Mut zur Erziehung (1978)
18.08.2020 um 23:43Im Januar 1978 haben sich konservative Intellektuelle, darunter Golo Mann, zusammengefunden, um ein konservatives Erziehungs- und Schulkonzept zu entwickeln. Das Endresultat war ein Thesenpapier mit neun Punkten. Interessant sind die Widersprüche zwischen einer "glücklichen" Entwicklung der Kinder und einem Beharren auf Fleiß, Disziplin und Ordnung. Diese Thesen wurden von der Landesregierung Baden-Württemberg unterstützt.
Auszüge: https://www.welt.de/print-welt/article341284/Mut-zur-Erziehung.html
Zeitgenössische Diskussionsbeiträge:
https://www.zeit.de/1978/14/erziehung-zum-mut
https://www.zeit.de/1979/20/mehr-mut-zur-redlichkeit
Eine Replik des damals an der PH Reutlingen tätigen Professors für Philosophie Friedrich Kümmel:
http://www.friedrich-kuemmel.de/doc/MutzurErziehung.pdf
Erstens: Wir wenden uns gegen den Irrtum, die Mündigkeit, zu der die Schule erziehen soll, läge im Ideal einer Zukunftsgesellschaft vollkommener Befreiung aus allen herkunftsbedingten Lebensverhältnissen. In Wahrheit ist die Mündigkeit, die die Schule unter jeweils gegebenen Herkunftsverhältnissen einzig fördern kann, die Mündigkeit derer, die der Autorität des Lehrers schließlich entwachsen sind. Denn wenn die Schule die Mündigkeit einer Zukunftsmenschheit zum pädagogischen Ideal erhöbe, erklärte sie uns über unsere ganze Lebenszeit bis in die Zukunft hinein zu Unmündigen.Quelle: Kraus, Josef (2013). Helikopter-Eltern: Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung. Kapitel Elternhaus und Schule. Hamburg: rowohlt eBook.
Zweitens: Wir wenden uns gegen den Irrtum, die Schule könne Kinder lehren, glücklich zu werden, indem sie sie ermuntert, «Glücksansprüche» zu stellen. In Wahrheit hintertreibt die Schule damit das Glück der Kinder und neurotisiert sie. Denn Glück folgt nicht aus der Befriedigung von Ansprüchen, sondern stellt im Tun des Rechten sich ein.
Drittens: Wir wenden uns gegen den Irrtum, die Tugenden des Fleißes, der Disziplin und der Ordnung seien pädagogisch obsolet geworden, weil sie sich als politisch missbrauchbar erwiesen haben. In Wahrheit sind diese Tugenden unter allen politischen Umständen nötig. Denn ihre Nötigkeit ist nicht systemspezifisch, sondern human begründet.
Viertens: Wir wenden uns gegen den Irrtum, die Schule könne Kinder «kritikfähig» machen, indem sie sie dazu erzieht, keine Vorgegebenheiten unbefragt gelten zu lassen. In Wahrheit treibt die Schule damit die Kinder in die Arme derer, die als ideologische Besserwisser absolute Ansprüche erheben. Denn zum kritischen Widerstand und zur Skepsis gegenüber solchen Verführern ist nur fähig, wer sich durch seine Erziehung mit Vorgegebenheiten in Übereinstimmung befindet.
Fünftens: Wir wenden uns gegen den Irrtum, die Schule hätte die Kinder anzuleiten, «ihre Interessen wahrzunehmen». In Wahrheit gibt die Schule damit die Kinder in die Hand derer, die diese Interessen nach ihren eigenen politischen Interessen auszulegen wissen. Denn bevor man eigene Interessen wahrnehmen kann, muss man in die Lebensverhältnisse eingeführt sein, in denen eigene Interessen sich erst bilden.
Sechstens: Wir wenden uns gegen den Irrtum, mit der Gleichheit der Bildungschancen fördere man die Gleichheit derer, die sich in Wahrnehmung dieser Chancen bilden wollen. In Wahrheit setzt Chancengleichheit stets ungleich verteilte Möglichkeiten ihrer Nutzung frei, und diese Ungleichheit, die sich als Folge realisierter Chancengleichheit erst herstellt, bedarf politischer und moralischer Anerkennung. Denn ohne diese Anerkennung zerstört Chancengleichheit die bürgerliche und menschliche Solidarität derer, denen sie zugute kommen sollte.
Siebtens: Wir wenden uns gegen den Irrtum, man könne über die Schule Reformen einleiten, die die Gesellschaft über ihre politischen Institutionen nicht selber einleiten will. In Wahrheit isoliert man damit die Schule und ihre Schüler gegenüber der Gesellschaft. Denn keine Gesellschaft kann eine Schule als ihre eigene Schule anerkennen, die ihre Schüler eine ganz andere Gesellschaft als ihre eigene anzusehen lehrt.
Achtens: Wir wenden uns gegen den Irrtum, die Verwissenschaftlichung des Unterrichts sei die erzieherische Antwort auf die Herausforderung unserer wissenschaftlichen Zivilisation. In Wahrheit erschwert man auf diese Weise die Erziehung zur Fähigkeit, sich in der wissenschaftlichen Zivilisation an Gegebenheiten und Maßstäben zu orientieren, die eigener Erfahrung zugänglich sind. Denn selbst noch das spätere Erlernen einer Wissenschaft setzt Kompetenzen voraus, die sich schulisch nicht auf dem Wege der Rezeption wissenschaftlicher Informationen erwerben lassen.
Neuntens: Wir wenden uns gegen den Irrtum, optimale Erziehung sei maximal professionalisierte und institutionalisierte Erziehung. In Wahrheit ist Erziehung in keiner Kultur primär ein Vorgang aus Berufstätigkeit. Denn unsere Schulen können ihren besonderen Beitrag zur Erziehung unserer Kinder nur leisten, sofern auch in ihnen dieselben kulturellen Selbstverständlichkeiten gelten, in deren Anerkennung wir alle vor und außerhalb der Schule stets schon erzogen sind.
Auszüge: https://www.welt.de/print-welt/article341284/Mut-zur-Erziehung.html
Zeitgenössische Diskussionsbeiträge:
https://www.zeit.de/1978/14/erziehung-zum-mut
https://www.zeit.de/1979/20/mehr-mut-zur-redlichkeit
Eine Replik des damals an der PH Reutlingen tätigen Professors für Philosophie Friedrich Kümmel:
http://www.friedrich-kuemmel.de/doc/MutzurErziehung.pdf