Kehlmann-Tyll

Ein schwer zu fassendes Buch, bei dem sich immer wieder die Frage stellt: WHY? Nichts passt zusammen, es ist postmodern zusammengewürfelt, dennoch geschrieben, dass man es fast nicht weglegen kann. Doch wo ist er, der rote Faden? Eine mögliche Identifizierung mit Figuren ist es nicht. Sie kommen einem nahe, aber allen haftet etwas abstoßend Zynisches an.

Doch vielleicht ist genau das der rote Faden in diesem Buch, das seine stärksten Passagen in der Darstellung der Armut der Bauern und des Grauen des Dreißigjährigen Krieges hat.

Da ist der wissensdurstige Vater von Tyll, ein Müller, der wegen Hexerei hingerichtet wird.

Da ist die Reise des dicken Martin von Wolkenstein von Wien ins Kloster Andechs, um Tyll an den kaiserlichen Hof zu holen. Ab dem Innviertel sehen sie abgeholzte Wälder, und je weiter sie nach Westen ziehen, desto bedrückender wird die vom Krieg verwüstete Landschaft:
Um sie herum waren Baumstümpfe, Hunderte davon, hier war ein ganzer Wald abgeholzt worden. Sie kamen durch ein bis auf die Grundmauern niedergebranntes Dorf, und da sahen sie einen Leichenhaufen. Der dicke Graf wandte den Blick ab und sah dann doch hin. Er sah geschwärzte Gesichter, einen Rumpf mit nur einem Arm, eine zur Klaue gekrampfte Hand, zwei leere Augenhöhlen über einem offenen Mund und dort etwas, das wie ein Sack aussah, aber der Überrest eines Leibes war. Ein beißender Geruch hing in der Luft.
Da ist der Besuch Friedrichs von der Pfalz im Winterlager von Gustav Adolf. Die Beschreibung des Wegs durch das Lager:
Und dann hatte er sie durch die äußeren Kreise des Lagers in die inneren geführt. Während der Gestank, der doch schon derart pestilenzhaft gewesen war, dass man hätte glauben mögen, er könne nicht noch stärker werden, immer stärker wurde, kamen sie an den Planwagen des Trosses vorbei: Deichseln ragten in die Luft, kranke Pferde lagen auf dem Boden, Kinder spielten im Dreck, Frauen stillten Säuglinge oder wuschen Kleider in Zubern mit braunem Wasser. Das waren die käuflichen Soldatenbräute, aber es waren auch die Ehefrauen, mit denen so mancher Söldner reiste. Wer eine Familie hatte, brachte sie mit in den Krieg, wo sonst hätte sie bleiben sollen?

Da sah der König etwas Grausiges. Er blickte darauf, erkannte es erst nicht, es widersetzte sich gleichsam, aber wenn man länger darauf blickte, ordnete es sich, und man verstand. Schnell blickte er woandershin. Neben sich hörte er Graf Hudenitz stöhnen.

Es waren tote Kinder. Wohl keines älter als fünf, die meisten noch kein Jahr alt. Da lagen sie aufgehäuft und verfärbt, blonde, braune und rote Haare, und wenn man genau hinsah, stand manches Augenpaar offen, vierzig oder mehr, und die Luft dunkel von Fliegen.
Es ist das immer wieder aufblitzende Grauen, das die Frage stellen lässt: Was will Kehlmann?

Ein Charakterzug lässt sich an allen Hauptfiguren dieses nicht chronologisch geordneten Romans erkennen: Sie alle entscheiden spontan und Ich-süchtig.

Friedrich von der Pfalz: Er nimmt die böhmische Krone an, weil er König sein will.
Gustav Adolf: Er entscheidet, ohne nachzudenken, in den Krieg zu ziehen und handelt grausamst.

Und Tyll? Sein Leben als Gaukler ist eine Kette an Spontanentscheidungen. Die Flucht mit einem Bänkelsänger aus dem Heimatort, die Entscheidung diesen zu verlassen und mit dem Gaukler Pirmin zu ziehen, um zu lernen, und diesen zu ermorden, weil er hartherzig und grausam ist. Da sind die zynischen Spiele mit seinem Publikum (erstes Kapitel mit den Schuhen, die er ausziehen lässt, und um die beim Einsammeln die Dorfbewohner sich gegenseitig metzeln). Das ist keine positive Figur.

Es bleibt Liz, Elizabeth von Stuart, die Gattin Friedrichs von der Pfalz, die verzweifelt ihre Königswürde (obwohl sie als Winterkönigin ausgelacht wird) auch im Exil zu wahren versucht. Am Ende ist sie in Osnabrück, um für ihren Sohn die Kurfürstenwürde zu retten, und trifft auf einen alternden Tyll, ihren ehemaligen Hofnarren, der mit Dolchen jongliert. Sie bietet ihm einen Alterssitz in England an, Tyll lehnt ab, er will kein "Gnadenbrot". Liz geht auf die abendliche Straße und fängt mit ihrem Mund die fallenden Schneeflocken. Wie ein Kind.

Ist es ein Spiegel, den Kehlmann vorhalten will? Eine außer Rand und Band geratene zynische Ich-Zuerst-Gesellschaft, die nur eines zustandebringt: Verderben und Grauen?

Die Kritik hat den Roman überwiegend positiv aufgenommen:
ZEIT, FAZ, Der Standard, Deutschlandfunk, Literarischer Monat