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Einmal zu oft in Hamburg

3 Beiträge ▪ Schlüsselwörter: Hamburg, Zweiter Weltkrieg, Shoah ▪ Abonnieren: Feed E-Mail
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Doors Diskussionsleiter
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Einmal zu oft in Hamburg

13.12.2018 um 11:34
Editorische Notiz: Diese Geschichte schieb ich Anfang der 1990er, zufällig fand ich sie wieder, habe sie eingescannt und leicht überarbeitet.


London. Wieder mal Regen. Vier Grad. Vorweihnachtszeit. An diesem ekligen Dezembertag rettet in den Docklands kein Drei-Wetter-Taft mehr die Frisur. Eileen träumt von einer Karriere als Fotografin. Seit den Morgenstunden kurven und latschen wir durch die Baustellen des ehemaligen Hafengebietes, das jetzt in eine schicke neue City verwandelt wird. Madame erspäht die Motive, ich trotte als Packesel und Gerätewart hinterher. Stative, Objektive im Gesamtgewicht einer Lokomotive. Ein Rucksack, zwei schwere tropensichere Alukoffer. Zwischendurch Anweisungen der Künstlerin: "Kamera drei, Objektiv sechs!" "Bitteschön." "Das ist nicht die sechs, das ist die neun!" Weil ich weder von der Hardware noch von den erforderlichen Utensilien Ahnung habe, ich bin eben ein Mann des Wortes, nicht des Bildes, haben wir alle Teile sorgsam nummeriert. Eine Digitalkamera, zwei analoge, davon eine mit Farbfilm, die andere mit Schwarzweiss bestückt.

Warum haben Hafenstädte eigentlich immer so ein widerliches Wetter? Das zumindest haben London und Hamburg gemein. "Diese Stimmungen! Dieses Licht!" sagt die Künstlerin. Meine Stimmung ist unter null und ich bin bereit, jedem das Licht auszublasen. Unsere Parkas sind durchgeweicht, Eileen sieht aus, als hätte ihr jemand einen Topf Spaghetti über den Kopf geschüttet. Soviel zum Thema Frisur. Mir tropft das Wasser aus dem Bart. Baustellen-Absperrungen überwinden bzw. wegschieben, Sandberge rauf, Sandberge runter. Was fotografiert sie eigentlich? Baugerüste, Kräne, Bagger, Sand- und Steinhaufen und immer wieder die verrottenden Überreste der ehemaligen Docks. Ein überwuchertes Autowrack, eine tote Katze im Hafenbecken. Ich fühle mich wie diese: Nass, kalt und tot.

Erlösung naht. Der Künstlerin reicht das Licht nicht mehr aus. Wir schleppen uns und das Equipment zu unserem von einer Freundin geliehenen Ford Fiesta. Fiasko wäre hinsichtlich des Fahrzeugzustandes die angemessenere Bezeichnung. Aussen verbeult, innen vermüllt. Die Karre riecht nach alten Kippen und Katzenpisse. Aber darin ist es wenigstens trocken.

"Und nun?" "Suchen wir uns einen Pub und trinken was. Ich brauche dringend ein Bier. Komm, wir losen aus, wer von uns nachher fährt." Das ist so eine Art Proforma-Demokratie. Dabei ist klar: Wenn Eileen Bier will, und das heisst: Viel Bier, dann muss ich hinterher fahren. Ich habe allerdings keine Ahnung, wo wir hier sind und wo wir hin müssen. Navigationssysteme? Noch nicht erfunden. Mal sehen, ob uns der Stadtplan aus Queen Victorias Zeiten eine Hilfe sein kann. Zumindest finden wir am Rand der Grossbaustelle eine intakte Häuserzeile mit einem Pub. Das quietschende Schild neben der Tür, das in Regen und Wind schaukelt, erinnert mich an das Jamaica Inn von Daphne du Maurier. Aber der Laden heisst irgendwas mit Lion and Unicorn. Und er ist rappelvoll. Wo kommen die alle her? Was wollen die alle hier?

Alte englische Pubs zeichnen sich durch einen eklatanten Mangel an Sitzgelegenheiten aus. Man steht dicht gedrängt, auch wenn es hier nicht Sardinen in Öl, sondern Männer in Bier sind. Diese Methode hat den Vorteil, dass Besoffene nicht umfallen können. Ausserdem geht bei Auseinandersetzungen weniger Mobiliar kaputt. Wer hinten steht, brüllt seine Bestellung zum Tresen hinüber und bekommt dann sein Getränk durchgereicht. Mit Glück ist sogar noch etwas im Glas drin.

"Was möchtest Du trinken?" fragt mich meine Begleiterin. Normalerweise kann ich Kakao seit Kindertagen nicht ausstehen. Aber wenn ich hungrig und durchgefroren bin, kann ich schon mal eine Ausnahme machen. So wie vor ein paar Tagen, als wir schon einmal so eine Tour gemacht hatten. Als ich einen Kakao orderte, guckte mich die Fachkraft für Alkoholisierung am Zapfhahn an, als hätte ich angeboten, einen Körperteil von mir in eine seiner Körperöffnungen einzuführen. Als er mir den Kakao servierte, fragte er mich, ob ich ein Spielzeug dazu haben möchte. Der weltberühmte britische Sense of Humour eben.

"Ich nehme einen Tee", sage ich, um Komplikationen zu vermeiden.

"Sie fangen an!" ruft einer aus der Menge. Daraufhin strömt alles in einen Nebenraum, wo es offenbar einen Fernseher gibt, in dem irgendein Sportereignis übertragen wird. Urplötzlich ist der Schankraum fast leer. Bis auf ein paar offensichtlich unsportliche Frauen, deren Job vermutlich darin besteht, später ihre besoffenen Kerle heimwärts zu transportieren. An einem Ecktisch sitzt ein älterer, kleiner Mann. Vor sich auf dem Tisch seinen Hut und ein halbvolles Glas Bier. Er hat gerade die Brille abgenommen und putzt sie. Offenbar kann er die plötzliche Leere nicht so recht glauben.

Wir fragen, ob wir uns zu ihm setzen dürfen. Er bejaht. Wir hängen unsere tropfnassen Parkas weg und hocken uns hin. Üblicherweise unterhalten wir uns in der Landessprache, um nicht als Touristen aufzufallen. Ausserdem sind wir noch nicht so lange ein Paar, so dass sich Eileens Deutschkenntnisse noch auf einem mittleren Niveau bewegen. Ich breche die Regeln und fluche: "Nee, wat'n Schietwetter wedder, nee!" Das war der Standardausruf meiner Mutter, wenn sie morgens bei Schmuddelwetter aus dem Haus musste.

"Oh, Sie sind Deutsche? Aus Hamburg, vermute ich." Der alte Herr reagiert lebhaft, spricht Deutsch mit britischem Akzent. "I'm Irish! You... AU!" Eileens Nationalstolz kann, vor allem in England, schon mal zu höchst unangenehmen Situationen führen. Vor allem, wenn sich an die Aussage, Irin zu sein, noch allerlei Verbalinjurien gegen Engländer anschliessen. IRA auf Auslandsmission. Diplomat, der ich bin, berühre ich dann mit meiner Fussspitze sanft ihre Knöchel oder was sonst gerade in der Richtung eines heftigen Trittes liegt.

Dem kleinen alten Mann ist die Reaktion nicht verborgen geblieben. "Entschuldigen Sie bitte, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Greendale. David Greendale. Eigentlich David Grünenthal. Geboren 1922 in Hamburg-Barmbek. Aber mein Geburtsname war zu deutsch für England - und nicht deutsch genug für Deutschland."

Ich nenne unsere Namen und füge hinzu "Barmbek basch!", während Eileen verstohlen ihren Knöchel reibt. Mr. Greendale lächelt versonnen: "Den, wie sagt man, Schnack, habe ich nun schon ewig nicht mehr gehört."

"Haben Sie Verwandte in Deutschland?" frage ich. "Weniger in Deutschland. In Polen. Auschwitz-Birkenau, Majdanek. Ich denke, die Ortsnamen sagen Ihnen etwas. Dort sind sie alle geblieben." Er guckt mich genau an, beobachtet wohl meine Reaktion.

Ich kaue ein wenig an meinen Worten herum. "Wie ist es Ihnen gelungen, zu überleben?" frage ich schliesslich.

"Meine Eltern hatten ein Herrenausstatter-Geschäft. Als die Nazis an die Macht kamen, mussten mein Bruder Jakob und ich unsere Schulen verlassen. Vor dem Geschäft standen SA-Männer und liessen keine Kunden mehr rein. Meine Eltern ahnten, was kommen könnte. Sie hatten Verwandte in England. Einen Bruder meiner Mutter. Aber wir hatten kaum Geld. Nur einer von uns Kindern konnte ausser Landes gebracht werden. Also haben wir gelost. Ich habe das Leben gezogen. Mein kleiner Bruder den Tod. Es gab Leute, die im Untergrund gearbeitet haben. Sie brachten Menschen ausser Landes. Ich kam im Januar 34 auf einen kleinen englischen Frachter. Sie haben mich versteckt, bis wir die Hoheitsgewässer verlassen hatten. So kam ich nach England. Meine Eltern und mein Bruder, die ganze Familie musste bleiben. 1938 hörte ich zuletzt von ihnen. Meine Mutter schrieb mir, dass die Nazis am 9. November das Geschäft plünderten und zerstörten, meinen Vater zusammenschlugen. Danach hörte ich nichts mehr von meiner Familie."

"Was haben sie dann gemacht?" frage ich Herrn Grünenthal.

"Als ich 18 war, meldete ich mich freiwillig zur Royal Airforce. Sie nahmen mich an. 1940 brauchte England jeden, der bereit war, gegen die Nazis zu kämpfen. Und ich war bereit. Weiss Gott, mehr als bereit! Ich wurde Bombenschütze in einer Lancaster. Das wird Ihnen nichts sagen."

"Oh doch. Avro Lancaster. Schwerer britischer Bomber. Vier Rolls-Royce Merlin Motoren, rund sechs Tonnen Bombenlast, acht MG, ..."

"Sie kennen sich aus. Für jemanden, der den Krieg nicht mitgemacht hat, erstaunlich gut."

"Ich interessiere mich für Luftfahrtgeschichte, schreibe gelegentlich für britische und deutsche Zeitschriften darüber."

"Als wir im Juli 43 erfuhren, dass unser Angriffsziel Hamburg sein würde, war ich, ich schäme mich fast, es zu sagen, begeistert. Wissen Sie, es gab Gerüchte darüber, was mit den deutschen Juden geschehen war. Schlimme Gerüchte. Schlimmste. Ich war damals ein junger Mann. Jung und wütend. Sehr, sehr wütend. Ich hoffe, Sie können mich verstehen."

"Ja, das kann ich."

"Ich wollte diese Verbrecher brennen sehen. Und ich sah sie brennen. Zumindest die Stadt. Ich wollte Rache. Wir liessen Feuer regnen auf meine Heimatstadt, die nun nicht mehr meine Heimat war, sondern die von Mördern. Ich habe alle drei grossen Angriffe mitgeflogen. Ich hoffe, Sie haben keine Verwandten verloren, oder? Wenn doch, so tut es mir heute leid."

"Ich verlor einen Onkel, den ich daher nie kennen lernen konnte. Nur aus Erzählungen seiner Schwester, meiner Mutter. Er hat im Hafen gearbeitet, hiess Karl und war, wie seine Frau auch, Mitglied der KPD. Darum haben ihn die Nazis 1933 auch gleich abgeholt und in Fuhlsbüttel zum Krüppel geschlagen. Er konnte nur noch an Krücken gehen. Die Kniescheiben haben sie ihm zertrümmert. Arbeiten konnte er nicht mehr. Aber er hatte Kontakte. Illegale KPD-Zellen sorgten dafür, dass verfolgte Menschen auf ausländischen Schiffen den Hafen verlassen konnten. Das ging wohl noch bis Kriegsbeginn so. Er ist 1943 in Rothenburgsort verbrannt. Auch seine Frau und die beiden Töchter."

Unsere Blicke trafen sich. Wir schwiegen lange.

"Ich wohne in der Nähe von Hamburg. Wenn Sie vielleicht Ihre Geburtsstadt noch einmal besuchen wollen - ich lade Sie herzlich dazu ein." unterbrach ich das lastende Schweigen.

Herr Grünenthal/Mr. Greendale griff nach seinem Hut. "Ich glaube, ich muss Ihr Angebot leider ausschlagen. Ich habe grosse Angst, dass ich bereits einmal zu oft in Hamburg gewesen sein könnte."

Er nickte uns zu und ging hinaus in den Regen.


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Einmal zu oft in Hamburg

13.05.2019 um 18:45
Wow...sehr bewegend. Ich habe immer noch was im Auge...


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Einmal zu oft in Hamburg

09.06.2019 um 21:45
Danke für diese Deine Geschichte @Doors


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