Schimmelreiter

In diesem Alterswerk zieht Storm alle Register, um die harte, karge Lebenswelt Nordfrieslands zu fassen. Diese Novelle ist zweifach gerahmt und spielt in der Mitte des 18. Jahrhunderts (mit dem Ende im Jahr 1756). Hauptfigur ist Hauke Heien, ein seit der Kindheit in sich zurückgezogener, rationaler Mensch, der als Kind Euklid auf Holländisch studiert, um eine Verbesserung der Deichstruktur zu entwickeln (flachere Hänge auf Meeresseite).

Seine Karriere beginnt er als Kleinknecht beim alten Deichgrafen. Er arbeitet sich empor und mit 24 Jahren heiratet er die Tochter seines Herrn, und mit dem eigenen Erbe und dem Erbe seiner Frau ist er reich genug, um selbst Deichgraf zu werden.

Er kann es durchsetzen, dass ein neuer Damm nach seinen Vorstellungen errichtet wird, der aber wegen des hohen Arbeits- und Materialaufwands die Bewohner nicht begeistert, welche die alte Dammbauweise für ausreichend halten. Noch dazu intrigiert der ehemalige Großknecht des alten Deichgrafen gegen Heien, da er sich ausgebootet fühlt.

Hauke Heien und seine Frau Elke ziehen sich immer mehr zurück, vom Schicksal sind sie gebeutelt, da ihre erst nach langen Jahren geborene Tochter schwachsinnig ist, von beiden jedoch trotzdem sehr fürsorglich geliebt wird. Heiens Charakter selbst wandelt sich vom ehrgeizig Rationalen hin oft zum Jähzornigen, da er es nicht schafft, die Dammstrukturen zur Gänze zu modernisieren, besonders die Stelle, an welcher der alte und der neue Damm zusammentreffen, wird zu einer Schwachstelle, die am Ende zum Unglück führt.

Während einer Sturmflut wird diese Nahstelle unterspült, der alte Damm droht zu brechen, die Bewohner wollen den neuen Damm gegen den Willen Heiens durchstechen, um den alten zu entlasten. Was aber bedeutet, dass die neue Koog überflutet werden würde. Trotz des Sturms eilt seine Frau mit ihrem Kind in einer Kutsche zum Damm, da sie um das Leben Heiens fürchtet, kommt aber in den Fluten des Dammbruchs um. Hauke Heien stürzt sich mit seinem Schimmel, den er billig erworben hat und die Bewohner für ein sagenhaftes teuflisches Pferd halten, ebenfalls ins Wasser, da er nicht nur seine Familie verloren hat, sondern sich Selbstvorwürfe macht, als Deichgraf zu wenig streng gewesen zu sein und versagt zu haben.

Seither geht die Sage, dass ein Schimmelreiter immer wieder dort gesehen würde, wo die Deiche Schwachstellen hätten.

Beeindruckend ist die Zeichung der Charaktere, die sich eigentlich nie nahe kommen. Es sind sehr spröde, wortkarge Menschen, deren emotionalen Ausbrüche oft den Eindruck der Bösartigkeit hinterlassen. Selbst Hauke Haien ist davon nicht ausgenommen, als er zum Beispiel die Angorakatze einer alten Frau tötet, weil sie ihn kratzt.

Auch der Widerspruch zwischen Althergebrachtem (alte Dammbauweise, Aberglauben) und Neuem (neue Dammbauweise, rationales Denken) ist sehr eindringlich gezeichnet und vielschichtig. Selbst Hauke Heien ist der Aberglaube nicht fremd.

Literarhistorisch wird die realistische Schreibweise durch das Mythische und Mystische durchbrochen, aber auch Denkweisen des Naturalismus haben Eingang gefunden, als zum Beispiel der junge Heien seinem zukünftigen Schwiegervater direkt ins Gesicht sagt, dass "im dritten Gliede der Familienverstand ja versagen" solle. Dieser ist selbst der dritte Sohn in der Reihe und ihm wird die Aussage bewusst. Dies könnte fast von Gerhart Hauptmann mit seiner Herkunftsdetermination stammen, doch anders als in "Vor Sonnenaufgang" heiratet Heien doch dessen Tochter, mit der Folge, dass das Kind schwachsinnig und zurückgeblieben ist.

Beinahe prophetisch ist der Schluss, als der Erzähler der Binnengeschichte, ein Schulmeister, die Ereignisse und die Handlungsträger bewertet.
Der Dank, den einstmals Jeve Manners bei den Enkeln seinem Erbauer versprochen hatte, ist, wie Sie gesehen haben, ausgeblieben; denn so ist es, Herr: dem Sokrates gaben sie ein Gift zu trinken und unseren Herrn Christus schlugen sie an das Kreuz! Das geht in den letzten Zeiten nicht mehr so leicht; aber – einen Gewaltsmenschen oder einen bösen stiernackigen Pfaffen zum Heiligen, oder einen tüchtigen Kerl, nur weil er uns um Kopfeslänge überwachsen war, zum Spuk und Nachtgespenst zu machen – das geht noch alle Tage.
Der Spuk und die Nachtgespenster des zwanzigsten Jahrhunderts lassen einen fast erschaudern bei diesem Absatz aus dem Jahr 1888.


Online gibt es diesen Text natürlich mehrfach.

https://de.wikisource.org/wiki/Der_Schimmelreiter
https://www.projekt-gutenberg.org/storm/schimmel/schimmel.html
http://www.zeno.org/Literatur/M/Storm,+Theodor/Erzählungen/Der+Schimmelreiter?hl=schimmelreiter
https://ebooks.qumran.org/opds/index.php?lang=de&pageformat=html&action=bookdetails&book=2633