Stifter-Kalkstein

1847 zuerst veröffentlicht, ist es ein fast prototypischer Stifter in einer nicht erschließbaren abgelegenen Landschaft, die irgendwo im böhmisch-oberösterreichischen liegt.

Zentralfigur ist ein etwas lebensunfähiger Landpfarrer in einem Kalksteingebiet, das von Kalkbrennern bewohnt wird. Seine Hauptsorge ist, dass die Schulkinder bei ihrem einstündigen Schulweg einen kleinen Fluss überqueren müssen, dessen Ufergebiete regelmäßig überschwemmt und im Winter vereist sind, der Steg jedoch viel zu kurz ist, die Kinder also regelmäßig durchnässt oder bei Hochwasser in Gefahr gebracht werden.

So setzt er alles daran, dass er sich bis zu seinem Lebensende so viel Geld abgespart hat, dass davon in diesem kleinen Ort auch eine Schule errichtet werden kann. Das Geld reicht nach seinem Tod nicht, aber sein emotionales Testament bringt die reicheren Bewohner der Region dazu, die fehlende Summe binnen kürzester Zeit aufzubringen, damit die Schule errichtet werden kann.

Soweit der Plot. Aber der Kern ist das Aufeinandertreffen eines Landvermessers (Erzähler) mit dem Landpfarrer und wie die Lebensgeschichte des Letzteren entschlüsselt wird. Als Zwilling in ein reiches Gerberhaus geboren war er beim Lernen immer langsamer als sein Zwillingsbruder und wird nach dem Tod des Vaters und Übernahme des Betriebs durch seinen Zwillingsbruders in einen Hausteil isoliert und von seinem Erbe lebend holt er die Gymnasialreife nach, was ihm das Theologiestudium und die Priesterweihe ermöglicht. Sein Bruder setzt den Gewerbebetrieb in den Sand und nach der Pleite übernimmt er die Pfarrei in dem abgelegenen Ort. Er beginnt zu sparen und wird mehrfach ausgeraubt, bis er schließlich einen Weg findet, das Ersparte anzulegen, das er sich durch asketisches Leben bzw. durch Vermietung einer Dachkammer beiseite legen kann.

In einer für Stifter typischen getragenen, das Detail betonenden Sprache werden einem Menschen, die sich gegenseitig in Höflichkeit und Wertschätzung übertreffen, nahegebracht, im Zentrum dieser gutherzige und eigentümliche Landpfarrer, der in einer brutalen Wirtschaftswelt nicht überlebensfähig wäre.

Stifter versucht in dieser Erzählung sein "sanftes Gesetz" in Idealform darzustellen, welches besagt, dass das Kleine dem Großen gleichwertig sei (daher die vielen Detailbeschreibungen), das Evolutionäre dem Revolutionären überlegen sei (Obstbäume überstehen Gewitter, das langfristige Denken des Landpfarrers ist dem kurzfristigen Gewinndenken seines Bruders überlegen). Und selbst für die aktuelle Bildungsdebatte gibt es den Hinweis, dass schnelle Auffassungsgabe und hohe Kompetenzen (Zwillingsbruder) nicht zu einem erfolgreichen Leben führen müssen. Stifter war beruflich übrigens in der oberösterreichischen Schulaufsicht tätig.

Die Sprache Stifters, sobald sie sich einem eröffnet, ist durchaus etwas Besonderes, die beinahe einen Trance-Rhythmus aufweist. Vor langer Zeit habe ich seine langen Romane Witiko und Nachsommer gelesen, die nachhaltig faszinieren. Biedermeier? Ja. Aber in Vollendung.

Kalkstein ist in seine Sammlung Bunte Steine aufgenommen worden, die hier online verfügbar ist:
http://www.zeno.org/Literatur/M/Stifter,+Adalbert/Erzählungen/Bunte+Steine