"Spurensicherung. Wege in die DDR" GNN Verlag
22.06.2016 um 15:07Dr. Johanna Jawinsky:
Meine Erlebnisse mit der FDJ
1945 war für uns die Schule beendet. Ich hätte noch zwei Jahre in die Mittelschule gehen müssen, die gab es aber nicht mehr. Im Herbst ging ich auf Arbeitsuche. Ich wollte eigentlich Fotografin werden. Mit meiner Mutter suchte ich mehrere Fotografen auf, aber niemand wollte Lehrlinge ausbilden.
Im Dezember 1945 hörte ich von meiner Freundin, daß der Betrieb Pinsker & Co. Hilfsarbeiter einstellt. Ich wurde angenommen, mußte aber, wie es mir die Betriebsrätin sagte, sofort in die Gewerkschaft eintreten. Das war ein Betrieb, der verschiedene chemische Produkte herstellte. Wir arbeiteten oft mit Chlor, das uns die Hände kaputt machte und helle Flecken in die Kleidung brannte. Da verdiente ich 35 Pfennig in der Stunde. Das waren in der Woche 16 bis 17 Mark. Ein Brot auf dem schwarzen Markt kostete aber 30 bis 40 Mark. Wenigstens hatte ich Arbeit. Außerdem versprach man uns, daß wir Drogistenlehrlinge werden könnten. Ich lernte schon mal etwas Latein. Aber aus der Lehre wurde nichts. Nur ein Mädchen wurde später genommen, da war ich aber schon nicht mehr in dem Betrieb. Man wollte uns mit dem Versprechen wohl nur als billige Arbeitskräfte halten.
Während ich also für 35 Pfennig Stundenlohn arbeitete, bekamen die erwachsenen Frauen 50 bis 65 Pfennig. Eines Tages wurde gegenüber unserem Betrieb ein Plakat angebracht mit der Forderung, vier Grundrechte der jungen Generation durchzusetzen. Mich interessierte daran eigentlich nur die Forderung: Gleicher Lohn für gleiche Leistung. Wir Mädchen leisteten nämlich dasselbe, wie die älteren Arbeiterinnen. Auf dem Plakat stand noch, wer sich dafür einsetzen wolle, der komme am soundsovielten zum Stellplatz. Von dort aus gehe es mit einem LKW zu einer Kundgebung nach Oelsnitz in unsere Kreisstadt. Ich überlegte tagelang, ob ich daran teilnehmen sollte. Dann gab ich mir sozusagen einen inneren Ruck, überwand meine Scheu und fand mich zum angegebenen Zeitpunkt am Treffpunkt ein. Wir waren vielleicht 15 bis 20 Jugendliche. Als wir ankamen, war der Saal schon fast voll. Wir bekamen nur noch in den hinteren Reihen Platz. Am Anfang sprach Robert Bialek von der FDJ-Landesleitung Sachsen für die Grundrechte der jungen Generation. Danach nahm „Herr“ Mischnick von der LDPD das Wort, der später in der FDP der Bundesrepublik eine große Rolle spielte. Er versuchte uns klarzumachen, daß dies alles nicht so ginge. In Erinnerung ist mir noch das Argument, man könne der Jugend mit 18 Jahren nicht das Wahlalter und damit das politische Mitbestimmungsrecht einräumen, sie sei nicht reif dafür. Die Jugend sei es ja gewesen, die Hitler hinterhergerannt wäre. Das wichtigste Gegenargument Bialeks war für mich: Wenn die Jugend mit 18 Jahren „reif“ war, in die Schützengräben geschickt zu werden, dann muß ihr auch das Recht zuerkannt werden, über ihr Schicksal zu bestimmen. Außerdem hätte nicht „die Jugend“ für Hitler gestimmt, sondern die ältere Generation. (Ich war 1933 gerade zwei Jahre alt. Das leuchtete mir also ein.) Er sagte auch, daß sich die Jugend mit Politik befassen muß, damit sie nicht wieder von Politikern mißbraucht werden kann. Die Veranstaltung verlief recht stürmisch. Gepfiffen wurde damals noch nicht. Entweder wurde stürmisch Beifall geklatscht oder es wurde unruhig im Saal. Es gab Pfui- und andere Rufe.
Bei der Debatte ging es nicht darum, einer Partei recht zu geben - Bialek war Mitglied der SED - und gegen die anderen Parteien, die viele Einwände gegen die Grundrechte hatten, Stellung zu nehmen. Es sprach auch ein Mädchen, die der CDU (oder der LDPD?) angehörte und Mitglied des Kreisvorstandes der FDJ war. Auch sie war für die Grundrechte der jungen Generation und bekam viel Beifall.
Zurückgekehrt in den Betrieb, warf ich das Problem des gleichen Lohnes auf. Die Gewerkschaftsvertreterin war aber in dem kleinen Betrieb, in dem jeder jeden kannte, eng mit dem Chef liiert und sagte, wir Jugendlichen müßten einsehen, daß die älteren Frauen mehr verdienen müßten, weil sie Familien zu ernähren hätten. Oft waren die Männer noch in Kriegsgefangenschaft oder gefallen. Daß von unserer billigen Arbeitskraft aber nicht die Frauen, sondern der Chef profitierte, leuchtete ihr nicht ein. Allein traute ich mich aber nicht weiter vor, sondern ging zum Ortsvorstand des FDGB. Der ältere Kollege, mit dem ich dort sprach, sagte mir zu, in den Betrieb zu kommen. Ergebnis war, daß ich und die anderen Jugendlichen mehr Lohn erhielten. Es gab dann auch einen entsprechenden Befehl der SMAD, und das half natürlich sehr. Der Kollege vom Ortsvorstand sprach mich dann an, ob ich nicht in der Jugendkommission des FDGB mitarbeiten wolle, und so kam ich zu meiner ersten Funktion. Übrigens habe ich den privatkapitalistischen Betrieb 1947 verlassen können und bekam eine Lehrstelle als Industriekaufmann in dem kommunalen Wirtschaftsunternehmen (KWU) Kreisdruckerei Adorf. Wie ich erfuhr, wurde der Betrieb Pinsker & Co. geschlossen, weil der Chef nach Westdeutschland ging. Dabeiblieb er den alleinverdienenden Frauen den Lohn für mehrere Wochen schuldig.
In die FDJ bin ich erst einige Monate nach ihrer Gründung eingetreten. 1945 war ich 14 Jahre alt. Meine Grundhaltung war: Von Politik will ich nichts mehr wissen. Warum? Als Kinder waren wir im Jungmädchenbund (JM). Dort sangen wir Lieder, sammelten Heilkräuter, übten Marschieren. Das war übrigens „Muß“ - obwohl ich es nicht so empfand. Auch das Tragen der Uniform. Wenn einer nicht freiwillig kam, wurde er mit der Polizei geholt. Das habe ich einmal selbst gesehen. Wir waren vor der Mädchenschule angetreten, da brachte ein Polizist einen Jungen in Zivil. Der mußte in der letzten Reihe mitmarschieren. Später erfuhr ich, daß das der Sohn des Kommunisten Kurt Rottmann, Rolf Rottmann, war.
Politisch war ich dumm. Ich kannte nicht einmal die Namen Karl Marx, Rosa Luxemburg und Ernst Thälmann. Auch, daß es Konzentrationslager gab, wußte ich nicht. Ich kann mich nur erinnern, daß meine Mutter sich dagegen aussprach, daß man dem jüdischen Inhaber eines Geschäfts in der Elsterstraße die Scheiben eingeschlagen hatte, und meine Großmutter, die mit in unserer Familie lebte, ihrem erwachsenen Sohn erregt untersagte, an solchen Aktionen teilzunehmen. Selbst hatte ich gesehen, daß durch die Elsterstraße Gefangene in Sträflingskleidung, auf offenem LKW stehend und aneinandergefesselt, transportiert worden waren. Das Bild hatte ich lange Zeit vor Augen. Damals dachte ich: Auch wenn das Verbrecher sind, dürfte man mit ihnen nicht so umgehen. (Wahrscheinlich waren das Tschechen, die man nach der Besetzung der Tschechoslowakei festgenommen hatte.)
Man tat auch einiges, uns zu überzeugen, daß das, was die Nazis wollten, richtig sei. So wurden wir zum Beispiel eines Tages in die Aula der Mädchenschule beordert. Dort sprach ein junger Offizier, der im Krieg seinen Arm verloren hatte, darüber, daß man für die Verteidigung der Heimat sein Leben einsetzen müsse. Das sei Heldentum. Ein Argument damals lautete, wir Deutschen hätten einen viel zu kleinen Lebensraum und könnten uns nicht ausreichend ernähren. Daher brauchten wir Land, wovon es im Osten genügend gäbe und wir müßten den Menschen dort „Kultur“ beibringen.
Nachdenklich wurde ich, als mein Vater Urlaub von der Ostfront bekam. Ich hatte meine JM-Uniform an, weil ich zum „Dienst“ mußte. Er sagte zu mir, er sähe es nicht gern, wenn ich mich zu aktiv beteilige. Ich muß ihn wohl sehr dumm angesehen haben. So erklärte er mir: In Rußland haben sie zwar Holzhäuser, aber sie sind damit zufrieden und wollen gar nicht anders leben. Was sollen wir dort? Später, das kann aber schon nach 1945 gewesen sein, fügte er hinzu: Wir älteren Soldaten vom Flugplatzpersonal bekamen allmählich ein gutes Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung. Wir tauschten Tabak gegen Schnitzereien, Brot gegen Eier und andere Dinge. Sie holten also ihre Vorräte wieder aus den Verstecken. Dann aber kamen die „Eliteeinheiten“ und nahmen ihnen alles weg, auch wenn sie es gar nicht brauchen konnten. Daß die Leute verhungern müssen, kümmerte sie nicht.
Nach den vielen „Siegen“ kam der Krieg nach Deutschland zurück und auch bis in den letzten Winkel ins Vogtland. Meist flogen die amerikanischen Bombengeschwader über Adorf zum von uns ca. 24 km entfernten Plauen. Wir sahen, wie sie „Christbäume“ setzten (Aufklärer warfen dort, wo die Bomben hinfallen sollten, Leuchtraketen ab) und hörten die Bombeneinschläge. Die Erde bebte. Als sich die Russen und Amerikaner schon bei Torgau an der Elbe vereint hatten, war Adorf immer noch zur Festung erklärt. In Adorf beschlagnahmte man Fahrräder - sogar mein Mädchenfahrrad. (Dafür besitze ich noch eine Quittung.) Damit sollten die jungen Soldaten gegen die amerikanischen Panzer kämpfen! Wir hatten damals in unserer Gaststube solche jungen Kerle zur Einquartierung. Von ihrem Einsatz kamen nicht mehr alle zurück. Einer von ihnen wollte sich in unserer Gaststätte, wo sie auf Stroh kampierten, in den Oberschenkel schießen, damit er verwundet ist und nicht mehr kämpfen braucht. Ein anderer versuchte aber, es ihm auszureden, weil er dann von einem Kriegsgericht erschossen würde. Ich bekam es mit der Angst zu tun und verzog mich. Daher weiß ich nicht, wie die Sache ausgegangen ist.
Die Amerikaner, die schon bei Bergen oder Ebmath (ca. 6 km entfernt von Adorf) lagen, schossen mit Artillerie nach Adorf hinein. Es gab Tote. Auch meine Schwester hätte es beinahe erwischt, als sie zu unserer Großmutter wollte und in der Freiberger Straße eine Granate in die Friedhofsmauer einschlug. Auch Flugzeuge beschossen die Stadt am hellichten Tag, ohne auf Gegenwehr zu treffen. Einmal dachte ich, das seien Bomben und rannte wie ohne Besinnung in den Keller, obwohl ich nur mit dem Oberteil meines Schlafanzuges bekleidet war. Da der Beschuß mit Artillerie immer stärker wurde und unberechenbar war, trauten wir uns schließlich nicht mehr aus dem Keller. Die dort aufgestellten Betten wurden allmählich feuchtklamm. Besonders viele Treffer erhielt die ganz in unserer Nähe gelegene Adolf-Hitler-Straße. Eines Nachts hörten wir nach mehreren Einschlägen einen Mann lange qualvoll um Hilfe rufen. Das ging uns durch Mark und Bein. Am nächsten Tag erfuhren wir, daß das ein junger Soldat war, der vor der Kommandantur Wache gestanden hatte. Er hatte einen Bauchschuß bekommen und soll daran gestorben sein. Meine Tante, die niemals mehr als einen Kilometer zu Fuß gegangen war, erlebte in Plauen einen Bombenangriff. Sie rannte durch die rauchenden Trümmer und lief die 24 km nach Adorf wie besinnungslos. Krieg ist ganz anders als in den Filmen, wie sie heute gezeigt werden.
Ungeheuerlich war die Nachricht, daß in einem Dorf in der Nähe der Stadt noch in den ersten Maitagen mehre junge Soldaten von den sogenannten „Kettenhunden“ (Militärpolizei) erschossen worden sind. Es war in Deutschland fast kein Fleckchen Erde mehr unbesetzt, Hitler längst tot und der Krieg, das mußte den Dümmsten klar geworden sein, rettungslos verloren. Da wollten die Jungen, weil sie auch dort in der Gegend wohnten, wie berichtet wurde, einfach nach Hause gehen. Sie hatten ganz normal reagiert und mußten dafür sterben.
Schließlich wurde auch Adorf besetzt. Mit unserer „Niederlage“ brach eine Welt für mich zusammen. Schuld war nach unserer Meinung die Politik. Daher wollte ich nichts mehr von Politik wissen und mich auch nie mehr irgendwo organisieren. Ob und wie wir weiterleben könnten, war völlig unklar.
In den Maitagen 1945 waren zuerst die Amerikaner mit ihren Panzern und Jeeps nach Adorf gekommen. Sie feierten ihren Sieg und schossen oft betrunken mit ihren Pistolen herum. Es war nicht ungefährlich. Uns haben sie von den alkoholischen Getränken, die meine Eltern noch von der Gastwirtschaft her im Keller hatten, „befreit“. Übrigens hatten wir nach der Besetzung unserer Gaststätte durch deutsche Landser dann Besetzung durch die Amerikaner, die allerdings nicht mehr auf Stroh, sondern in ihren Schlafsäcken schliefen. Eines Tages sagte ein Offizier zu uns: Wir rücken bald ab, dann kommen die Russen. Erst glaubten wir es nicht. Dann war es aber doch so. In der Nazizeit hing auf unserem Marktplatz ein Plakat. Darauf waren die Russen als „Untermenschen“ charakterisiert worden. Ein Mann hatte ein bluttriefendes Messer zwischen den Zähnen. Durch die Nazipropaganda dermaßen beeinflußt, dachten wir: Nun ist alles zu Ende. Wir hatten ein Hinterhaus, das früher als Stall genutzt worden war und in dem noch Heu lagerte. Dort wollte ich mich mit meiner Schwester verstecken. Die „Russen“ kamen, aber es blieb alles ruhig. Dennoch trauten wir uns nicht auf die Straße. Als ich dann schließlich doch zum ersten Mal hinausging, sah ich ein großes Transparent. Es war von einer Seite der Straße zur anderen gespannt, und zwar in der Straße, durch die Adolf Hitler einmal in der Limousine, von Bayern kommend, nach Sachsen gefahren war. Auf dem Transparent stand: „Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk und der deutsche Staat aber bleibt! J. W. Stalin“.
Welche Wirkung das auf mich hatte, ist schwer in Worten auszudrücken. Wir hatten doch alle gedacht, nun würde man sich gnadenlos an uns rächen. Und nun dieser Satz?! (Dabei wußten wir noch kaum etwas von den Verbrechen, die den sowjetischen Menschen angetan worden waren. Der Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß begann erst später.)
Der sowjetische Kommandant wohnte auf dem Marktplatz im Haus neben der Apotheke. Eine seiner ersten Maßnahmen war: Er schickte einen LKW mit Anhänger nach Salzwedel, um Gemüse für die Bevölkerung heranzuschaffen ... Ein anderes Beispiel: In unser Haus zog der stellvertretende Kommandant mit Frau ein. Wir sollten das Haus räumen. Meine Mutter, die immer sehr couragiert war, bat aber darum, daß wir die Gaststätte behalten dürften, weil das unsere Existenzgrundlage sei. Wir durften dann sogar im Haus wohnen bleiben und mußten nur einige Zimmer abgeben. Eines Tages bestellte der Offizier meinen Vater zu sich. Es dauerte Stunden, und mein Vater kam und kam nicht wieder. Wir hatten mächtige Angst, denn mein Vater war aus englischer Gefangenschaft nur in die britische Besatzungszone entlassen worden und hatte die zwischen den Besatzungszonen gezogene Grenze illegal überquert, um nach Hause zu kommen. Mußte er jetzt noch mal in Gefangenschaft? Aber es war nicht nur das. Die Angst saß uns sowieso immer noch im Nacken ... Endlich kam er wieder, mit hochrotem Kopf. So betrunken hatte ich meinen Vater noch nie gesehen. Er hatte mit dem Offizier immer noch mal „sto (hundert) Gramm“ mittrinken müssen. Später überlegten wir: Der Offizier wollte wohl nur wissen, wer mit ihm unter einem Dach lebte.
Die „Russen“ waren zu uns nicht mehr aus den Kampfhandlungen heraus, sondern bei schon einigermaßen geordneten Verhältnissen gekommen. Daher sind mir keine Übergriffe, die es anderswo bestimmt gegeben hat, bekannt geworden. In der ersten Zeit gab es jedoch einen Vorfall. Es hieß, eine Frau sei von einem Soldaten vergewaltigt worden. Der Kommandant habe diesen eigenhändig verprügelt und in ein „Arbeitslager“ geschickt. Es wurde aber bekannt, welche Frau das war. Es war ein sogenanntes „Ami-Liebchen“. Das waren solche Mädchen, die förmlich zu den Amis auf die Panzer gekrochen waren und für Schokolade und Zigaretten auf alles eingingen. Deshalb sagten die Leute: Der Russe, der arme Kerl, konnte ihr wohl nicht genug bieten.
Nun will ich mal vorgreifen: Als ich einige Zeit in der FDJ war, wurde ich auch ehrenamtlicher Funktionär in der Ortsgruppe. Ich weiß nicht, ob es schon in der Zeit war, als ich Ortsvorsitzende gewesen bin. Jedenfalls bestellte mich der Jugendoffizier zu sich. Das war in der Nähe des später gebauten Kinos in einer Villa. Er fragte mich: Wie denken die Jugendlichen der verschiedenen Klassen und Schichten in Adorf? Was, es gibt Klassen? dachte ich. Nun kannte ich ja ziemlich viel Jugendliche und wußte auch, was sie für Ansichten hatten, aber es war mir noch nie in den Sinn gekommen, daß sie verschiedenen Klassen angehörten. An diesem Tag habe ich jedenfalls nur allgemein sagen können, mit welchen Problemen sich die jungen Leute beschäftigten.
Unsere Ortsgruppe wurde größer, und die Interessen der Heiratsfähigen - es gab auch schon Verlobte - unterschieden sich doch sehr von denen der Vierzehnjährigen. Da bildeten wir zwei Gruppen und die Gruppe der Jüngeren übernahm ich. Mit diesen machten wir viele lustige Dinge, führten Scharaden vor und übten das Schattenspiel Max und Moritz ein. Da es aber viele Vorbehalte gegenüber den „Russen“ gab, wollten wir auch einen Heimabend nutzen, um über die Sowjetunion zu sprechen. Der Jugendoffizier hatte mir ja versprochen, zu helfen und jemand zu schicken. Der Heimabend kam heran, wir saßen im Jugendheim (das war ein Raum in der Villa eines ehemaligen Fabrikbesitzers am Remtengrüner Weg) an einem runden Tisch und ein paar hinzugestellten Stühlen. Da kam ein junger Soldat, den Kopf kahl geschoren - jetzt ist das ja modern, aber damals gab es das sonst nur bei Sträflingen und bei den einfachen Soldaten der Roten Armee - und er hatte einen Mantel an, der unten etwas fransig war. (Die Mäntel wurden bei ihnen nicht eingenäht, sondern unten entsprechend der Länge einfach abgeschnitten.) Ich sah schon alle Felle wegschwimmen, weil alle gleich so guckten, als wollten sie sagen, was will denn der uns schon erzählen. Aber dann hatte er eine adrette Uniform mit weißen Krageneinsätzen an und sprach in sauberstem Deutsch, wie es ein Vogtländer wohl in seinem ganzen Leben nicht hinbekommt, über die Geschichte des Komsomol. Er berichtete u. a. darüber, daß ein Komsomolze, weil er sich für die Kollektivierung der Landwirtschaft eingesetzt hatte, im Walde ermordet worden war. Es stellte sich heraus, daß es der eigene Großvater war. Der Klassenkampf ging oft mitten durch die Familien. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so hörten die Jungen und Mädchen zu. Es kam dann auch noch zu einem Gespräch - also, es wurde ein Erfolg.
Ich habe das eingefügt, weil die Haltung der sowjetischen Besatzungstruppen für uns sehr wichtig war. Nachdem unsere sogenannten Ideale von Heldentum, die uns die Nazis vorgegaukelt hatten, in Nichts zerfallen waren, versuchten wir, uns über vieles klar zu werden. Anfangs gab es in Adorf einen Antifaschistischen Jugendausschuß. In diesem waren vor allem die Kinder von Kommunisten. Ich ging aber nicht hin, obwohl sie alle Jugendlichen einluden: Das sind ja nur Kommunisten. Dann gewannen sie einen ehemaligen HJ-Führer. Das hat mir und anderen auch wieder nicht gefallen. Ein Problem war auch, daß sie alles richtig fanden, was die Sowjetunion betraf. Ich versuchte daher selbst herauszufinden, wie es wirklich war. Dabei half mir, daß mir das Buch von Scholochow „Neuland unterm Pflug“ in die Hände fiel. Darin waren auch die Fehlgriffe, wie zum Beispiel die Kollektivierung der Hühner, geschildert. Überhaupt spielten die Bücher von Scholochow und Konstantin Simonow für mich eine große Rolle.
Auf jeden Fall wurde damals sehr viel diskutiert. Als ich in die FDJ eingetreten war, ging ich öfter zu den Heimabenden und hörte mir die Diskussion an. Auf dem Heimweg diskutierten wir weiter. Ich weiß noch, daß ich einmal um Mitternacht noch auf dem Thälmannplatz mit einem Jugendfreund weiterdiskutierte und mir plötzlich durch den Kopf ging: Ich diskutiere hier stundenlang über Politik, dabei wollte ich doch eigentlich gar nichts mehr davon wissen.
Um welche Probleme ging es dabei. Es wurde ernsthaft von einigen Jungen gesagt, die Frauen haben eine kleinere Gehirnmasse, daher seien sie nicht so klug wie die Männer und sollten die Hände von der Politik lassen. Frauen gehören nun mal an den Kochtopf. Dagegen wurde gehalten, dies habe bereits August Bebel widerlegt, weil es eben nicht auf die Masse ankommt - Elefanten und Pferde hätten viel mehr davon als die Menschen - sondern auf die Struktur des Gehirns. Ähnlich verhielt es sich mit der Rassenfrage. Viele waren nun schon der Meinung, daß man Menschen wegen ihrer Rasse nicht verfolgen dürfe. Es gebe aber intelligentere (die weiße Rasse) und weniger intelligente, und daher müßten die Intelligenteren doch bestimmen, was gemacht werden muß. Heute ist außer Ignoranten jedem klar, wie unsinnig solche Behauptungen sind, aber damals stritten wir uns darüber die Köpfe heiß.
Einmal hatten wir einen Pfarrer eingeladen, der bekanntermaßen oft in Jugendgruppen auftrat. Dieser führte aus, daß an allem Unglück die drei großen „M“ schuld seien. Diese M waren - wenn ich mich recht erinnere - Militär, Massen und Maschinen. In bezug auf das Militär gab es keinen Widerspruch. Aber auf das Stichwort „Maschinen“ hätte ich keine Antwort gewußt. Wir hatten aber doch schon einige gut informierte Jugendfreunde und diese setzten sich energisch mit dem redegewandten Mann auseinander und brachten ihn ganz schön in Schwierigkeiten, indem sie erklärten, nicht die Maschinen sind die Verursacher von Unglück, sie helfen dem Menschen, die Arbeit zu erleichtern. Es kommt aber darauf an, in wessen Händen sie sich befinden.
Ein wichtiges Erlebnis für mich war auch ein Heimabend mit Trude Rottmann-Mittag. Daß ich sehr gern zu diesem Heimabend gegangen wäre, kann ich nicht sagen. Trude sollte über ihre Erlebnisse im KZ berichten. Zu der Zeit wußten wir schon vieles über die KZ, und mir ging das immer ganz schön an die Nieren. Ich ging also eigentlich mehr aus innerer Disziplin hin. Aber Trude machte das dann ganz prima. Ich habe mich sehr gewundert, wie sie über solch schlimme Erlebnisse teilweise sogar mit Humor berichten konnte. Sie begann gleich damit, daß ihr von ihren Mithäftlingen gesagt worden ist, Grundregel eins sei: Niemals auffallen! Als sie dann nach dem ersten Appell über den Platz laufen mußten, verlor sie die Holzpantoffel, an die sie sich noch nicht gewöhnt hatte und fiel also gleich am ersten Tag auf. Aber sie berichtete dann auch über schlimme Ereignisse, die sie nur durch den Zusammenhalt mit anderen überstehen konnte.
Warum kamen eigentlich für heutige Begriffe ziemlich viel Jugendliche zu unseren Heimabenden? Sie wollten nach den Kriegsjahren, in denen gegen Ende selbst das Tanzen verboten war, vieles nachholen und lustig sein. Nun veranstalteten wir später auch Tanzabende mit Tombola usw., aber in unserem Heim war auch sonst oft etwas los. Viele kamen nicht, weil dieser oder jener Heimabend angesagt war, sondern weil dort junge Menschen zusammenkamen, sangen, Spiele machten, Theaterstücke wie zum Beispiel „Prinzessin Turandot“ oder einen Volksschwank von Hans Sachs einübten usw. Unser Rudi konnte hervorragend Akkordeon spielen, und so war immer gute Stimmung. Wir hatten noch andere Talente unter uns. So schrieb z. B. ein Jugendfreund „Timur und sein Trupp“ zu einem Theaterstück um. Wir wagten uns auch zu größeren öffentlichen Veranstaltungen vor. So führten wir im Theater in Bad Elster eine Matinee auf, in der ich eine Ballade von Bertolt Brecht „Was sagt des Soldaten Frau“ zu rezitieren hatte. Gar nicht so wenige lernten dort auch ihren späteren Lebenspartner kennen.
In der FDJ führten wir auch Arbeitseinsätze durch. So forsteten wir im Park beim Jugendheim große Bäume aus. Es war ziemlich schwere Arbeit. Dabei hatten wir - es war 1947, wo es besonders wenig zu essen gab - richtig Hunger. Als ich nach Hause kam, schimpfte meine Großmutter: In meinem ganzen Leben habe ich nichts gemacht, was nichts einbrachte, und du rennst zu irgendwelchen Einsätzen. Aber mit mir war in dieser Beziehung nicht zu reden. Meine erste FDJ-Funktion wurde sogar Arbeitseinsatzleiter.
Im gleichen Jahr - ich hatte noch nie mit Kindern gearbeitet - schickte mich die FDJ-Leitung auf einen Lehrgang für die Vorbereitung von Ferienlagern der Kindervereinigung. Der Lehrgang fand in Johnsdorf im Zittauer Gebirge - später befand sich dort eine Jugendherberge - statt. Wir lernten dort viele schöne Wanderlieder, wie „Zieh mit mir hinaus in die Berge meiner Heimat“, „Wilde Gesellen ...“ usw. Außerdem lernten wir Spiele, Basteln usw. Das Ganze hatte den Einschlag der Wandervogelbewegung, die es vor 1933 gegeben hatte. Ein einziger Vortrag befaßte sich mit einem politischen Thema: Der Imperialismus. Referent war Konrad Naumann. Übrigens wurde man damals auf Grund einer Verordnung für politische Arbeit oder Lehrgänge ohne Lohnabzug von der Arbeit freigestellt.
Zurückgekehrt, überlegten wir, was wir nun anfangen sollten. Ein Lager stand uns nicht zur Verfügung. Irgendwie wollten wir die Erkenntnisse aber praktisch verwerten. So planten wir eine Wochenendfahrt mit Kindern der Kindervereinigung oder solchen, die vielleicht eintreten würden, ins Triebtal. Die Kinder waren meist noch nie aus Adorf herausgekommen. Ferienlager kannten sie alle nicht. Auch die Mütter hatten oft wenig Zeit für sie, weil sie häufig Alleinverdiener der Familie waren und 48 Stunden in der Woche arbeiten mußten. Wir wollten ihnen also mal ein Erlebnis bieten und ihnen ermöglichen, sich nach Herzenslust in der Natur tummeln zu können.
Aber: Wie die Kinder verpflegen? Es war die Zeit, in der wir am meisten hungerten. Einer von uns ging nach Arnsgrün mit einer Liste und sammelte von den Bauern pfundweise Getreide. Dafür bekamen wir Brot. Was wir sonst noch hatten, weiß ich nicht mehr. Viel war es jedenfalls nicht. In dem Dorf, in das wir kamen, hatten wir den Tanzsaal einer Gaststätte zur Verfügung gestellt bekommen. Aber als wir ankamen, war der Saal leer. Die Bauern wollten uns kein Stroh geben. Wie sollten wir aber sonst schlafen? Nach langem Hin und Her klappte auch das.
Es wurde dann ein schönes Erlebnis für die Kinder, denn wir machten Wanderungen in die sehr schöne Umgebung und das Wetter spielte auch mit. Doch ohne Probleme ging es nicht ab. Mein Bruder, neun Jahre jünger als ich, war auch dabei. Auf einem Felsen ließ er seine Jacke liegen. Verzweifelt liefen wir zurück, aber sie war weg. Das war damals eine Katastrophe mittleren Grades. Noch schlimmer war, daß sich einer der Jungen nicht mit den anderen vertrug und weglief. Die ganze Kindergesellschaft hinter ihm her. Jedoch, obwohl er einer der Kleinsten war, konnte er sehr schnell flitzen. Wir holten ihn nicht ein. Mir war das Heulen nahe, denn ich hatte die Verantwortung für die Kinder und mit meinen siebzehn, achtzehn Lenzen wenig Erfahrung. Glücklicherweise kam er dann wieder, als wir alle den Rückzug angetreten hatten.
Später dachten viele Jugendliche, ja damals war noch etwas los, da waren alle begeistert. Ganz so war es aber nicht. Ich erinnere mich noch genau des Gefühls der Niederlage, als wir versuchten - und ich als eine der Hauptverantwortlichen - eine Friedensdemonstration durchzuführen. Das muß so 1949/50 gewesen sein. Wir hatten einige Hundert Fackeln für einen Umzug gekauft, aber dann war nur ein kleines Häufchen von ca. 60 Mädchen und Jungen erschienen. Wir machten den Umzug trotzdem, aber froh waren wir nicht. So versuchten wir unser Bestes zu geben, aber Erfolge stellten sich nicht immer ein. Daher war ich erstaunt, als mir eines Tages mitgeteilt wurde, ich sei ausgewählt, zu den Weltfestspielen nach Budapest fahren zu dürfen.
Über Budapest müßte man einen besonderen Bericht schreiben. Es war jedenfalls ein einmaliges Erlebnis; ganz besonders deshalb, weil wir ja bei der Hinfahrt gar nicht wußten, wie man uns als deutsche Jugendliche aufnehmen würde (noch 1956 war das Sprechen der deutschen Sprache im Ausland, z. B. in der ČSR, verpönt.) In Budapest aber haben wir viele Male erlebt, daß man uns als FDJler nicht mit den faschistischen Aggressoren gleichsetzte, sondern herzlich in die Gemeinschaft der Jugend der Welt aufnahm. Budapest war voller Leben. Überall waren Gruppen junger Menschen, oft in ihren romantischen Trachten, unterwegs. Auf Hunderten großen und kleinen Bühnen gelangten „Nationalprogramme“ zur Aufführung. Wir erlernten ungarische und englische Lieder und tanzten bei bulgarischen und anderen Volkstänzen mit. In vielen Sprachen wurde gemeinsam das Weltjugendlied gesungen: „Unser Lied die Ländergrenzen überfliegt, Freundschaft siegt“ und der Schwur der Weltjugend gesprochen: nie wieder Waffen auf ein anderes Land zu richten. Bewunderte Helden des Festivals waren die Jugendlichen aus Indochina, die erfolgreich gegen die französische Kolonialmacht gekämpft hatten. Auch die chinesische Delegation wurde stürmisch gefeiert, denn die chinesische Volksbefreiungsarmee errang große Siege im Kampf gegen Tschiang Kai-schek - es war kurz vor der Gründung der chinesischen Volksrepublik. In der Straßenbahn lernte ich auch einen ungarischen Jugendlichen kennen. Auf meine Frage, woher er so gut Deutsch sprechen könne, sagte er, er sei mit zwölf Jahren mit seinen Eltern nach Deutschland ins KZ gekommen ... Mit ihm stand ich noch mehrere Jahre im Briefwechsel.
Zurückgekehrt, berichtete ich über das große Erlebnis. Da erhielt ich eines Tages mit der Post einen anonymen Brief: Poststempel Oelsnitz. In ihm wurde ich in gemeinen Worten beschimpft, weil ich am Festival teilgenommen hatte. Der Brief gipfelte in der Drohung, ich sollte nur abwarten, eines Tages würde ich an meinen Haaren an einem Baum aufgehängt. Es war also nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen, wie wir so sagten. Ich habe mir über den Brief damals nicht allzuviel Kopfzerbrechen gemacht, habe ihn der Kriminalpolizei gegeben und bald vergessen. Daß ich Angst gehabt hätte, daran kann ich mich eigentlich nicht erinnern.
Aber angefeindet wurden wir öfter. Als wir zum Volkskongreß für Einheit und gerechten Frieden nach Dresden fuhren, außer mir waren noch drei weitere Jugendfreunde dabei, bekamen wir die ersten FDJ-Hemden. In Dresden bildeten wir bei einer Kundgebung vor dem Kongreßgebäude einen blauen Block. Ich hatte zuvor ziemlich starke Bedenken, das Blauhemd anzuziehen, weil das in meinen Augen wieder eine Uniform war. Man überredete mich dann aber damit, daß auch die tschechischen Jugendlichen einheitliche Kleidung trugen. Ganz wohl war mir aber nicht dabei. Eines Tages hatte ich das Blauhemd dann aber auch in Adorf angezogen. Da ist es mir auf der Elsterstraße passiert, daß ein Unbekannter auf der Straße vor mir ausspuckte. Nun war es aber für mich Ehrensache, das Blauhemd erst recht zu tragen. In Adorf waren damals höchstens 10 Prozent der Jugendlichen in der FDJ, und man war keineswegs immer gut angesehen.
Pfingsten 1949 war ich eigentlich ordentlich gewählte Delegierte für das FDJ-Parlament, das in Leipzig stattfand. Ich wurde jedoch beauftragt, mit den Jugendfreunden Werner und Walter nach Hof in die amerikanische Besatzungszone zu fahren und von dort aus an einem Friedenstreffen in der Fränkischen Jura teilzunehmen. Wir bekamen in Oelsnitz von der sowjetischen Kommandantur - das war damals so üblich - Sonderausweise zum Überqueren der Zonengrenze und fuhren los. Bevor wir in den Interzonenzug einstiegen, zeigte uns Werner, der unter seiner Jacke das Blauhemd anhatte, daß er darunter noch eine FDJ-Fahne verbarg. Es ging aber alles gut. In Hof wurden wir zuerst bei Familien untergebracht. Ich schlief bei einer Genossin der KPD, deren Mann nach Auflösung der KZ noch im Mai 1945 „auf der Flucht“ erschossen worden war. Sie zeigte mir den Schrank, in den ihr Mann eine doppelte Decke eingezogen hatte, worin er Schriften von Karl Marx u. a. versteckt hatte und die sie deshalb noch besaß. Die Genossen hatten es in Hof nicht leicht. Unserer Gastgeberin wollten die Behörden die ihr durch die Ermordung ihres Mannes zustehende Teilrente vorenthalten. Auch die FDJ war schwach, denn die Jugendlichen gingen lieber ins Amerika-Haus, in dem moderne Musik gespielt wurde und den Jugendlichen etliche Dinge unentgeltlich geboten wurden.
Wir hatten damit gerechnet, daß es schnell weitergehen würde, aber es zog sich in die Länge. In Hof fiel uns auf, daß Jugendliche am Tag auf der Straße herumstanden. Wir erfuhren, daß sie arbeitslos sind. Die Amerikaner hatten nach der Währungsreform viele Billigtextilien auf den Markt geworfen, und so arbeitete die dort heimische Textilindustrie auf Sparflamme. Daher hatten auch unsere FDJler kaum Geld in der Tasche. Es stellte sich heraus, daß sie nicht wußten, wie sie den Bus zur Weiterfahrt bezahlen sollten. Bei der Diskussion kam jemand auf den Gedanken, unsere Weltjugendabzeichen, die wir eigentlich als Gastgeschenke verteilen wollten, für 2 Mark das Stück zu verkaufen. Damit war dann unser Beitrag zur Fahrt finanziert und es ging los.
In Franken hatten die Freunde auf einem Berg Zelte aufgebaut. Es nahmen am Treffen auch noch Falken und nicht oder in kleinen verschiedenen Gruppen organisierte Jugendliche teil. Die Verpflegung war sehr einfach, aber man wurde satt. Wir erlebten, unter welch schwierigen Bedingungen die FDJ arbeiten mußte. Zwar war sie noch nicht verboten, aber sie wurde doch behindert. Das Zeltlager wurde daher auch nicht als FDJ-Lager bezeichnet, sondern eben als Friedenstreffen. Für die Jugendlichen war es sicher gut, daß wir von unserer Arbeit berichten konnten. Den größten Eindruck machte auf sie aber wohl der Bericht eines jungen Mannes, der kurz zuvor aus der Kriegsgefangenschaft gekommen war und über das Leben in den sowjetischen Kriegsgefangenenlagern, und zwar ganz anders als in den Zeitungen üblich, berichtete. Die Tage nutzten wir zu vielen Gesprächen in kleinen Gruppen. Ich traf dort zwei Jugendliche, die zuvor einige Zeit in Adorf bei - nach unserem Verständnis - sehr alten Eltern gelebt hatten und erfuhr nun, daß ihre richtigen Eltern in der Nazizeit verfolgt worden waren und sie deshalb gehofft hatten, in Adorf unbekannt zu sein und deshalb unbehelligt bleiben konnten.
Im Vergleich zu den FDJ-Mitgliedern in Bayern hatten wir natürlich vieles leichter. Aber auf Rosen gebettet waren wir auch nicht. Ich weiß noch, daß unser hauptamtlich eingesetzter Arbeitsgruppenleiter Heinz in Schwierigkeiten kam, weil seine Frau nicht mehr damit einverstanden war, daß er schon mehrere Monate keinen Lohn mehr bekommen hatte. Wir führten dann einen Tanzabend im größten Saal der Stadt Adorf durch. Heinz organisierte eine Tombola - er war in solchen Dingen Meister. Der Hauptpreis war, glaube ich, ein rundes, verführerisch aussehendes Vierpfundbrot. Es kamen auch viele Jugendliche, und von den Einnahmen konnte er endlich sein Geld bekommen.
Zu meinen wichtigsten Erlebnissen in der FDJ gehört vor allem die Reise mit der ersten Studentendelegation der DDR in die Sowjetunion. Das war im April 1950, und man sagte uns, daß wir die erste internationale Studentendelegation überhaupt seien, die nach dem Krieg in die Sowjetunion eingeladen wurde.
Auf dem Moskauer Flugplatz wurden wir sechs FDJler als Vertreter verschiedener Universitäten der DDR wie eine große Staatsdelegation empfangen und mit einem großen SIM nach Moskau transportiert, wo wir im Hotel „National“ in der Nähe des Roten Platzes untergebracht wurden. Von unserem Fenster aus konnten wir am nächsten Morgen eine riesige Menschenschlange sehen. Wir erfuhren, daß sie vom Manegeplatz bis zum Lenin-Mausoleum reichte und bewunderten die Menschen, die geduldig warteten, um das Lenin-Mausoleum zu besuchen. Danach nahmen wir an Konzert- und Theaterveranstaltungen teil und hatten Gelegenheit, verschiedene Museen und Sehenswürdigkeiten der Stadt Moskau, darunter auch die historischen Kremlbauten, zu besichtigen. Am meisten beeindruckte mich die Metro, die mit zum Teil palastähnlichen Haltestellen ausgestattet war. Die Stadt war, soweit wir sie sahen, fast vollständig wieder aufgebaut. An der Universität fiel uns auf, daß die meisten Studenten nicht mehr ganz so jung waren. Das erklärte sich dann daraus, daß viele durch den Krieg ihr Studium mehrere Jahre unterbrechen mußten, weil sie an der Front kämpften. Sie zeigten sich bestens informiert und vor allem sehr interessiert an der politischen Lage in Deutschland, manche sprachen gut Deutsch, einer rezitierte ein Gedicht von Heinrich Heine. Wir trafen auch Professoren und spürten, daß sie ein gutes Verhältnis zur sowjetischen Jugendorganisation, dem Komsomol, hatten. Kein Wunder, denn sie waren früher meist selbst Komsomolzen gewesen. Das war für uns ungewohnt, denn an unseren Universitäten überwog damals noch ein ganz anderer Typ von Hochschullehrern.
In der Moskauer 201. Mittelschule trafen wir mit einer Schulklasse sowie der früheren Lehrerin von Soja Kosmodemjanskaja zusammen, die als junge Partisanin für die Verteidigung ihrer Heimatstadt Moskau gekämpft hatte und von den deutschen Faschisten auf brutalste Weise gefoltert und ermordet worden war. Die Fotos von Sojas Hinrichtung und der Bericht ihrer Lehrerin erschütterten uns tief. Anschließend beantworteten wir die Fragen der wißbegierigen und aufgeweckten Kinder. Die ganze Atmosphäre war viel ungezwungener und offener und die Kinder viel selbstbewußter, als wir es bis dahin an deutschen Schulen kannten. Als wir später unsere Reiseerlebnisse auswerteten, kamen wir zu der einhelligen Auffassung, daß uns die zahlreichen Begegnungen mit sowjetischen Menschen am stärksten beeindruckt hatten.
Nach unserer Ankunft waren wir gefragt worden, welche Universitätsstadt wir noch besuchen wollten. Unser Delegationsleiter war für Leningrad. Aber dann hieß es, wir fliegen nach Stalingrad. Schon vor unserer Landung stockte uns der Atem. Rund um Stalingrad waren noch viele Schützengräben zu sehen, und Stalingrad war bis auf einen neu aufgebauten Stadtteil bei der großen Wolgatreppe ein riesiges Trümmerfeld. Uns begleitete dort Lena, eine zierliche junge Frau, die in Stalingrad ihren Verlobten verloren hatte und nun Vertreterin der Sowjetunion in einem internationalen Friedenskomitee war. Ein kleiner Omnibus brachte uns zu dem Haus, das vierundsechzig Tage lang verteidigt worden war, sowie auf den Mamajew-Kurgan und ins Stalingrader Traktorenwerk. Wir fuhren längere Zeit nur an Trümmern vorbei. Ich hatte das zerstörte Dresden gesehen, aber selbst das war kein Vergleich dazu. Auf dem Mamajew-Kurgan hatte das Tauwetter - obwohl dort schon mehrere Male abgeräumt worden war - Uniformfetzen und Knochen von Menschen und Tieren an die Oberfläche gebracht. Wir waren sehr still geworden. Fast körperlich empfanden wir die Schuld, die das deutsche Volk auf sich geladen hatte. Da wandte sich jene junge russische Frau an uns und machte uns Mut, indem sie sagte: Wir als junge Menschen werden gemeinsam eine bessere Zukunft aufbauen, in der Völkerhaß keinen Platz mehr hat. Auf der Fahrt zum Traktorenwerk fiel uns auf, daß an manchen Stellen Rauch aus der Erde aufstieg. Dort lebten Menschen, die vor den Kämpfen evakuiert wurden und nun zurückgekehrt waren, bevor sie dafür die Erlaubnis bekamen. Da man noch nicht für alle Wohnungen hatte, nahmen sie es in Kauf, in ehemaligen Unterständen zu kampieren. Das Traktorenwerk war wieder aufgebaut und produzierte Traktoren. Daneben gab es einen sehr schönen Kulturpalast. Wir fragten, warum man sich denn solch einen leiste, wenn doch noch Menschen in derart schlechten Unterkünften lebten. Dafür hatten die Stalingrader Freunde aber die Erklärung, wenn man schon nicht allen eine Wohnung geben könne, so sollten sie wenigstens Gelegenheit haben, ihre Freizeit in schöner Umgebung zu verbringen. Ähnlich war es mit den Schulen. Mitten in riesigen Trümmerfeldern waren sie oft als einzig heile, neu erbaute Häuser zu erkennen. Im Kulturpalast erlebten wir ein Konzert mit namhaften sowjetischen Künstlern, die von den Stalingradern begeistert gefeiert wurden.
Als ich 1975 bei einer Wolga-Don-Ferienreise erneut nach Stalingrad, jetzt Wolgograd, kam, war die Stadt neu erstanden wie Phönix aus der Asche. Auf dem Mamajew-Kurgan stand das Denkmal für die Gefallenen. Im Zentrum waren Hunderte von Namen gefallener Soldaten eingeprägt, und es ertönte die Musik eines deutschen Komponisten: die „Träumerei“ von Robert Schumann. Über der Gedenkstätte erhebt sich eine große Skulptur. Eine Frauengestalt verkörpert die Mutter Heimat. In ihrer Rechten trägt sie das erhobene Schwert. Damit ruft sie zur Verteidigung der Heimat auf. Uns wurde erklärt, daß das Gegenstück dazu im Treptower Park in Berlin steht. Dort senkt ein Soldat das Schwert auf ein zerbrochenes Hakenkreuz zum Zeichen dafür, daß der Faschismus besiegt und der Kampf beendet ist. Auf seinem Arm trägt er ein Kind. (Dem liegt eine wahre Begebenheit zugrunde: Ein Sowjetsoldat holte ein weinendes Kind aus den Frontlinien.) Dies soll symbolisieren, daß es nicht um die Vernichtung, sondern um den Schutz der Menschheit ging.
Die Gründung der DDR war für mich zunächst nicht ein so großes Erlebnis wie etwa die Weltfestspiele. Ich war nicht in Berlin beim Fackelzug der Jugend dabei. Aber die DDR gab mir viel. Sie ermöglichte mir, ohne größere materielle Sorge mit drei Kindern zu studieren und mit vier Kindern zu promovieren.
Als wir jung waren, glaubten wir, die Sterne vom Himmel holen zu können und eine Zukunft ohne Ausbeutung und Krieg, eine friedliche sozialistische Welt schaffen zu können. Aber diese „Blütenträume“ wurden durch Fehler und Schlimmeres immer mehr zerstört. Dennoch: Besonders für die Jahre des Aufbruchs, in denen wir die Wurzeln für Krieg und Faschismus ausrotten wollten und trotz Hunger Aufbaueinsätze leisteten, bin ich nicht gewillt, mich bei irgend jemand zu entschuldigen. Ich hoffe, daß die Geschichtsschreibung eines Tages ein gerechtes Urteil über das Wollen und Streben der Jugend dieser Jahre fällen wird.