hackl

Dies ist die erste Erzählung aus Hackls Band Drei tränenlose Geschichten. Sie geht von einem Familienfoto der Floridsdorfer jüdischen Kohlenhändlerfamilie Klagsbrunn aus dem Jahr 1904 aus. Damals war Floridsdorf noch kein Wiener Bezirk, sondern ein Dorf außerhalb der Stadt. Das Foto zeigt ein Elternpaar mit elf Kindern, und ab März 1938 musste diese Großfamilie alles aufgeben, ihr Eigentum billigst verkaufen ("Arisierung") und schauen, dass jeder von ihnen aus dem Terrorstaat rauskommt. Wer nicht bei Drei weg war, wurde in irgendeinem Lager ermordet (dieses Schicksal erlitten einige).

Hackl geht jedoch den Familienmitgliedern nach, welche die Flucht nach Brasilien schafften, wo bereits Verwandte lebten. Und bei seinen Recherchen lernt er einen Nachkommen kennen, Victor Hugo Klagsbrunn (es ist Familientradition, den Kindern Doppelvornamen zu geben). Victor Klagsbrunn war Anfang der 60er Jahre in linken Organisationen tätig und wurde bei der Machtübernahme des brasilianischen Militärs 1964 festgenommen und gefoltert. Nach der Freilassung ging er nach Europa, lebte eine Zeitlang mit seiner Frau in Rom und Berlin, wo er promovierte (die deutsche Sprache musste er sich wieder aneignen), und ging in den 80er Jahren zurück nach Brasilien.

Während seiner Recherchen zu diesem Text kontaktierte Hackl Victor Klagsbrunn, und so wurde der aus Archivmaterialien erarbeitete Inhalt mit Leben gefüllt werden, so vor allem zu Victors Onkel Kurt Klagsbrunn, einem der bedeutendsten Fotografen Brasiliens im 20. Jahrhundert.

Literarisch - wie immer bei Hackl - ein Grenzgang, und dieser Text ist viel näher am Essay als an der Erzählung. Er ist sachlich, nüchtern, und Innensicht gibt es nicht. Hackl hat keine fiktiven Figuren mit Bezug zu realen Personen geschaffen, es ist ein Text über reale Personen mit Klarnamen. Das Interesse liegt an äußeren Schicksalen, eine Tiefenlotung in die Psyche findet nicht statt. Das geht auch nicht, wenn über reale Menschen geschrieben wird. Künstlerisch wird damit sehr viel verschenkt, aber auch wissenschaftlich. Es ist textlich ein Hybrid, sehr interessant zu lesen, aber da sich weder für Fisch noch Fleisch entschieden wurde, bleibt die Frage offen, ob die Recherchen Hackls nachhaltig sind oder nachgeputzt werden muss, wenn wieder jemand das jüdische österreichische Exil in Brasilien erforscht.

Die Wiener Zeitung hat einen interessanten Artikel über Victor Klagsbrunn veröffentlicht. So sieht er aus (Foto: Farmbauer/Wiener Zeitung):

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Noch interessanter sind die Bilder, die Kurt Klagsbrunn geschossen hat. Das ist hohe Kunst und nicht einfach geknipst. Hier ein Foto von Orson Welles in Rio im Jahr 1942. Man beachte die perfekte Komposition der Diagonale!

Orson-Welles-bei-der-Ankunft-zu-den-Dreh

Oder hier ein Foto von einem Kaffee trinkenden Arbeiter in Rio aus 1947 (perfekter Einsatz der Tiefenschärfe):

Junger-Arbeiter-in-der-Kaffeepause-Minas

Kurt Klagsbrunn ist 2005 verstorben, die Bildrechte liegen nun bei Victor Klagsbrunn, ich habe diese beiden Fotos aus der Floridsdorfer Zeitung übernommen.

Dies hier ist Kurt Klagsbrunn (Foto undatiert und kein Credit, das Urheberrecht liegt bei Victor Klagsbrunn, ich habe es von jewishnews.at übernommen):

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Links:
https://oe1.orf.at/artikel/375996/Erich-Hackl-Drei-traenenlose-Geschichten
https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/reflexionen/zeitgenossen/904702-Floridsdorf-an-der-Copacabana.html
http://www.dfz21.at/dfz/von-floridsdorf-nach-rio-das-auge-brasiliens-kurt-klagsbrunn/ (Archiv-Version vom 24.09.2020)
https://www.jewishnews.at/events/2018/12/5/exhibition-kurt-klagsbrunn
https://oe1.orf.at/artikel/642477/Die-bewegende-Geschichte-des-Kurt-Klagsbrunn