Gotthold Ephraim Lessing - Nathan der Weise
12.09.2017 um 23:02Vielleicht so manchem noch aus der Schulzeit bekannt, mir auch, ist die Wiederlektüre doch ein Augenöffner.
Die Rahmengeschichte dürfte bekannt sein: ein Tempelritter rettet in Jerusalem Ende des 12. Jahrhunderts/Anfang des 13. Jahrhunderts eine angenommene Tochter aus dem brennenden Haus ihres reichen jüdischen Ziehvaters, verliebt sich in sie, kann sie aber nicht heiraten, da am Ende rauskommt, dass sie Geschwister sind und ihr Vater der Bruder Sultan Saladins ist.
Auch die Zentralpassage ist berühmt, die Ringparabel. Sie wird in der Regel als Meisterstück eines Lessing'schen Toleranzgedanken gesehen, aber da hapert es meines Erachtens schon.
Lessing trennt im Stück konsequent zwischen Religionsgemeinschaften und Gläubigen. Die Ringe in der Ringparabel repräsentieren die drei Religionsgemeinschaften des Judentums, Christentums und Islam (ohne deren Aufsplitterung in verschiedenste Richtungen). Und diese sind eben nicht alle wahr, sondern sie sind alle falsch, da jede Religionsgemeinschaft nicht vor den anderen "angenehm" macht, sondern ausschließlich sich selbst liebt.
Genau diese Ansicht zieht sich konsequent durch das Stück: Religionsgemeinschaften sind gewalttätig (das Massaker von Gath, bei dem in dieser Stadt von christlichen Horden alle Juden ermordet wurden und Nathan seine ganze Familie und seine sieben Söhne verlor, ist beklemmender Höhepunkt des Stückes). Auch der christliche Patriarch als Repräsentant der Religionsgemeinschaft fordert das Verbrennen Nathans, weil er eine christliche Ziehtochter angenommen hat und ihr den Glauben verweigere.
Eine kleine Spitzfindigkeit ist auch, dass im Gespräch zwischen Saladin und Nathan, als Letzterer gerade seine Ringparabel vorgetragen hat, die beiden über Kriegskredite zu verhandeln beginnen.
Sehr eindeutig gegen die Selbstherrlichkeit der drei Religionsgemeinschaften gerichtet ist die Aussage des Tempelherrn gegenüber Nathan:
Wißt Ihr, Nathan, welches VolkEin wertvolles Wiederlesen, da der Text selbst meine verfestigte Erinnerung an diesen als falsche Erinnerung bestraft hat. Das Werk ist um vieles radikaler in seiner Kritik an Religionsgemeinschaften als von mir angenommen.
Zuerst das auserwählte Volk sich nannte?
Wie? wenn ich dieses Volk nun, zwar nicht haßte,
Doch wegen seines Stolzes zu verachten,
Mich nicht entbrechen könnte? Seines Stolzes;
Den es auf Christ und Muselmann vererbte,
Nur sein Gott sei der rechte Gott! – Ihr stutzt,
Daß ich, ein Christ, ein Tempelherr, so rede?
Wenn hat, und wo die fromme Raserei,
Den bessern Gott zu haben, diesen bessern
Der ganzen Welt als besten auf zudringen,
In ihrer schwärzesten Gestalt sich mehr
Gezeigt, als hier, als itzt?
(2. Aufzug, 5. Szene)