Marie von Ebner-Eschenbach - Bozena
29.08.2020 um 00:58Die Autorin, selbst aus mährischem Landadel stammend, führt uns in ihrem ersten Roman in ein kleinstädtisches und kleinadeliges Panorama der Habsburgmonarchie des 19. Jahrhunderts, beginnend ab ca. 1830 bis weit nach der Revolution von 1848. Sie führt die fein ziselierten ständischen Abstufungen vors Auge, aber auch in die Tiefen einer patriarchalischen Gesellschaft.
Im Zentrum steht die Familie des reichen Weinhändlers Heißenberg in der kleinen mährischen Stadt Weinberg. Diese gibt es wirklich, sie liegt südwestlich von Brünn, und trotz Zusammenlegung mit dem Nachbarort Frainspitz (heute Branišovice) wird der Ort kaum mehr als 800 Einwohner gehabt haben. Wenn überhaupt. Namensgeberin des Romans ist das Dienstmädchen Bozena, eine selbstbewusste und attraktive Mährin, eigentlich Božena geschrieben.
Aus erster Ehe hat Heißenberg eine Tochter, Rosa. Nach dem Tod heiratet er wieder, denn er braucht aus Erbrechtsgründen einen Sohn, aber aus der zweiten Ehe mit Nannette entspringt wieder eine Tochter, Regula. Rosa und Regula sind charakterlich völlig unterschiedlich, erstere lebhaft und liebenswürdig, letztere spröde. Die zweite Frau versucht alles, ihre eigene Tochter als Haupterbin zu protegieren und Rosa zu verdrängen.
Ein Heiratsversuch Rosas durch ihren Vater mit einem Sohn eines Bekannten scheitert, und Rosa verliebt sich in einen Ulanen einer Kompanie, die im Ort verweilt. Da ihr Vater eine Bindung mit ihm ablehnt, da dieser den Weinhandel nicht übernehmen will, brennt Rosa, ohne irgendetwas an Mitgift mitzunehmen, mit ihm durch und siedelt sich mit ihm in Arad (heute Rumänien) an.
Die Mahnung ihres Vaters über das Militärleben lässt aber auch durchblicken, welche Aussichten Rosa erwarten würden, welche sich auch bewahrheiten, aber das Glücksgefühl einer Liebesbindung ist nicht in ihr einbezogen:
«Weißt du, was du verlangst? Kennst du den Jammer einer armseligen Militärwirtschaft? Das Herumzigeunern von Dorf zu Dorf ... Eine Ehe ohne eigenen Herd, einen Haushalt, den man nicht bestreiten, Kinder, die man nicht erziehen kann? Und er – glaubst du, daß er dich möchte, wenn du ihm kämst ohne einen Heller? Ein Narr wäre er, wenn er dich so nähme, und gewissenlos dazu. Also. nein! Und kein Wort mehr darüber: du gehorchst!»Bozena reist nach und wird deren Haushälterin und Pflegerin ihrer gemeinsamen Tochter Rosa (Röschen). Die Mutter stirbt an einer Krankheit in einem Kurort in Siebenbürgen, der Vater fällt in einer der Schlachten während des ungarischen Aufstands. Bozena geht mit Röschen auf dem Arm zu Fuß nach Weinberg zurück (das sind an die 600 Kilometer).
Bei ihrer Rückkehr ist soeben der Vater verstorben, der Regula bereits einmal mit Ronald, einem Sohn eines verarmten Grafen verheiraten wollte, der jedoch abgelehnt hat. Im Testament setzt er Regula als Alleinerbin ein, Bozena sieht den Anspruch Röschens betrügerisch übergangen, da sie die Tochter der Erstgeborenen wäre. Regula setzt aber alles daran, Gräfin zu werden, kauft das Gut Rondsperg (es gibt heute noch ein verfallenes Schloss gleichen Namens) der Familie Ronalds und rechnet damit, dass dieser im Gegenzug zu den Wohnrechten seiner alten Eltern ihr einen Heiratsantrag macht. Erstere sind festgeschrieben, der Heiratsantrag kommt nicht.
Während des Aufenthalts in Rondsperg, zu der sie Röschen und Bolzena mitnimmt, verlieben sich Ronald und Röschen (sie ist etwa zehn!) ineinander, und das ist nicht nur eine kindliche Liebe, sondern es wird zwischen Regula und dem alten Grafen (unter Zähneknirschen) ein Ehevertrag abgeschlossen. Bozena erkennt die Chance und erpresst von Regula, dass Ronald das Gut zurückgeschenkt wird und Röschen somit Gräfin werden kann. Wenn sie dies nicht tue, würde Bolzena alles dransetzen, Regulas Ruf in Weinberg zu zerstören, womit auch die Weinhandlung bedroht wäre. Regula willigt ein und heiratet den in sie über beide Ohren verliebten Hauslehrer Röschens.
Der Roman endet gütlich. Regula und der Herr Professor werden sehr angesehene Personen in Weinberg, Ronald und Röschen werden in Ronsperg glücklich, dort leben weiterhin seine alten Eltern, Bozena und der alte Kommiss (Geschäftsführer), der den Tag mit dem alten Grafen Wein trinkend auf der Terrasse verbringt.
Nicht nur wegen dieses Endes wird Ebner-Eschenbach gerne die Idee eines "ethischen Sozialismus" zu geschrieben, der ihr Traum gewesen sei, doch ganz überzeugt mich dies nicht. Denn im Gegensatz zu den genauen und öfter bissigen und kritischen Schilderungen sozialer Unterschiede, die in Weinberg den Einzelmenschen prägen, macht es keinen logischen Sinn, dass diese am Ende des Romans nicht mehr existieren sollen. Es gibt eine gütliche Lösung für einige Protagonisten, und das ist es.
Vielmehr sind die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Probleme des Landlebens sehr genau dargestellt:
- Die landwirtschaftliche Produktion ist gesamtwirtschaftlich nicht mehr gewinnbringend
- Adel, aber auch abhängige Bauern und Handwerker verarmen
- Das nicht produzierende Handelsbürgertum kann immens reich werden
- Politische Gegensätze werden im nationalen Triumph ausgeglichen (Sieg über die Ungarn)
- Frauen sind in ein patriarchalisches System eingesperrt, Ausbrüche sind entbehrungsreich
- Ehen werden über den Köpfen von Minderjährigen geschlossen (Röschen)
- Menschen sind bösartig ("Die größte Freude der Menschen ist Lästern.")
- Menschen sind eigensinnig.
Bozena ist die Gegenfigur. Sie ist gesellschaftlich unteren Rand (Bedienerin, Tschechin, Frau), aber sie ist nicht eigensinnig, opfert sich für Rosa und danach Röschen auf, geht keine Ehe ein (sie war mit einem Jäger liiert, der ein Trinker und Frauenheld war).
Auffällig ist, wie schnell die Menschen altern. Eltern von 25-Jährigen sind Greise. Die sind aber höchstens 65 (zumindest die Frau, wenn sie mit 40 noch ein Kind bekommen kann). So ist auch der Drang zu erkennen, möglichst jung zu heiraten (zumindest eine junge Frau - siehe Röschen).
Gerne unterschätzt bei Ebner-Eschenbach wird, dass sie keine Dorfgeschichten erzählt, sondern die kleinen sozialen Verhältnisse wie ein Brennglas wirken. Jede Figur wird fast zu einer Repräsentantin, ohne dass sie ihren individuellen Charakter verliert. Und mit zum Teil bösartigen Kommentaren der Erzählfigur (Regula wird zum Beispiel "Drahtpuppe" genannt) weist der Schreibstil in die Moderne. Dieser Roman ist wirklich ein Hammer.
Und es gibt noch Informationen zu Weinberg-Frainspitz aus dem 19. Jahrhundert auf suedmaehren.eu und suedmaehren.at mit Bildern. Das war wirklich eine arme Gegend und wie sich dort eine reiche Weinhandlung hat entwickeln können, ist mir fast ein Rätsel:
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Und hier die Einwohnerentwicklung (Weinberg-Frainspitz) von 1793 bis 1939:
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