Ahmet Altan - Ich werde die Welt nie wieder sehen
26.06.2021 um 00:33Der türkische Schriftsteller und Kolumnist Ahmet Altan wurde gemeinsam mit seinem Bruder knapp nach dem Putschversuch von 2016 wegen Verdachts "unterschwelliger Botschaften" bei einer Fernsehsendung am Tag vor dem Putschversuch verhaftet. In diesem in Haft verfassten Text schildert er seine Haftsituation, aus der er zum Zeitpunkt der Veröffentlichung wegen eines lebenslangen Urteils keinen Ausweg mehr gesehen hat.
Chronologisch berichtet er ab dem Tag seiner Verhaftung zunächst über die Inhaftierung in einem Istanbuler Untersuchungsgefängnis unter schrecklichen Umständen: Eingepfercht in eine unterirdische Zelle mit Marineoffizieren (ein ganzer Jahrgang wird verhaftet) und einem jungen, streng gläubigen Dorflehrer aus dem kurdischen Osten, der von seiner Zeit schwärmt, in der er in dem Dorf in einer Abstellkammer der Moschee hauste, und der niemanden verraten will.
Nach zwölf Tagen wird Altan zunächst freigelassen, aber nach einigen Tagen wieder inhaftiert, diesmal im Hochsicherheitsgefängnis von Silivri (70 km außerhalb Istanbuls). Nach einer neuerlichen kurzen Freilassung, wird er schließlich zu lebenslanger Haft verurteilt.
Dieser im Gefängnis entstandene Text reflektiert nicht nur die Haftbedingungen (gefoltert wurde er nach seinen Angaben nicht, aber der Kontakt zu seiner Familie bzw. zu Anwälten war sehr beschränkt), sondern auch seine Gedanken. Immer wieder kehrt er zum Thema des Schreibens zurück, aber auch zu seinen Lesefrüchten. So schlussfolgert er auf die Maxime des Philosphen Zenon, dass ein bewegter Gegenstand weder im Hier noch im Dort sei, dass auch er in einem Nichtzustand ist. Der Körper ist gefangen, aber sein Geist versucht frei zu sein. Bis ins Detail und den Wortlaut erinnert Altan sich an Lektürestellen, in denen ein Mensch es schafft, unbehelligt von seiner Lebenssituation seinen freien Geist zu bewahren. Seine Bilderwelt geht zurück bis Caesar, als er um die gallische Festung einen Schutzwall errichten hat lassen, dass auch ein Entsatzheer keine Möglichkeit mehr hat, seine Eroberung zunichte zu machen. So will er sich selbst geschützt sehen. Denn er erwartet als 68-Jähriger mit einer lebenslänglichen Strafe kein Leben mehr in Freiheit, er sieht sich in der Zelle sterben.
Dieses Buch gibt sehr tiefe Einblicke in die Reaktion Erdogans auf den Putschversuch. Altan ist mit einer fadenscheinigen Anklage, die zunächst nicht hält, schließlich zu einer lebenslänglichen Strafe verurteilt worden. Eine „unterschwellige Botschaft“ im Fernsehen durch ihn und seinen Bruder ist nie nachgewiesen worden. Die zweite Ebene ist die Gedankenwelt eines Menschen, der aus dem Leben gerissen wird und zu einer lebenslangen Haft verurteilt wird, ohne eine Tat begangen zu haben.
2018 wurde sein Bruder freigelassen, und im April 2021 schließlich Ahmet Altan selbst. Der türkische Staat ist nicht in der Lage, das Leben von Menschen willkürlich gänzlich zu vernichten.