechtlichen Vertrag zur Neutralität bzw. Paktfreiheit verpflichtet hat.
Wertvoll ist dieses Manuskript, da es auf der damaligen aktuellen Forschungsliteratur beruht und neben dem Bekannten auch interessante Informationen bietet.
Dass bereits vor dem Einmarsch deutscher Truppen am 13. März 1938 in Landeshauptstädten wie Linz geputscht wurde, ist bekannt, immerhin war ja mit Seyss-Inquart bereits ein Nationalsozialist Innenminister. Auch dass Hitler durch den begeisterten Empfang während seiner Fahrt von Passau über Linz nach Wien zu einer sofortigen Eingliederung Österreichs ins Deutsche Reich überzeugt wurde, ist bekannt. Doch wie hoch war die Anhängerzahl? Es wird geschätzt, dass jeweils 35 % der Bevölkerung für bzw. gegen eine NS-Herrschaft waren, die restlichen 30 % seien unpolitisch gewesen, die aber zu einem Gutteil zumindest in der Anfangszeit als Sympathisanten gewonnen werden konnten, vor allem auch wegen der verstärkten Industrialisierung, da Österreich in das Rüstungsprogramm einbezogen wurde, womit sich die hohe Arbeitslosenzahl drastisch reduzierte. Mit Sozialprogrammen wurde versucht, die in Österreich starke sozialdemokratische Arbeiterschaft zu gewinnen. So wird geschätzt, dass ein Drittel der Mitglieder des Republikanischen Schutzbunds (paramilitärische Organisation der Sozialdemokraten) zur NSDAP wechselten.
Die Industrialisierung wurde im Krieg fortgesetzt, nur dass wegen der Rekrutierungen etwa ein Drittel der Arbeitsplätze mit „Fremd“- und Zwangsarbeitern belegt wurde. Auch der Frauenanteil in der Industrie stieg. Zwangsarbeiter wurden auch in einem hohen Maß in der Landwirtschaft eingesetzt, dazu kamen sowjetische Kriegsgefangene, deren Mortalitätsrate mit über 50 Prozent extrem hoch war.
Interessant im Zusammenhang der Industrialisierung war die Reaktion der Bundesrepublik Deutschland 1955 auf die Bestätigung der Verstaatlichung „deutschen Eigentums“ durch den Staatsvertrag mit den Alliierten: Der deutsche Botschafter wurde abgezogen. Erst 1957 konnte der Konflikt in einem Vermögensvertrag zwischen Österreich und der Bundesrepublik beigelegt werden.
Was ist mit den Gegnern? Bekannt ist, dass in den ersten Tagen der NS-Herrschaft etwa 50.000 Menschen verhaftet, interniert und zum Teil ins KZ Dachau verschleppt wurden. Von den etwa 190.000 Juden wurden 180.000 vertrieben oder ermordet, dazu kamen 25.000 Menschen, die sich selbst nicht als Juden sahen, aber durch die Nürnberger Rassengesetze zu solchen gemacht wurden. Etwa die Hälfte der österreichischen Juden scheint den Massenmorden entkommen zu sein. Im Mai 1939 lebten noch 95.000 Juden (davon 82.000 bekennende) in der „Ostmark“, zu Kriegsbeginn 66.000. Zu Kriegsende lebten noch 8.000 Juden auf österreichischem Gebiet, meist in „Mischehen“, womit sie kriegsverlaufsbedingt einer Deportation in ein Lager entkommen konnten. Etwa die Hälfte der in Österreich lebenden Roma wurden interniert, von denen ein großer Teil in Vernichtungslagern ermordet wurde.
Die Nachkriegslage war also vertrackt. Die Sozialdemokraten bemühten sich, die ins Lager der NSDAP abgedrifteten Ehemaligen zurückzuwerben, war also nicht an zu großen Repressalien interessiert, wenn keine persönlichen Verbrechen nachgewiesen werden konnten (eine Debatte, die bis zur Waldheimaffäre in den 1980er Jahren nachwirkte). Auch eine Remigratrion der Geflohenen wurde nicht offensiv betrieben, viele blieben in ihren Fluchtländern. Die Anzahl der bekennenden Juden in Österreich änderte sich bis heute nicht im Vergleich zu 1945: etwa 8.000. Ferner förderte die SPÖ aktiv die Bildung einer Partei des dritten Lagers mit ehemaligen Nationalsozialisten (1949 den Verband der Unabhängigen und 1955 die Freiheitliche Partei). Mit eine Rolle spielte sicherlich, dass die Sozialdemokraten Österreich als Teil Deutschlands sahen. Das war schon nach dem Ersten Weltkrieg so, das erste Gesetz nach dem Krieg definierte Österreich als Teil Deutschlands, der sozialdemokratische Außenstaatssekretär Otto Bauer verhandelte in Deutschland mit dem Außenminister Deutschlands um einen Anschluss. Dieser wurde durch die Verträge von Versaille und Saint Germain verunmöglicht und ein Verbleib bei Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg war keine Option. Unsäglich in Erinnerung ist ein Interview eines der Staatsgründer der Ersten Republik vom 3. April 1938 im Neuen Wiener Tagblatt, in dem er aussagt, bei der Anschluss-Volksabstimmung mit Ja stimmen zu wollen (Faksimile im DÖW-Archiv). Dies ermöglichte ihm, unbehelligt die NS-Herrschaft zu überleben, und es war Renner, der Stalin kontaktierte, um eine neue Regierung nach der Vertreibung der Nationalsozialisten zu gründen, wie es dann auch geschah.
Interessant übrigens eine Aussage Aigners zur österreichischen Neutralität, die am 26. Oktober 1955 als Verfassungsgesetz verabschiedet wurde (Teil des Deals bei den Staatsvertragsverhandlungen). Eine Aufhebung der Neutralität und ein Beitritt Österreichs zur NATO müsse außenpolitisch nicht genehmigt werden. Die Begründung ist wohl, dass Österreich sich in keinem völkerrechtlichen Vertrag zur Neutralität bzw. Paktfreiheit verpflichtet hat.