Mojca Kumerdej - Chronos erntet
25.10.2020 um 21:18Original anzeigen (0,2 MB)
Die slowenische Philosophin und Kultursoziologin Kumerdej hat mit diesem Roman, der 2016 auf Slowenisch erschien und 2019 in deutscher Ăbersetzung von Erwin Köstler veröffentlicht wurde, ein wenig beachtetes postmodernes Meisterwerk geschrieben. Es spielt um die Jahrhundertwende des 16. und 17. Jahrhunderts, als Innerösterreich von Graz ausgehend rekatholisiert wurde.
Ausgehend von einem nach einer Massenvergewaltigung schwangeren BauernmĂ€dchen, das zuhause von einer TeufelsverfĂŒhrung erzĂ€hlt und von ihrem Vater verdroschen und rausgeschmissen wird, beginnt ein slowenisches Panoptikum, in dessen Zentrum ein pĂ€dophiler katholischer FĂŒrstbischof namens Wolfgang und dessen grĂ€flicher, mit den Lutherischen sympathisierende Jugendfreund Friedrich stehen. Der FĂŒrstbischof drĂ€ngt ihn unter Erpressung zum Abhalten eines Hexenprozesses, der auch durchgezogen wird, wobei das BauernmĂ€dchen eine Show abzieht, die ihr das Leben rettet, weil es ihr gelingt, den Hauptvergewaltiger, einen brutalen Schmied, glaubwĂŒrdig des Teufelsbundes zu bezichtigen.
Egal von welcher Perspektive aus geschrieben (vieles ist aus Figurenperspektive, manches von einem auktorialen ErzĂ€hler, der philosophierend bis zum Cern vorausschaut), der Schreibduktus ist nĂŒchtern, beschreibend, nie emotional geladen. Die nĂŒchterne Logik des FĂŒrstbischof, warum ein Hexenprozess zur Machterhaltung nötig ist, wird von Kumerdejs Schreibstil gespiegelt. Folter und Hinrichtung waren keine Racheakte, sondern eine Notwendigkeit zum Machterhalt. Damit wird nicht nur das spĂ€te 16. Jahrhundert reflektiert, was hier zu lesen ist, gilt auch fĂŒr Diktaturen bis in unsere Zeit.
Durchgehend wird im Roman immer wieder die Frage reflektiert, was RealitĂ€t ĂŒberhaupt ist. Gipfelpunkt ist die Geschichte des reichen Bauern KostanĆĄek, der sieben groĂgewachsene, schweigsame, teuflisch wirkende Helfer aus dem Kaukasus engagiert, dessen verwachsene, krĂ€nkliche Tochter parallel zu einer blĂŒhenden Landwirtschaft eine Schönheit wird und deswegen als Hexe gefoltert und zum Scheiterhaufen verurteilt wird. Zur Befreiung kommt KostanĆĄek mit einer Armee unter der FĂŒhrung einer Riesin, welche alle zerschmettert, die sich ihr in den Weg stellen. Schon wĂ€hrend der Befreiung fragen sich die Bewohner, ob sie nicht Opfer einer Mutterkornvergiftung seien und unter Massenhalluzination litten, Jahre spĂ€ter kann sich niemand mehr daran erinnern.
Der Roman endet mit dem Stadtschreiber Nikolaj, der bei einem - am Ende verschwundenen - lutheranischen BĂŒrgermeister angestellt war und dessen melancholischen Reflexionen immer wieder eingestreut sind. Er verliebt sich in eine Ritterstochter, mit der er davonreitet, nachdem eine Zigeunerin ihnen ein glĂŒckliches Leben in einem weit entfernten Land prophezeit. Europa wird kolonial.
Und der Titel? Eingestreut kurz ist: Die Zeit ist der gröĂte Schrecken des Menschen. Es ist die Erkenntnis des Todes, die ihn erschĂŒttert, aber auch - wie der adipöse FĂŒrstbischof Wolfgang am Ende schwerkrank reflektiert - zum schrankenlosen Egoismus antreibt, es ist nicht die Angst vor einem ewigen Leben und einer Höllenstrafe, was es vielleicht gar nicht gibt.
Infolinks im Spoiler
Verlagsinfo:
https://www.wallstein-verlag.de/9783835334427-mojca-kumerdej-chronos-erntet.html (Archiv-Version vom 28.10.2020)
Rezenzsion:
https://read-ost.com/2020/05/12/leben-in-der-renaissance-chronos-erntet-von-mojca-kumerdej/
Die slowenische Philosophin und Kultursoziologin Kumerdej hat mit diesem Roman, der 2016 auf Slowenisch erschien und 2019 in deutscher Ăbersetzung von Erwin Köstler veröffentlicht wurde, ein wenig beachtetes postmodernes Meisterwerk geschrieben. Es spielt um die Jahrhundertwende des 16. und 17. Jahrhunderts, als Innerösterreich von Graz ausgehend rekatholisiert wurde.
Ausgehend von einem nach einer Massenvergewaltigung schwangeren BauernmĂ€dchen, das zuhause von einer TeufelsverfĂŒhrung erzĂ€hlt und von ihrem Vater verdroschen und rausgeschmissen wird, beginnt ein slowenisches Panoptikum, in dessen Zentrum ein pĂ€dophiler katholischer FĂŒrstbischof namens Wolfgang und dessen grĂ€flicher, mit den Lutherischen sympathisierende Jugendfreund Friedrich stehen. Der FĂŒrstbischof drĂ€ngt ihn unter Erpressung zum Abhalten eines Hexenprozesses, der auch durchgezogen wird, wobei das BauernmĂ€dchen eine Show abzieht, die ihr das Leben rettet, weil es ihr gelingt, den Hauptvergewaltiger, einen brutalen Schmied, glaubwĂŒrdig des Teufelsbundes zu bezichtigen.
Egal von welcher Perspektive aus geschrieben (vieles ist aus Figurenperspektive, manches von einem auktorialen ErzĂ€hler, der philosophierend bis zum Cern vorausschaut), der Schreibduktus ist nĂŒchtern, beschreibend, nie emotional geladen. Die nĂŒchterne Logik des FĂŒrstbischof, warum ein Hexenprozess zur Machterhaltung nötig ist, wird von Kumerdejs Schreibstil gespiegelt. Folter und Hinrichtung waren keine Racheakte, sondern eine Notwendigkeit zum Machterhalt. Damit wird nicht nur das spĂ€te 16. Jahrhundert reflektiert, was hier zu lesen ist, gilt auch fĂŒr Diktaturen bis in unsere Zeit.
Durchgehend wird im Roman immer wieder die Frage reflektiert, was RealitĂ€t ĂŒberhaupt ist. Gipfelpunkt ist die Geschichte des reichen Bauern KostanĆĄek, der sieben groĂgewachsene, schweigsame, teuflisch wirkende Helfer aus dem Kaukasus engagiert, dessen verwachsene, krĂ€nkliche Tochter parallel zu einer blĂŒhenden Landwirtschaft eine Schönheit wird und deswegen als Hexe gefoltert und zum Scheiterhaufen verurteilt wird. Zur Befreiung kommt KostanĆĄek mit einer Armee unter der FĂŒhrung einer Riesin, welche alle zerschmettert, die sich ihr in den Weg stellen. Schon wĂ€hrend der Befreiung fragen sich die Bewohner, ob sie nicht Opfer einer Mutterkornvergiftung seien und unter Massenhalluzination litten, Jahre spĂ€ter kann sich niemand mehr daran erinnern.
Der Roman endet mit dem Stadtschreiber Nikolaj, der bei einem - am Ende verschwundenen - lutheranischen BĂŒrgermeister angestellt war und dessen melancholischen Reflexionen immer wieder eingestreut sind. Er verliebt sich in eine Ritterstochter, mit der er davonreitet, nachdem eine Zigeunerin ihnen ein glĂŒckliches Leben in einem weit entfernten Land prophezeit. Europa wird kolonial.
Und der Titel? Eingestreut kurz ist: Die Zeit ist der gröĂte Schrecken des Menschen. Es ist die Erkenntnis des Todes, die ihn erschĂŒttert, aber auch - wie der adipöse FĂŒrstbischof Wolfgang am Ende schwerkrank reflektiert - zum schrankenlosen Egoismus antreibt, es ist nicht die Angst vor einem ewigen Leben und einer Höllenstrafe, was es vielleicht gar nicht gibt.
Infolinks im Spoiler
Verlagsinfo:
https://www.wallstein-verlag.de/9783835334427-mojca-kumerdej-chronos-erntet.html (Archiv-Version vom 28.10.2020)
Rezenzsion:
https://read-ost.com/2020/05/12/leben-in-der-renaissance-chronos-erntet-von-mojca-kumerdej/