Landwehr

Der in Düsseldorf lehrende Historiker Achim Landwehr hat die Absicht, in diesem Werk zu zeigen, dass im 17. Jahrhundert ein neuer Zeitbegriff emergierte, sprich: ohne planendes Zutun entstand. Die alte, auf biblische Vorstellungen basierende Ansicht, dass die Welt auf eine Endzeit zusteuere bzw. erst einige Jahrtausende alt sei, wird abgelöst duch einen Bedeutungszuwachs des Gegenwärtigen.

Es sei eine Zeitschaft entstanden, ein an dem Begriff Landschaft angelehnter Neologismus. Auch sei Zeit nicht nur gemessen worden (mit Kalendern und Uhren), sondern ein Zeitregime entstanden: die Gesellschaft beginnt sich anhand von Zeit zu organisieren. Zeit wird zum Machtfaktor und zum Faktor der Unterwerfung in ein Organisationskorsett, beides bis zum heutigen Tag aktuell.

Die Beispiele der beginnenden Dominanz des Jetzt sind aus vielen Bereichen gesammelt:

- Kalender enthalten immer mehr freien Schreibraum, um eine die eigene Zeit zu planen (Terminkalender!)
- Uhren werden immer genauer, erobern Städte, Dörfer und schließlich Individuen
- Das Zeitungswesen entsteht, das periodisch und schließlich täglich über Neuigkeiten informiert
- Die Kleidung wird modisch und damit unbeständig, alte Kleiderordnungen werden obsolet und hinfällig
- In den Naturwissenschaften wird Zeit definiert (Newton)
- Kalendersysteme werden vereinheitlicht und der Gregorianische Kalender setzt sich durch

Diese "Geburt der Gegenwart" weist aber auch nach vorne, die Gestaltbarkeit und Planung der Zukunft beginnt sich zu zeigen, ein konstituierendes Element der Moderne, das sich im 18. Jahrhundert durchsetzen wird:

- In "Projekten" wird Neues entworfen, oft unbrauchbar, dass sogar vor "Projektmacherei" als Betrug gewarnt wird
- Die Pest wird besiegt, da die Kontagiosität erkannt wird, Schutzmaßnahmen werden ergriffen
- Körperliche Strafen werden abgelöst durch Zeitstrafen: es entwickelt sich das Gefängnissystem

Interessant und zum Teil sogar vergnüglich zu lesen, fehlt mir eigentlich nur eine Antwort auf die Frage, warum dieser Perspektivenwechsel im 17. Jahrhundert begann. Implizit wird auf die Notwendigkeit fester Abläufe in der Landwirtschaft verwiesen, aber ein Zusammenhang mit städtischen Lebensweisen wird nicht formuliert, obwohl dieser für mich offensichtlich wäre.

Infolinks im Spoiler

Verlagsinfo:
https://www.fischerverlage.de/buch/geburt_der_gegenwart/9783100448187

Interview:
https://www.deutschlandfunkkultur.de/zeit-unser-juengstes-gericht-ist-selbst-gemacht.954.de.html?dram:article_id=281466

Rezensionen:
https://www.spektrum.de/rezension/buchkritik-zu-geburt-der-gegenwart/1313380
https://www.koellerer.net/2014/10/12/achim-landwehr-geburt-der-gegenwart-eine-geschichte-der-zeit-im-17-jahrhundert/
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/apokalypse-spaeter-wie-das-17-jahrhundert-die-gegenwart-entdeckte-12970185-p2.html
https://www.deutschlandfunk.de/kalenderwandel-spannende-geschichte-uebers-zeitempfinden.1310.de.html?dram:article_id=285211
http://kult-online.uni-giessen.de/archiv/2015/ausgabe-41/rezensionen/das-jetzt-entdecken-annaeherungen-an-zeitmodelle-des-17-jahrhunderts (Archiv-Version vom 16.07.2020)