y
Wolfgang Krug:
Verleugnet eure Erinnerungen nicht!


Inmitten meiner Zweifel, ob es überhaupt noch Sinn macht, die Erinnerung an vergangene Tage wachzuhalten, las ich von einer Äußerung der damaligen PDS-Kandidatin für die Wahl des Bundespräsidenten. Frau Uta Ranke-Heinemann wußte, daß sie aussichtslos ins Rennen ging, aber sie sagte: „Einen Satz möchte ich nur loswerden: ‚Hört auf zu bomben!’“

Also müssen wir „Alten“ wohl zufrieden sein, in das größere Deutschland wenigstens einen Gedanken hinüberzuretten: „Verleugnet eure Erinnerungen nicht!“

Den 1. Mai 1947 erlebte ich als junger Angehöriger der Chemnitzer Ordnungspolizei und entsinne mich, daß er ganz im Zeichen der geeinten Arbeiterklasse stand. Es gehörte schon ein gerütteltes Maß an Optimismus dazu, beim Maiumzug inmitten der zerstörten Stadt rote Fahnen zu tragen, an Kultur und an ein einheitliches Deutschland zu denken, von denen auf Transparenten zu lesen war. Der schreckliche Hunger und die extreme Kälte des Winters 1946/1947 saßen allen noch im Genick, aber die ersten Sonnenstrahlen des Wonnemonats Mai ließen Hoffnung aufkommen. Wie eines meiner damaligen Fotos zeigt, nahm die Jugend die alten Innungsfahnen in Besitz und stellte die ersten - aus Resten genähten - FDJ-Fahnen mit der aufgehenden Sonne daneben.

Kommandeur der Chemnitzer Ordnungspolizei war damals Werner Pilz, der im Jahre 1945 als Angehöriger der einzigen bewaffneten Einheit des Nationalkomitees „Freies Deutschland“ an der Befreiung Breslaus teilgenommen hatte. Wir brachten ihm große Achtung entgegen. Es war für mich und vier weitere junge Polizisten deshalb keine Frage, seiner Bitte zu entsprechen und ihm nach der Berufung in die Landespolizeibehörde Thüringen dorthin zu folgen. Zunächst wurde aus dem bisherigen Oberschutzmann Krug ein Hauptwachtmeister, der das Geschäftszimmer der Thüringer Schutzpolizei leitete. Nach einiger Zeit - ich hatte mich inzwischen mit dem ganzen Schreibkram wie Aktenplänen, Posteingangs- und -ausgangsbüchern, Eingaben und Beschwerden, Befehlen und Anordnungen vertraut gemacht und die zahlreich aus- und eingehende Post einigermaßen unter Kontrolle gebracht - mußte ich jedoch einen Nachfolger einweisen und wurde mit einer neuen Aufgabe betraut: Die bisherige Autobahnpolizei sollte unter meiner Leitung zunächst in eine motorisierte Straßenpolizei und danach in eine motorisierte Schutzpolizei des Landes Thüringen umformiert werden.

Es erforderte Monate angestrengter Arbeit, bis aus der nur entlang der Thüringer Autobahn in dreißig Kommandos stationierten Fußtruppe eine motorisierte Polizeitruppe entstand, die von Ost nach West und von Nord nach Süd im gesamten Territorium disloziert und frei beweglich war. Ihre Aufgaben bestanden vor allem in der Bandenbekämpfung, dem Einsatz gegen Hamsterer und Schieber, der Durchsetzung der Straßenverkehrsordnung sowie der Sicherung von Großveranstaltungen. Später sollten für uns zusätzliche Sicherungsmaßnahmen beim Deutschlandtreffen und den III. Weltfestspielen in Berlin sowie die Absicherung aller Thüringer Motorrad- und Radrennen hinzukommen.

Zunächst mußte jedoch nicht nur kurzfristig zusätzliches geeignetes Personal gefunden und ausgebildet, sondern unter den damaligen schwierigen Bedingungen vor allem eine ausreichende materielle Basis geschaffen werden. Aus der ČSR erfolgte die Zuführung von dreißig Solokrädern. Aber die meisten Kraftfahrzeuge - Kübelwagen, Beiwagen- und Solokräder, selbst die leichten Transportfahrzeuge mit Anhängern für Fahrräder und Ersatztreibstoff - wurden in Eigenleistung zusammengebaut.

Über unseren Nachwuchs in den Stützpunkten Eisenach, Erfurt, Jena, Weimar, Gera, Saalfeld und Suhl brauchten wir uns keine Sorgen zu machen. Zu diesem Zweig der Schutzpolizei strömten unentwegt technisch interessierte junge Leute.

Im Frühjahr 1949 schlossen wir die Umformierung erfolgreich ab und erhielten kurz danach - am 13. April 1949 - vom Chef der Landespolizeibehörde Thüringen den ersten richtigen Einsatzbefehl. Für unsere Truppe ging es bei diesem Fall also nicht nur um Dingfestmachung eines skrupellosen Kriminellen, sondern um unsere Feuertaufe. Es ist deshalb kein Wunder, daß ich mich noch nach fünfzig Jahren genau an ihn erinnere.

Von der Kreiskriminalpolizeiabteilung (KKPA) Mühlhausen wurde der Landeskriminalpolizei ein kurz zuvor in Windeberg verübter nächtlicher Einbruch mit versuchter Erpressung und unter Benutzung einer Pistole gemeldet. Die sofort in Marsch gesetzte - aus drei Mann bestehende - Streife des Kreispolizeiamtes hatte zwar am frühen Morgen nahe Mühlhausen einen Verdächtigen mit einem Rucksack voller Wäsche sowie einem Korb Lebensmittel festgenommen, ihn aber für einen der eher „harmlosen“ Hamsterer gehalten. Nach flüchtiger Durchsuchung beauftragte der Streifenführer deshalb einen Oberwachtmeister, den Festgenommenen zum Kreispolizeiamt zu bringen und setzte den Streifengang mit seinem Begleiter fort. Kurz danach fielen mehrere Schüsse. Die zurückeilenden Polizisten fanden den Oberwachtmeister mit Schußverletzungen am Boden liegend, während der Täter in Richtung Görmar-Mühlhausen entkommen war.

Nach Eingang dieser Spitzenmeldung in der Landespolizeibehörde wurde für den Kreis Mühlhausen Großfahndung angeordnet, und die benachbarten Kreise sowie das Bahnpolizeiamt Erfurt erhielten die Aufforderung zur Mitfahndung. Die motorisierte Schutzpolizei wurde nach Mühlhausen beordert und zur Suche nach dem flüchtigen Täter systematisch in den umliegenden Ortschaften eingesetzt.

Inzwischen hatte die Vergleichsarbeit der Landespolizeiabteilung, Dezernate E/F (Erkennungsdienst und Fahndung) ergeben, daß es sich bei dem Täter um den wenige Tage zuvor vom Außenkommando des Zuchthauses Untermaßfeld entwichenen Häftling Walter W. aus Langensalza handeln konnte, der unmittelbar nach seinem Ausbruch Zivilkleidung entwendet hatte. Diese Vermutung wurde von den beiden unverletzten Streifenpolizisten und dem Einbruchsopfer aus Windeberg nach Vorlage des Fotos sowie Beschreibung der Kleidungsstücke bestätigt und für den sofortigen Druck von Fahndungsplakaten genutzt.

Die motorisierte Schutzpolizei wurde angewiesen, die Dörfer in Richtung Langensalza abzufahren, durch die Bürgermeister Täterbeschreibung nebst Tathergang ausrufen zu lassen und sachdienliche Hinweise aus der Bevölkerung entgegenzunehmen. Tatsächlich meldete sich am Spätnachmittag ein Bahnwärter bei uns, der besagten W. kannte und ihn am Morgen, auf den Gleisen in Richtung Langensalza gehend, angetroffen hatte. Danach erhielten wir die Weisung, die Ausfallstraßen Langensalzas sowie die umliegenden Ortschaften schlagartig zu besetzen.

Inzwischen beobachtete die Kreiskriminalpolizeiabteilung Langensalza die Wohnungen der Verwandten des W. und nahm seine Frau am späten Abend vorläufig fest. Offenkundig befanden sich diese sowie zwei weitere weibliche Verwandte im Einverständnis mit ihm. Unterschlupf hatte er in der schwesterlichen Wohnung gefunden, die Mutter sollte ihn dort bei Gefahr warnen und die Ehefrau bekam auf dem Weg zum Kreispolizeiamt direkt vor der schwiegermütterlichen Wohnung einen hysterischen Anfall, um diese anzukündigen.

W. wurde nach kurzem Widerstand festgenommen und legte danach ein umfassendes Geständnis ab. Es stellte sich nicht nur heraus, daß er bereits seit 1947 bewaffnete Einbrüche begangen und Menschen verletzt, sondern auch für die Zukunft weitere Raubzüge unter Einsatz der Schußwaffe geplant hatte.

Die Gerichtsverhandlung fand vor etwa 600 Zuhörern am 29. April 1949 in Mühlhausen statt. Das Urteil lautete auf mehrere Jahre Freiheitsentzug.

Durch das koordinierte Zusammenwirken aller Dienstzweige war eine wichtige Fahndungsmaßnahme erfolgreich abgeschlossen worden, und unsere neuformierte motorisierte Schutzpolizei hatte ihre erste Bewährungsprobe bestanden.

Diese Episode ist nur eine von vielen und kaum weniger interessanten, die sich mit meiner Weimarer Zeit (1948 - 1952) verbinden. Ich habe die Stadt Goethes und Schillers damals liebgewonnen und verfolge aus meiner jetzigen Heimatstadt Potsdam mit Interesse, was sich dort in der Gegenwart ereignet. Dabei stelle ich leider fest, daß Weimar und Potsdam trotz aller Unterschiede heute etwas gemeinsam haben: den Kleinkrieg um die jüngste Vergangenheit. Ausgerechnet während die NATO in Jugoslawien bombte, begann sich der aus dem Westen gekommene Generalbeauftragte der Europäischen Kulturstadt 1999 um die kulturellen Instinkte der Weimarer und ihrer Gäste zu sorgen. Da diese durch den leckeren Duft der seit Jahrzehnten in Nähe des Deutschen Nationaltheaters angesiedelten Bratwurststände (Pfui über die „kulturlose“ DDR!) negativ beeinflußt werden könnten, schlug er eine Bannmeile vor. Allerdings war der Widerstand der Weimaraner gegenüber einem solchen Ansinnen vorprogrammiert. Und am 19. Mai 1999 wurden auf der Schillerstraße kostenlos eintausendfünfhundert Thüringer Rostbratwürste an die Passanten verteilt, um dem Herrn Generalbeauftragten zu zeigen, „wo Bartel den Most holt“.

Die Parallele zu Ereignissen in Potsdam ist für mich naheliegend, nur schmerzhafter. Um dies zu verdeutlichen, kann ich unmittelbar an die zuvor geschilderten Maßnahmen zur Durchsetzung von Sicherheit und Ordnung im Land Thüringen anknüpfen.

Jeder von uns war derart in diese schwierigen Aufgaben eingespannt, daß ein zu gleicher Zeit in Potsdam entstehendes Bauwerk völlig unserer Aufmerksamkeit entging. Aber es wurde das schönste Sportstadion im ganzen Lande Brandenburg, und gebaut hatten es die Potsdamer Volkspolizisten unter maßgeblicher Mithilfe der Mitarbeiter anderer Dienststellen und Behörden, der FDJ und großer Teile der Bevölkerung. In der Trümmerwüste der Potsdamer Innenstadt hatten sie Gleise verlegt und mit Loren in „Handarbeit“ den Trümmerschutt herangekarrt. So war innerhalb weniger Monate ein wahres Kleinod entstanden - eine sportliche Anlage mit überdachter Tribüne, einem Fußballfeld, Leichtathletikanlagen und Sitzplätzen im weiten Rund.

Wir erfuhren davon erst mit der Einladung zur Einweihung eines Stadions der Volkspolizei und fuhren voller Vorfreude mit einem klapprigen Bus (und unter Inkaufnahme der üblichen Reifenpannen) nach Potsdam. Es wurden unvergeßliche, erlebnisreiche Tage für die aus allen Teilen der damaligen sowjetischen Besatzungszone angereisten Volkspolizisten, die in ihren Heimatorten einen oft schweren und aufopferungsvollen Dienst versahen. Die Gastfreundschaft der privaten Quartiergeber war hervorragend, die Organisation klappte und unsere Verpflegung war unter damaligen Gesichtspunkten von erster Güte. Aber den absoluten Höhepunkt bildete die feierliche Einweihung des „Ernst-Thälmann-Stadions“ am 3. Juli 1949 mit zwanzig- oder dreiundzwanzigtausend Besuchern sowie herzlich begrüßten Ehrengästen wie Wilhelm Pieck, Rosa Thälmann und Heinrich Rau. Gegen 13 Uhr marschierten Delegationen der Polizei und die„Ernst-Thälmann-Bereitschaft“ aus Großenhain/Sa. in weißen Uniformen und Begleitung des Polizeiorchesters Brandenburg durch die Potsdamer Innenstadt, vorbei am zerstörten Stadtschloß, dem angeschlagenen Brandenburger Tor und durch die heutige Brandenburger Straße zurück zum Stadion. Nach einem Fanfarensignal begann der Einmarsch. Voran eine Fahnendelegation, dann die Sportlerabordnungen der Länder, die Teilnehmer einer Massengymnastikgruppe, die Volkstanzgruppen der Brandenburger Polizei ... Chefinspekteur Richard Staimer sagte in seiner kurzen Begrüßungsansprache unter anderem: „Aus dem ehemaligen Exerzierplatz des preußischen Militärs soll ein Tummelplatz für die sportbegeisterte Jugend werden.“ Die nachfolgende Veranstaltung kann ich nicht mehr in allen Einzelheiten wiedergeben. Aber es herrschte Volksfeststimmung, und die Leichtathletikwettbewerbe, das Fußballspiel zwischen den Länderauswahlen der Thüringer und der Brandenburger Polizei sowie die Vorführung der motorisierten Schutzpolizei blieb mir bis heute im Gedächtnis.

Auch in den folgenden Jahren erlebte unser Stadion große Höhepunkte wie die Friedensfahrtetappe mit Gustav-Adolf Schur, nationale und internationale Leichtathletikveranstaltungen, Kinder- und Jugendspartakiaden, Filmveranstaltungen und Rockkonzerte. Leider begann in den siebziger Jahren der Abstieg dieser traditionsreichen Stätte. Versuche, das Stadion z. B. durch Verlegung der erfolgreichen Fußballmannschaft „Dynamo Hohenschönhausen“ nach Potsdam neu zu beleben, blieben Eintagsfliegen.

Nach der sogenannten „Wende“ wurde immer wieder die Frage nach Abriß oder Sanierung gestellt. Da sich die Sanierung angeblich „nicht rechnete“ und sich dafür auch keine Sponsoren fanden, ging die Rechnung einiger „geschichtsbewusster“ Potsdamer auf, nach deren Meinung auf den Boden des vom Großen Kurfürsten Ende des 17. Jahrhunderts errichteten Lustgartens kein Stadion gehört. Sie feierten jeden Fund eines Steinbrockens oder eines vermutlichen Stadtschloßteiles und ignorierten den Schweiß und die Anstrengungen der Aufbauhelfer von 1949. Diese „Abrissbeschleuniger“ ignorierten selbst den Beschluß der Potsdamer Stadtverordnetenversammlung, wonach ein Abriß nur für den Fall vorgesehen wurde, daß neue Sportanlagen für den Schul- und Freizeitsport vorhanden sind. Davon ist bisher nichts zu sehen. Und nach den kürzlich erschienenen Zeitungsberichten über die vermutliche Nichtrealisierung vieler im sogenannten „Goldenen Plan“ zur Sanierung und zum Ausbau der ostdeutschen Sportstätten vorgesehenen Maßnahmen müssen wir Potsdamer vermutlich auch noch länger darauf warten.

Das Stadion einschließlich der Gedenktafel von 1949 ist „entsorgt“, und die Arbeit unserer Volkspolizisten wird ebenso verleumdet wie die gesamte DDR.

Ich wollte mit meiner Schilderung von weit zurückliegenden Ereignissen in Weimar und Potsdam, in Thüringen und Brandenburg, dazu beitragen, daß vorhandenes Faktenwissen über unsere Vergangenheit nicht auch auf diese Weise beseitigt, sondern im Gedächtnis bewahrt wird.