"Spurensicherung. Wege in die DDR" GNN Verlag
16.06.2016 um 18:52Eva Schmidt:
Damals in Berlin
Als die NATO am 24. März 1999 mit den Bombardierungen auf Jugoslawien begann, konnte ich nicht mehr schlafen. Vor einem neuen Krieg hatte ich seit Ende des II. Weltkrieges, meinem 12. Lebensjahr, Angst.
Dieser NATO-Krieg, diese Bombardierung unschuldiger Menschen, verursachten mir ein Gefühl der Ohnmacht. Ich dachte an meine fünf Kinder und meine zehn Enkel. Drei meiner Enkel sind im wehrpflichtigen Alter. Was wird aus ihnen? Die jugoslawische Mutter empfindet genau so, wie ich empfinde. Auch sie hat Angst um ihre Kinder.
Weil ich weiß, was ein Krieg bedeutet, daß dieser Krieg die Gefahr eines dritten Weltkrieges in sich birgt, weil ich weiß, daß die jugoslawischen Kinder keine Chance zum Überleben haben, wenn die Infrastruktur des Landes zerstört ist, fuhr ich mit einer Gruppe Mütter und anderer Kriegsgegner in das Kriegsgebiet. Wir waren am 24. April 1999 in Belgrad und haben mit eigenen Augen die zerstörten Wohnhäuser gesehen ... In Gesprächen erfuhren wir, daß es viele „Mischehen“ gibt und die Menschen sich in erster Linie als Jugoslawen fühlen. Vor Jahren lebten die Völkergruppen noch normal und friedlich zusammen, aber dann wurden sie zunehmend gegeneinander ausgespielt.
Das ist wie in meiner Kindheit. Als ich im September 1932 geboren wurde, waren meine Eltern drei Jahre verheiratet und Vater kurz vor der Hochzeit arbeitslos geworden. Die Weltwirtschaftskrise 1929 hatte Millionen Menschen durch Arbeitslosigkeit die Grundlagen zum Leben genommen. Ihnen suggerierte man, die Juden seien schuld an ihrem Elend. So wurden Teile der Bevölkerung zu unversöhnlichen Judenfeinden gemacht. Besonders Schlägertypen, die ihre Aggressionen dabei auslebten und dafür noch Anerkennung erhielten, aber auch sehr viele arbeitslose junge Männer, die sich Arbeit davon versprachen, ließen sich willig in die SA rekrutieren, die dann Jagd auf „Judenfreunde“ machte. Das waren für die Nazis alle, die gegen sie waren. Zu diesen gehörten meine Eltern. Mein Vater war seit 1926 Mitglied der SPD, meine Mutter gehörte der KPD an. 1932 trat auch Vater in die KPD über, weil diese konsequenter gegen die Nationalsozialisten war. Er hatte genug von den „Pflaumenköppen“, die immer nur zur Besonnenheit mahnten und nicht glauben wollten, daß Hitler an die Macht kommen könnte.
Aus Angst vor Überfällen mußten sich meine Eltern bis Ende 1935 häufig bei Nacht und Nebel aus der Wohnung schleichen und eine neue Bleibe suchen. Als meine Schwester Ilse im August 1930 geboren wurde, wohnten sie in Britz. Ich bin in Kreuzberg zur Welt gekommen, dazwischen hatten sie noch zwei Adressen in Mahlow und Schöneberg. Als mein Bruder Hans im März 1935 das Licht der Welt erblickte, wohnten wir eben mal eine Neubauwohnung in der Arosa-Allee für eine stark herabgesetzte Miete „trocken“. Im Sommer 1935 zogen wir in die Linkstraße nahe des Potsdamer Platzes, diese Wohnung konnte uns für längere Zeit ein „Zuhause“ sein, weil unserer Familie ein Zufall zu Hilfe kam. Mein Vater traf seinen Schulfreund vom Gymnasium in voller SA-Montur. Da er nichts über die eigene politische Gesinnung verriet, verschaffte dieser „Freund“ ihm ab Herbst 1935 beim Finanzamt eine Arbeit als Buchhalter mit einem Anfangsgehalt von 190.- Mark.
Nun schien eine „normale“ Zeit zu beginnen. Unsere Wohnung lag im Hinterhaus. Vom Hausflur kamen wir in eine sehr kleine dunkle Küche, durch die wir in beide Durchgangszimmer gelangten. Der Wasserhahn mit Ausguß befand sich im Hausflur. Auch die Toilette war außerhalb der Wohnung, eine halbe Treppe tiefer. Beides wurde gemeinsam mit den Nachbarn benutzt. Vom Kinderzimmer konnten wir auf den Bahnsteig der Wannsee-Bahn gucken. Er war so dicht vor unserem Fenster, daß wir die Gesichter der Leute gut erkannten. Das Haus war völlig verwanzt. Wenn der Kammerjäger kam, durften wir mehrere Tage nicht in die Wohnung, und wir waren in dieser Zeit bei meiner Oma in Britz.
Neben der großen Haustür im Vorderhaus befand sich eine Glaserei. Im Schaufenster waren immer schöne Bilder, die meiner Schwester Ilse und mir gut gefielen. Wenn die Glaserleute sahen, daß wir die schwere Tür nicht aufkriegten, halfen sie uns dabei. Sie hatten wenig zu tun, weil sie Juden waren und immer mehr Kunden wegblieben. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite war unser Bäckerladen. Im Haus daneben wohnte die Familie des jüdischen Professors Roth. Seine Tochter Eva war so alt wie Ilse. Wir durften oft zu ihr gehen. Obwohl ich zwei Jahre jünger war, spielten wir viel und gern zu dritt. Frau Roth war eine liebevolle Frau, die uns Schwestern ins Herz geschlossen hatte.
1937 kamen Eva Roth und Ilse in die Schule. Sie gingen in die gleiche Klasse und waren Freundinnen. Nach etwa einem halben Jahr sprach Frau Roth unsere Mutter an und bat sie, uns nicht mehr hinüberzulassen. Sie sei bedroht worden, weil ihre Eva „arische“ Kinder belästige. Es war eine schlimme Situation, die wir Kinder nicht verstanden. Ilse wurde still und verschlossen.
Am Abend des 8. November 1938 brachte unser Vater das Ehepaar aus der Glaserei mit. Ilse und ich hatten ein gemeinsames Bett, das wir für den Besuch räumten. Die sonst so freundlichen Leute beachteten uns Kinder kaum und weinten viel. Ich war sechs Jahre alt und konnte das nicht begreifen. Am anderen Morgen brachte Mutter Ilse in die Schule und nahm auch Hans und mich mit. Das erste, was wir draußen sahen, war die völlig verwüstete Glaserei. Die Schaufensterscheibe fehlte, zerschlagene Einrichtungsgegenstände und zerfetzte Bilder waren weit über die Straße verteilt. Mutter ging mit uns zunächst in Richtung Potsdamer Platz. Auch vor dem Hutgeschäft und anderen Läden sah es schrecklich aus. Ich hatte große Angst. Als wir danach auf dem richtigen Weg zur Schule waren, sagte Mutter zu Ilse: „Kommt dir über unseren Besuch etwas über die Lippen, sieht unsere Wohnung genauso aus.“ Die Erinnerung an die „Kristallnacht“ löst in mir noch heute ein beklemmendes Gefühl aus.
Im Juli 1939 zogen wir nach Köpenick, in die Gehsener Str. Es war das Jahr, wo die Einschulungen von Ostern auf den 1. September verlegt wurden, die Schulen durften es in diesem Jahr selbst entscheiden. So wurde ich zweimal eingeschult. Ostern wurde ich am Potsdamer Platz eingeschult, hier lernte ich die Sütterlinschrift. In Köpenick wurde nur Lateinisch geschrieben.
Köpenick ist eine grüne Stadt für sich. Wer hier wohnt, möchte nicht wieder weg. Wir brauchten keine fünf Minuten, um in den Wald zu kommen. Hier hatten wir viele Spielmöglichkeiten, und auch zum baden gehen war es nicht weit. Unsere Kindheit hätte sehr schön sein können, wenn nicht der Krieg gekommen wäre. Und der fing mit dem Tag meiner zweiten Einschulung, dem 1. September 1939, an. Nachmittags holte mein Vater mit mir mehrere Zentner Kohlen vom Händler. Er schob den zweirädrigen Karren vor sich her, als die Sirenen ertönten. Vor Schreck blieb Vater stehen und griff sich an den Hals: „Es ist Krieg. Komm, beeilen wir uns.“ Am selben Tag mußte er fort. Einberufen.
Die erste Bombe, die in der Nähe runterkam, war ein Blindgänger und traf unser Müllhaus, das war noch so etwas wie Abenteuer. Da gingen die Menschen noch hin und bestaunten das Ding, welches vielleicht einen Meter lang war.
Im Spätherbst 1940 wurden Ilse und ich durch die Kinderlandverschickung (KLV) nach Freiberg/Sachsen geschickt. Ich hatte Glück und wohnte bei einer freundlichen Familie, deren Tochter wie ich Eva hieß und in meinem Alter war. Meine Schwester hatte es wesentlich schlechter getroffen. Sie war bei einer älteren alleinstehenden Frau untergebracht, die in jedem Zimmer ein Hitlerbild hatte und die streng auf „deutsche Zucht und Ordnung“ hielt. Mit Ilse hatte sie aber kaum Ärger, sie war eine gute Schülerin, die zuverlässig sofort ihre Hausaufgaben machte und der Alten, ohne zu murren, das Haus säuberte. Ich weinte oft vor Heimweh und meine Pflegemutter holte Ilse dann rüber, manchmal weinten wir dann beide zusammen. Bei ihr merkte das aber keiner. Die Leute meinten, sie wäre eine „große Vernünftige“, dabei war sie ja auch erst zehn Jahre alt. Wegen meines großen Heimwehs holte Mutter mich Heiligabend nach Hause. Ilse stand stumm und blaß bei uns und sagte kein Wort. Erst als unsere Mutter sie fragte, ob sie auch mit nach Hause wolle, sagte sie leise: „Ja.“
Nach dem Angriff der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion kam mein Vater in die Ostfront und ich mit Scharlach ins Krankenhaus. Vater hatte „Glück“: Er blieb all die Kriegsjahre in der Schreibstube und damit im Hinterland. 1942 kam er mit Skorbut ins Lazarett nach Schlesien und verlor schon als 34jähriger seine sämtlichen Zähne.
Im Sommer 1942 wurde Ilses Klasse nach Schlesien evakuiert, wo meine Schwester kurz darauf an Diphtherie erkrankte. Bevor mein Vater wieder an die Front mußte, brachte er Ilse nach ihrer Genesung wieder nach Hause. Sie war so schwach, daß er sie auf dem Rücken tragen mußte.
1943 wurde Ilse mit ihrer neuen Klasse nach Kärnten geschickt. Die Bombenangriffe auf Berlin begannen sich zu häufen. Unsere Cousine Hertha wurde unter den Trümmern ihres Hauses, in der Nähe des Anhalter Bahnhofs, begraben. Heute denke ich, daß mein abgrundtiefer Haß gegen den Krieg durchaus mit ihrem Tod zusammenhängt und sich seit damals allmählich entwickelt hat. Ich weiß noch, mit welcher Freude wir gehört haben, daß in Uhlenhorst ein amerikanisches Bombenflugzeug abgeschossen wurde, voller Spannung sind wir Gören dort hingelaufen, um die Trümmer zu besichtigen. Als ich unerwartet das abgetrennte Bein eines schwarzen Amerikaners vor mir sah, wurde mir schlecht und die Freude über das abgeschossene Flugzeug war weg, denn ich empfand damals bewußt den Tod eines Menschen.
Quelle: Privatarchiv E. Schmidt
6. Volksschule Berlin-Köpenick im Jahre 1943: Meine Klassenlehrerin mit ihren mehr als 70 Schülerinnen und Schüler
Die Lehrer waren fast alle eingezogen, die Klassen wurden zusammengelegt und wir waren 1943 etwa 70 Schüler in der 4. Klasse. Auf einer Bank mußten vier Schüler sitzen, und der Unterricht bei der gestreßten Lehrerin machte „richtig Spaß“.
Ganz in unserer Nähe, in der Mahlsdorfer Straße, war ein „Durchgangslager“ für Juden. Man sammelte hier die aus ihren Wohnungen geholten Menschen vor dem Abtransport in die KZs und Vernichtungslager. Aber das wußte ich damals noch nicht. Aus diesem Heim lernte ich ein Geschwisterpaar kennen, sie waren jünger als ich und standen mit ihrer Kanne vor dem Milchgeschäft Schönecker Weg. Sie trauten sich nicht hinein. Aber als ich sagte, daß sie vor Frau Becker keine Angst haben brauchten, kamen sie mit. Frau Becker war eine ältere Frau, die ihnen sofort die Kanne füllte und sie dann „nach Hause“ schickte. In meiner Unbedarftheit wußte ich natürlich nicht, daß sich die freundliche Frau Becker allein dadurch in Gefahr begab. Außerdem mußte sie aber auch Milchmarken abrechnen. Wie Mutter mir später erzählte, hat sie für die beiden Kinder manchmal welche von uns bekommen. Das Mädchen war zwei Jahre jünger als ich und hieß Editha. Wir trafen uns öfter und nannten uns Freundinnen. Bald wurde jedoch auch meine Klasse evakuiert. Über das weitere Schicksal der beiden Geschwister weiß ich nichts, aber vergessen konnte ich das Mädchen nie, zumal ich später den Zweck dieses „Judenheims“ erfuhr. Eine meiner Töchter trägt ihren Namen.
Meine Klasse wurde nach Ostpreußen geschickt. Diesmal fuhren auch meine Mutter und mein Bruder mit. Ilse war noch in Kärnten. Sie hatte großes Heimweh und wollte nach Hause, aber die Behörden ließen sie nicht nach Berlin zurück. Erlaubt wurde der Dreizehnjährigen „nur“, allein von Kärnten über Berlin nach Ostpreußen zu fahren! Endlich war Ilse wieder bei uns.
In stillen Nächten hörten wir manchmal ein leises „Grummeln“, und Mutter meinte, daß dies schon die Geräusche der Front sein konnten. Sie wollte so schnell wie möglich nach Hause und bemühte sich um die Genehmigung, uns mit nach Berlin zurückzunehmen. Nach drei Wochen durften wir abreisen und waren Ende Oktober 1943 zu Hause.
Inzwischen gab es in Berlin überhaupt keinen Schulunterricht mehr. Wir kamen kaum noch zum Schlafen, weil Tag und Nacht Fliegeralarm war. Viele Kinder litten an Neurosen. Mein neunjähriger Bruder schrie, kaum daß er eingeschlafen war, wie am Spieß: „Sie kommen schon wieder! Sie kommen schon wieder!“ und wurde durch den Krieg mit 9 Jahren Bettnässer.
Ilse war ernst und blaß. Sie hatte Angst, alleine zu schlafen. Deshalb kroch ich abends zu ihr ins Bett, kraulte ihre Haare und erzählte phantastische Geschichten von einer einsamen Insel, wo es keinen Krieg gab, stets die Sonne schien und unsere Familie immer zusammenblieb. In den letzten Kriegsmonaten sponnen wir diese „Inselgeschichten“ gemeinsam am Herdfeuer weiter.
Der Krieg hatte auch die Ehe meiner Eltern schwer erschüttert, wenn Vater auf Urlaub kam, fand er Befriedigung dabei, daß er, noch in Uniform, schweißig und schmutzig, mit Mutter ins Bett ging und sie ohne Zärtlichkeit nahm. Die restlichen Urlaubstage vergingen oft durch Trinkgelage mit Frontkameraden oder Nachbarn. Durch die Unterhaltsklage einer Frau wußte Mutter auch von einem Seitensprung meines Vaters. Als er zum Jahreswechsel 1943/1944 auf Urlaub kam, fand er die Lage in Berlin schlimmer als an der Front. Irgendwann in diesem Urlaub lud er zwei Nachbarn ein - einen SPD-Mann und den überzeugten Kommunisten Otto L. Die drei Männer tranken, unterhielten sich über Sinn oder Unsinn des Krieges und wurden dabei immer lauter. Schließlich setzte sich mein Vater ans Klavier und spielte die Internationale. Kurz danach klingelte unser Obermieter, Herr P. - Siemens-Ingenieur und NSDAP-Mitglied - und bat inständig, mit dem Klavierspielen aufzuhören und leise zu sprechen. Er habe große Angst, daß auch andere aufmerksam werden könnten. Wahrscheinlich hat er meinen Eltern mit dieser Warnung das Leben gerettet. Denn Mutter erfuhr später, daß sich zwei Herren bei den Nachbarn über uns erkundigt hatten.. Nachdem Vater von diesem Urlaub wieder an die Front zurückgefahren war, begann zwischen Mutter und unserem Nachbarn Otto L. eine Liebe, aus der später meine Schwestern Silvia und Irene hervorgingen. Otto war ebenfalls verheiratet, doch seine Familie lebte damals nicht in Berlin.
Bis zum Sommer 1944 blieb Köpenick von direkten Bombardierungen verschont, etwa im August wurde eine meiner Klassenkameradinnen während eines Angriffs getötet. Sie wohnte in der heutigen Seelenbinderstraße, neben dem Bellevuepark. Auch in unser Haus schlug eine Bombe ein. Es war ein Blindgänger - eine Phosphorbombe, die sich nicht entzündete. Sie ging durch drei Stockwerke, schlug eine Ecke unseres Wohnzimmertischs ab und blieb auf der Couch liegen. Danach war unser Zimmer voller Leute, auch der „Blockwart“ hatte sich eingefunden, und alle debattierten, was nun geschehen solle. Schließlich nahm Elfriede - ein couragiertes vierzehnjähriges Mädchen aus dem Nebenhaus - die Bombe wie ein Baby in beide Arme und trug sie raus, ging über den Wäscheplatz und legte sie in den Sand. Zu dieser tollkühnen Tat gehörte viel jugendliche Unbekümmertheit. Ich weiß aber auch, daß Elfriede besonders auf den Blockwart eine unbändige Wut hatte, weil der in ihren Augen eine ganz feige Memme war. Das Dach wurde notdürftig abgedeckt, aber die Zimmerdecken hatten riesige Löcher. Wir konnten lange Zeit bis ins oberste Stockwerk gucken.
Obwohl wir keinen Unterricht mehr hatten, mußten wir einmal in der Woche zu einem „Hitlerappell“ in die Schule. Es war nach dem 20. Juli 1944. Lehrer S., der in diesem Krieg einen Arm verloren hatte und als deutscher „Held“ zackig in Offiziersuniform erschien, teilte uns das „scheußliche Verbrechen“ mit: Auf Adolf Hitler ist ein Attentat verübt worden! Ich kicherte und wiederholte fragend meiner Banknachbarin: „Auf Hitler ist ein Affentat verübt worden?“ Damals konnte ich mir doch nicht vorstellen, was ein Attentat war und hatte wirklich „Affentat“ verstanden. Ich mußte nach vorne, und dieser „Held“ zog mir mit seiner Reitgerte kräftig einen Hieb über den Rücken, so, daß ich keine Luft mehr bekam. Ich hatte ein dünnes Sommerkleid an und kein Hemd darunter. Der Striemen war blutunterlaufen und verkrustete später. Es tat lange weh, ich erinnere mich, daß ich mich nicht anlehnen oder auf dem Rücken liegen konnte. Danach ging ich nicht mehr in die Schule mit der Begründung, daß ich es bei Alarm nicht bis nach Hause schaffe. Spielen durften wir nur noch in der Nähe des Hauses. Beim ersten Sirenenton flitzten wir in die Wohnung, griffen unsere Gepäckstücke, die ständig neben der Tür standen, und rannten in den Luftschutzkeller. Mutter hatte das Köfferchen mit den Familienpapieren und ich einen geflochtenen Lederbeutel mit einer Feldflasche voll Wasser, ein Buch und „Jörgeli“, meinen kleinen Puppenjungen.
Ilse spielte nicht mehr mit mir, sie spielte überhaupt nicht mehr, sondern half Mutter im Haushalt oder las. Dafür trieb ich mich mit meinem Bruder Hans und seinen Freunden draußen herum. Mein erster „Schwarm“ hieß Heinz. Ich war elf und er drei oder vier Jahre älter als ich, konnte Handstand und auf den Händen laufen. Natürlich wollte ich das auch können, aber bei dem Versuch knickte ich mit den Armen ein und fiel auf die Nase. Heinz und seine drei Geschwister verloren ihren Vater im Februar 1945, als unser Haus von einer Sprengbombe getroffen wurde. Bei diesem Bombenangriff verloren sechs Menschen aus unserer Nachbarschaft, darunter zwei Kinder, ihr Leben. Die Toten wurden auf unseren Spielplatz gebettet und mit rotem Wachspapier zugedeckt. Dieses Bild verfolgte mich lange Jahre als Alptraum - so, wie mich der Ton der Alarmsirene mein ganzes Leben verfolgen wird.
Der Krieg ging dem Ende zu. Die Zwangsarbeiterinnen aus der Mahlsdorfer Straße trauten sich jetzt auch schon mal am Tage an unsere Küchenfenster, damit Mutter ihnen etwas gab. Nachts konnten wir das Pfeifen der „Stalinorgel“ und die Einschläge schon hören. Im Lebensmittelladen an der Filehnerstraße erzählten die Leute grausige Dinge über die „Russen“. Eine Klassenkameradin „wußte ganz genau“, sie würden „allen Leuten die Zungen an den Tisch nageln“, gleich meinten andere Leute, daß sie von Flüchtlingen wüßten, daß die Russen die Menschen zerstückeln, kochen und essen und die abgeschnittenen Köpfe als Bälle benutzen. Die Frauen würden sowieso alle vergewaltigt. Voller Entsetzen rannte ich nach Hause. Mir zitterten die Knie und ich mußte mich übergeben, bevor ich meiner Mutter erzählen konnte, „was uns bevorstand“. Zum Glück war unser Nachbar und Freund Otto gerade da. Er hatte mehrere Jahre in der Sowjetunion gelebt und gearbeitet, bevor er 1936 wieder nach Deutschland zurückkam. Er schaffte es, mich mit wenigen Worten zu beruhigen. Die Russen seien genau solche Menschen wie wir, nur, daß sie eine andere Sprache sprächen: „Du brauchst keine Angst haben, denn wenn sie hier sind, ist der Krieg zu Ende.“
Nun erwartete ich die Russen und das Kriegsende sehnsüchtig, dann kamen sie. Der Geschützdonner und der Kampflärm erschreckten mich wieder. Durch die Semliner Straße rollten die ersten russischen Panzer und wurden von einem Dachboden der Gehsener Straße beschossen. In der gleichen Straße wollte ein Mädchen in BDM-Uniform die Panzer aufhalten und stellte sich ihnen in den Weg, sie wurde überrollt. Später fragte ich mich: Wer war nun schuld am Tod dieses Mädchens? Die „Russen“? Oder nicht doch die Nationalsozialisten, die das Gehirn dieses Mädchens vergiftet hatten?
Als die Rotarmisten mit vorgehaltener Maschinenpistole durch die Keller gingen, um versteckte deutsche Soldaten und SS zu suchen, hatte ich wieder Angst. Aber Otto L. sprach mit ihnen russisch und konnte sie schnell beruhigen. Nach dem unmittelbaren Kampflärm kehrten sie allerdings zurück und forderten „Frau, komm!“ Da stand eine Nachbarin - noch unaufgefordert - auf, sagte: „Eine muß sich ja opfern“, und ging mit. Ich wunderte mich, denn kurz vorher hatte sie die „Russen“ noch als „Bolschewisten, die alle Verbrecher sind,“ bezeichnet. Ihr Mann war Sturmbannführer bei der SS. Als sie - beladen mit Lebensmitteln - wiederkam, sagte sie nur: „Die sind ja auch nicht anders als deutsche Männer.“ Diese Frau lebte später mit einem sowjetischen Offizier in Potsdam und hatte mit ihm zwei Kinder.
Als die Kämpfe in Köpenick vorbei waren, mußten wir unsere Wohnung für die Nachhut der kämpfenden Truppen räumen und fanden bei Verwandten von Otto L. in Mahlsdorf-Süd Aufnahme. Mutter erwartete ein Kind von ihm. Im Juni sollte es geboren werden. Otto hatte große Angst um sie und wich ihr nicht von der Seite. Auch Ilse wurde versteckt, sobald sich dem Garten sowjetische Soldaten näherten. Ich war noch platt wie ein Junge, trug eine Ponyfrisur und wurde mit zwölf Jahren auf höchstens zehn geschätzt. Das sollte sich in den nächsten Wochen als großer Vorteil für das Überleben unserer Familie erweisen. Denn mein Bruder Hans und ich gingen auf „Nahrungssuche“. Das bedeutete, daß wir uns bei den sowjetischen Truppen herumtrieben und um Essen bettelten. Hans hatte eine Zweilitermilchkanne und ich meinen kleinen geflochtenen Lederbeutel. Wir bekamen immer etwas, einmal war mein Lederbeutel prall mit „Kascha“ gefüllt, ein andermal hatte Hans die Kanne voller Kohlsuppe. Im Waldstück Uhlenhorst/Mittelheide/Elsengrund lagen mehrere Truppenteile, an deren Lagerfeuer wir oft zu essen bekamen. Anschließend wurden dann unsere Behältnisse gefüllt. Einmal hatten die Soldaten ein Rind geschlachtet, packten die Innereien in das Fell und schenkten uns das Ganze. Als wir das schwere Fell durch den Wald schleiften, wurde es schon dunkel und die Sperrstunde hatte begonnen. Mutter und Otto standen am Waldrand und hatten große Angst um uns. Wir aber waren glücklich, daß wir so viel mitbrachten und das Fell die letzten zehn Minuten nicht alleine schleppen mußten.
Einmal geriet ich allerdings doch in eine gefährliche Situation. Es war in einem Einfamilienhaus am Wald. Der Soldat lockte uns erst beide in ein Zimmer und schob Hans dann hinaus. Da mein Bruder aber laut schrie, schloß er mich ein und drängte Hans aus dem Haus. Was mir da geschehen sollte, wußte ich so genau nicht, aber Angst hatte ich schon, und bevor der Soldat das Zimmer betreten konnte, war ich aus dem offenen Fenster gesprungen, hatte aber geistesgegenwärtig ein Stück Speck, was da lag, mitgenommen. Hans war ums Haus gelaufen, und da der Gartenzaun kaputt war, konnten wir schnell wegrennen. Natürlich hatten wir Angst, daß der Mann uns verfolgen könnte. Aber als wir uns umdrehten, stand er am Fenster und sah uns hinterher. Was mag ihm durch den Kopf gegangen sein, nachdem ich ihm nicht nur entwischt war, sondern auch noch seinen Speck geklaut hatte.
Als wir Ende Mai wieder in unsere Wohnung durften, sah alles sehr schlimm aus. Am traurigsten war Mutter, daß unsere Bücher auf dem Trümmerberg des zerstörten Hauses lagen. Trotz ihrer Schwangerschaft kletterte sie auf den Trümmern herum und versuchte sie einzusammeln. Ein sowjetischer Offizier, der vorbeikam, schimpfte mit ihr, das Baby gehe kaputt, wenn sie da herumklettere. Er half ihr beim Herunterkommen. Danach brachte er die Bücher mit in die Wohnung. Als er unser Klavier sah, spielte er die Träumerei von Robert Schumann. Vor allem Ilse war fasziniert von seinem Spiel. Er spielte wundervoll und spielte noch, als Otto mit dem Handwagen und unserem Bettzeug eintraf.
Otto L. wurde der erste Vertrauensmann für die Gehsener Straße, und Mutter verteilte in unserem Wohnblock die ersten „Friedens“-Lebensmittelkarten. Eingetroffene Flüchtlinge und die bei uns ausgebombten Mieter bezogen Wohnungen, die von den eigentlichen Mietern scheinbar verlassen waren. So wurde auch die Wohnung des Siemens-Ingenieurs R., der meinen Vater und seine Freunde vormals gewarnt hatte, durch eine andere Familie belegt, die ihre Wohnung bei dem Bombenangriff im Februar verloren hatte. Frau P. befand sich schon seit 1943 bei ihren Eltern in Aachen, während Herr P. - da er während der Kampfhandlungen in voller Uniform zu seinem Betrieb in Oberschöneweide hatte laufen wollen - von der Roten Armee gefangengenommen worden war. Er kam im August krank zurück, durfte in seiner ehemaligen Wohnung das Zimmer mit den Bombenlöchern beziehen, schlief im Unterteil seines kaputten Schrankes und hustete erbärmlich. Nach wenigen Wochen wurde er abgeholt und kam nicht wieder. Wir haben immer vermutet, daß ihn jemand denunziert hatte.
Meine Schwester Silvia wurde sieben Wochen nach dem eigentlichen Termin geboren. Mutter konnte nicht stillen und es war sehr schwer, Silvi am Leben zu erhalten.
Aber im Hultschiner Damm war ein Geschäft, das Milch hatte. Hans und ich liefen jeden Tag von der Gehsener Straße dorthin, es sind etliche Kilometer. Allerdings war die Milch oft schon ausverkauft. Manchmal konnten wir die lange Strecke abkürzen, indem wir auf einen „Panjewagen“ aufsprangen. Die meisten Soldaten ließen uns mitfahren, aber es gab auch solche, die stark beschleunigten, wenn sie merkten, daß wir hinterherliefen. Da hatten wir einmal das Glück, daß bei so einer Beschleunigung ein Säckchen mit Maismehl vor unsere Füße fiel. Da hat Mutter sich ganz schön gefreut.
Ilse nahm ihr die kleine Schwester gern ab und war stolz, als sie beim Einkaufen einmal als „junge Mutti“ angesprochen wurde. Ich selbst war „ganz Junge“ und spielte nur noch mit meinem Bruder und seinen Freunden, wenn wir nicht gerade auf Nahrungssuche waren. Otto L. war uns Kindern ein guter Kamerad, und für Mutter war er eine zuverlässige Stütze.
Im September 1945 fing die Schule wieder an. Meinem Alter entsprechend wurde ich in die 7. Klasse eingestuft, obwohl ich die 4. Klasse noch nicht einmal beendet hatte. Mein Klassenlehrer wurde unser ehemaliger Schuldirektor. Bei ihm hatte sich meine Mutter damals über Herrn S. - den „deutschen Helden“ mit der Reitgerte -erfolglos beschwert, aber nun sprach er als erstes mit uns über die Ungerechtigkeit im Faschismus. Ich hatte eine tüchtige Wut auf ihn.
Im Wald gab es damals viele Pilze. Einmal ging ich mit meinen Bruder zum Maronensammeln in eine Schonung und hatte plötzlich etwas Weiches unter den Füßen. Als ich mich bückte, sah ich einen verwesten deutschen Soldaten vor mir. Ich weiß nicht, wie ich nach Hause gekommen bin und konnte vor Ekel und Entsetzen nicht sprechen. Glücklicherweise hatte Hans den Toten nicht gesehen.
Am 30. September wurde ich dreizehn Jahre alt. Es war der erste Geburtstag im Frieden. Mutter hatte es sogar geschafft, einen kleinen Kuchen zu backen. Plötzlich klingelte es, und mein Vater stand vor der Tür. Ich war glücklich und wollte ihm in die Arme stürzen, aber er schob mich achtlos zur Seite, gratulierte mir auch nicht zu meinem Geburtstag, sondern fragte nur: „Wo ist der Muffkopp?“ Mit dem Muffkopp meinte er unsere kleine Schwester Silvi. Nach einer kurzen, heftigen Auseinandersetzung mit Mutter fuhr er am nächsten Tag wieder weg und kam nach einiger Zeit mit einer Frau zurück, die er in unser Kinderzimmer einquartierte. Nach ein paar Wochen hatte Mutter die Nase voll und verlangte, daß er sofort mit der Frau ausziehen sollte. Aber er brachte sie nur weg und nistete sich wieder bei uns ein. Es war eine sehr unerquickliche Zeit.
Glücklicherweise kamen Hans und ich im Frühjahr 1946 in die Kindergruppe „Birkengrün“. Wir trafen uns regelmäßig bei Käthe Stange, die lange Jahre als Emigrantin in der Sowjetunion gelebt hatte und vor kurzem mit ihrer Tochter Ruth zurückgekehrt war. Diese Gruppe wurde unser zweites Zuhause, hier waren wir fröhlich, haben gesungen und getanzt und sind viel wandern gegangen. Wahrscheinlich habe ich hier mehr von den Zusammenhängen in der Natur gelernt, als in der Schule.
Nach dem Krieg wies mein Schulwissen große Lücken auf. Beispielsweise beherrschte ich im Rechnen gerade mal das Einmaleins. Im Sommer ging ich barfuß in die Schule.
Erst für den Winter 1946/1947, der eine sehr lange und strenge Kälteperiode hatte, bekam ich auf Bezugsschein ein Paar „Schuhe“. Das waren Holzscheiben mit Segeltuch drüber. Der Einstieg wurde mit einem Band zusammengehalten. Die Schule brachte für uns noch etwas anderes Gutes. Nachdem 1946 der Marschall Kotikov Kommandant für den sowjetischen Sektor in Berlin wurde, sorgte er dafür, daß jedes Schulkind täglich eine warme Mahlzeit erhielt. Soweit ich mich erinnere, mußten die Besatzungsmächte anfangs abwechselnd die gesamte Berliner Bevölkerung versorgen. Wenn die Amerikaner „dran“ waren, bekamen wir zu unserem Schulessen eine kleine Schokoladentafel, die wir meistens mit nach Hause brachten, entweder wurde sie unter uns vier geteilt, oder wir tauschten sie gegen Lebensmittel. Bei einem Bauern hinter Hönow haben wir für unsere beiden Tafeln sogar einmal drei Brote bekommen, das war ein Fest. Hunger tat weh, und gehungert haben wir viel.
Unser Vater arbeitete inzwischen bei der Roten Armee in Karlshorst. Im Winter 1946/1947 gab man ihm dort einen Sack erfrorene Kartoffeln, die Mutter zu Klößen verarbeitete. Auch Ilse arbeitete in Karlshorst, sie mußte Zwiebeln sortieren und brachte manchmal welche in ihrer Schürze mit, obwohl sie das nicht durfte. Die Mädels, die dort arbeiteten, wurden im Zwiebelkeller eingeschlossen, und wenn man sie nicht vergaß, bekamen sie auch zu essen. In Karlshorst lernte Ilse auch ihren ersten festen Freund kennen. Mischa hatte ganz schwarze Augen und war ein lustiger Geselle. Mich neckte er gerne und nannte mich kleine Schwester. Ilse lernte sehr schnell Russisch und unterhielt sich mit Mischa bald fließend in seiner Sprache. Aber als ihre Freundschaft öffentlich wurde, schickte man Mischa nach Hause.
Nachdem Ottos Frau im Sommer 1946 zurückkehrte und die Scheidung ablehnte, zog er mit seiner Familie aus der unmittelbaren Nachbarschaft weg, hielt aber die Verbindung zu unserer Mutter aufrecht. Sein Bruder Herbert fing und schlachtete Hunde. Da wir hin und wieder auch Fleisch abbekamen, trieben Hans und ich ihm auch schon mal einen Hund zu.
Vor den Wahlen im Herbst 1946 ging Ilse zum Plakate kleben mit. An eine Losung kann ich mich noch erinnern. Sie hieß: „Papen, Schacht und Fritzsche frei, aus Protest wählt Liste Drei!“ (Vielleicht war es auch Zwei, an die Zahl kann ich mich so genau nicht mehr erinnern.) Die drei waren Kriegsverbrecher und kurz zuvor - trotz des sowjetischen Protestes - im Nürnberger Prozeß freigesprochen worden.
Ich machte mir damals viele Gedanken über den Krieg und meinte, daß diejenigen, die diesen Trümmerhaufen Deutschland verschuldet hatten, ihn nun auch wieder wegräumen sollten. Deshalb fand ich es völlig richtig, daß der Vater einer Mitschülerin auf dem Bau arbeiten mußte, obwohl er ein Studierter und sogar Beamter war. Seine Tochter hatte während des Krieges damit geprahlt, daß er „beim Führer was zu sagen hätte“. Nach meiner Auffassung sollte auch Lehrer S., der „deutsche Held“, Trümmer räumen und Steine klopfen. Allerdings fehlte ihm dazu ein Arm.
Im Juli 1947 wurde ich mit einem Zeugnis, ohne Zensuren, aus der achten Klasse entlassen und begann Anfang September eine Lehre als Schneiderin. Diese war für mich nach vier Wochen beendet, denn ich verlor meine Schwester Ilse. Noch heute, nach über fünfzig Jahren, fällt es mir sehr schwer, daran zu denken und darüber zu berichten.
Oft frage ich mich, ob mein Vater auch ohne Krieg so einen miesen Charakter bekommen hätte, denn ich kannte ihn ja auch noch anders. Er glaubte immer, daß wir Kinder ihm was „wegfressen“. Besonders Ilse konnte er absolut nicht leiden. Nachdem er sie mal wieder besonders drangsaliert hatte, suchte sie sich ein Zimmer. Sybille, die Tochter der Familie A., war älter als Ilse, trotzdem befreundeten die Mädels sich, und Ilse kam nur noch zu uns, wenn sie sicher war, daß Vater nicht zu Hause war.
Am 28. September 1947 kam sie, um mit Mutter über meinen 15. Geburtstag zu sprechen. Sie zeigte ihr einen Silberring, den sie für mich gekauft hatte, dessen Stein wie ein Moosachat aussah. Da wir beim Mittagessen waren, aß Ilse mit uns. Plötzlich schloß Vater die Tür auf, brüllte los, riß meine Schwester vom Stuhl hoch und schmiß sie aus der Wohnung. Ich stand am Küchenfenster, die Tränen liefen mir über das Gesicht, als ich meine Schwester weinend vorbeigehen sah. Es war das letzte Mal, daß ich sie sah. Ilse wurde noch am Abend des gleichen Tages mit ihrer Freundin Sybille in Nähe der Wuhlheide auf brutalste Weise ermordet. Vater mußte sie identifizieren. Ilse und Sybille wurden gemeinsam auf dem Friedhof in der Rudower Straße in Köpenick beigesetzt. Die Träumerei von Robert Schumann, die zu ihrer Beisetzung gespielt wurde, kann ich auch heute noch nicht ohne innere Erregung hören. Mit ihren Sachen erhielten wir von der Polizei auch den Ring, den sie mir zum Geburtstag schenken wollte. Vier Monate später brachte ihr Mörder auch Ruth Stange, die Tochter unserer Kindergruppenleiterin, um. Sie wurde neben Ilse und Sybille beerdigt. Bevor dieser Verbrecher im Frühjahr 1950 gefaßt werden konnte, hatte er in Köpenick einundzwanzig Menschen umgebracht. Sein erstes Opfer war in der Wuhlheide ein sowjetischer Offizier gewesen, dem er die Maschinenpistole abgenommen hatte. Ballistische Untersuchungen hatten ergeben, daß Ilse, Sybille und Ruth, später auch ein Volkspolizist und seine Freundin, mit dieser Waffe ermordet wurden. Es soll ein Lette gewesen sein, der die sowjetische Staatsbürgerschaft hatte und der mit dem General Wlassow1 nach Berlin gekommen war. Die Morde beging er in sowjetischer Uniform. Offiziell haben wir nie erfahren, daß er der Mörder meiner Schwester war, aber nach seiner Festnahme hörten die Morde in Köpenick auf. Der Mörder lebte ganz in unserer Nähe bei einer Frau. Sein Kind war so alt wie Silvi. Otto L. wurde zu der Haussuchung zugezogen und erzählte danach, daß die Wohnung voll war mit faschistischer Literatur und Hitlerbildern.
Nach dem Tod von Ilse stellte sich heraus, daß Mutter wieder ein Baby erwartete. Aber sie war völlig apathisch, weinte nur noch und war nicht in der Lage, sich um irgend etwas zu kümmern. So mußte ich mich von einem Tag zum anderen aus einem wilden Kind in eine erwachsene Hausfrau verwandeln. Irene wurde am 10. Juni 1948 geboren. Wahrscheinlich glaubte die Hebamme meinem Bruder nicht, daß es dringend sei. Sie kam erst, als ich eben dabei war, das Baby abzunabeln. Ihr Lob nahm ich inmitten der vielen Arbeit kaum wahr.
Kurz danach erkrankte Mutter an einer Herzmuskelentzündung und war fest bettlägerig. Neben meinen Aufgaben im Haushalt und der Versorgung der kleinen Kinder mußte ich ständig Mutters Herztätigkeit beobachten und zur Hilfe bereit sein. Ich weiß nicht, was ich damals ohne meinen 13-jährigen Bruder Hans gemacht hätte. Er half, wo er konnte, erledigte fast alle Einkäufe und ging mit Silvi spazieren. Vater ließ sich kaum noch sehen, worüber ich sehr froh war. Otto versuchte uns zu helfen und brachte mir auch die Lebensmittelkarten, die ich dann an Mutters Stelle im Block verteilte. Die Leute waren sehr nett zu mir und hatten außer Lob manchmal sogar ein Ei oder Obst für uns.
Als Mutter sich im Frühjahr 1949 langsam erholte und den Haushalt wieder übernahm, wurde ich Mitglied der FDJ und konnte mich, wenigstens abends, ohne Verantwortung unbeschwert fühlen. Irgendwer war immer im Heim, und ich ging jeden Abend hin. Es dauerte aber eine ganze Zeit, ehe ich die Fröhlichkeit der Gruppe annehmen konnte. Als die Freunde merkten, wie sehr ich noch unter Ilses Tod litt, erwähnten sie meine Schwester nicht mehr. Es wurde oft spät, aber Angst vor dem Heimweg mußte ich nicht haben. Denn alle Mädchen wurden, der Reihe nach, von sämtlichen Jungs der Gruppe nach Hause gebracht. Diese Zeit in der FDJ-Wohngruppe war sehr schön. Wir hatten einen Akkordeonspieler und mehrere Freunde, die Gitarre spielten. Singen, Tanzen und Spielen waren an der Tagesordnung. Hier lernte ich auch interessante Menschen wie Ludwig Turek oder Kuba (Kurt Barthel) kennen, der uns Episoden aus seiner englischen Emigrationszeit erzählte. Von ehemaligen KZ-Häftlingen wurde uns über die in den Lagern verübten Grausamkeiten sowie die Vergasung der Juden berichtet. Durch die Berichte, die ich von Menschen hörte, die hautnah mit den Geschehnissen verbunden waren, baute sich bei mir eine ganz persönliche innere Bindung zu den jüdischen Menschen auf, denen ich in meinem Leben bis dahin begegnet bin.
Unsere FDJ-Gruppe hatte „ihre“ Trümmerstelle an der Weberwiese. Einmal wöchentlich gingen wir gemeinsam zum Enttrümmern, und wer es ermöglichen konnte, fand sich auch mehrmals in der Woche ein. Es gab sehr viele Menschen, die ihre Zeit und Kraft opferten, um die Trümmer der Vergangenheit zu beseitigen. Wer eine bestimmte Anzahl von Stunden geleistet hatte, erhielt eine Anstecknadel, auf der ein Stück Mauer, die Friedenstaube und eine Hand mit Maurerkelle zu sehen waren.
Als Mutter wieder einigermaßen auf den Beinen war, so daß sie den Haushalt wieder alleine machen konnte, besorgte ich mir Arbeit. Am 9. Mai 1949 fing ich im TRO Oberschöneweide als Bürobotin mit einem Gehalt von 90 Mark an. Die Fürsorge um die Kleinen und die Arbeit im Haushalt halfen Mutter etwas über den Tod von Ilse hinweg. Sie baute eine ganz enge Beziehung zu meinen kleinen Geschwistern auf. Vater holte endgültig seine Sachen aus der Wohnung, und Otto war wieder häufiger Besuch bei uns.
Durch Otto lernte ich viele Leute kennen, die in der SED waren und von ganzem Herzen einen neuen, friedlichen Staat wollten, in dem es jedem Menschen gut geht.
Viele von ihnen waren während der Zeit des Faschismus für ihre Überzeugung inhaftiert. An solche Leute hatte ich viele Fragen, die mir offen und ehrlich beantwortet wurden. Als ich im Juli 1949 um Aufnahme in die SED bat, wurde Ottomar Geschke, der viele Jahre im KZ war, mein Bürge. Die feierliche Überreichung der Kandidatenkarte erfolgte auf einer großen Mitgliederversammlung im TRO, mir zitterten vor Aufregung die Knie. In diesem Betrieb erlebte ich auch das große Meeting auf dem Hof des Betriebes, als am 7. Oktober 1949 die DDR gegründet wurde. Abends nahm ich als FDJler am großen Fackelzug der Jugend teil. Ich war glücklich und fest davon überzeugt, daß es mit unserem Staat nie wieder Krieg geben könnte.
Mein Vater war 1950 schon Hauptbuchhalter eines Betriebes. Möglicherweise aus schlechtem Gewissen bot er mir in der Kaderabteilung seines Betriebes eine Tätigkeit mit einem doppelten Gehalt an, die ich annahm. Ich mußte aber bald wieder gehen, da Vaters Freundin ebenfalls dort beschäftigt war. Danach arbeitete ich bei der HO als Packerin in der Warenausgabe. Von der zentralen FDJ-Leitung der HO wurde ich ziemlich schnell zur Landesjugendschule delegiert. Ich hatte große Freude am Lernen und war verliebt. Jürgen hatte ich am 3. Januar 1951 bei einer Festveranstaltung zum 75. Geburtstag von Wilhelm Pieck kennengelernt. Er gehörte zum Personenschutz von Wilhelm Pieck. Wenn Jürgen frei hatte, holte er mich in der Schule ab. Ich erzählte ihm, worüber wir in der Schule gerade gesprochen hatten, über manche Themen konnten wir stundenlang polemisieren. Obwohl wir im gleichen Alter waren, wußte er so sehr viel mehr als ich. Er verstand es, mir manches begreiflich zu machen, wo ich vorher verzweifelt war, weil ich es nicht verstanden hatte. Stundenlang konnten wir eng umschlungen durch den Grünauer Forst spazieren.
Es war die Zeit der Vorbereitung und Durchführung der III. Weltfestspiele in Berlin, deshalb war es für mich selbstverständlich, daß mein Einsatz nach Beendigung der Schule die FDJ-Kreisleitung war. Morgens erhielten wir unsere Anleitungen, tagsüber waren wir in den Betrieben und abends in den Wohngruppen. Das war für meine Freundschaft mit Jürgen schwer zu verkraften, denn er konnte sich bei seiner Tätigkeit nicht immer nach meiner knappen Freizeit richten. Nach den Weltfestspielen blieben uns noch vier Wochen, wo wir uns öfter trafen.
In einem Kreuzberger Kino wurde eine Veranstaltung mit dem SPD-Politiker Dr. Kurt Schumacher angekündigt, in der er zur deutschen Einheit sprechen wollte. Da wir die deutsche Einheit ebenfalls erstrebten, nur eben auf der Grundlage des Potsdamer Abkommens, wollten wir darüber diskutieren und gingen hin. Ich wurde während dieser Veranstaltung festgenommen und zunächst nach Moabit gebracht. Dort mußte ich die ganze Nacht mit festgenommenen Huren in einer Zelle auf einer langen Bank sitzen. Am folgenden Tag wurde ich ohne Erklärung ins Frauengefängnis Charlottenburg überführt und dort bis zum 10. Oktober festgehalten. Meine Entlassung erfolgte einen Tag vor Ablauf der Dreiwochenfrist, nach der Jugendliche nicht mehr ohne Begründung eingesperrt werden durften. An meinem 19. Geburtstag erhielt ich einen Brief von den Freunden der Kreisleitung. Es war nicht ein persönliches Wort, außer zum Schluß „Grüße von allen“. Es waren drei Seiten Phrasen. An diesen Brief habe ich später im Leben öfter denken müssen. Die ersten Oktobertage waren schon kalt. Ich hatte nur ein Sommerkleid und einen dünnen Mantel mit. Als ich wieder zu Hause war, erkrankte ich an einer doppelten Lungenentzündung und war erst im Januar 1952 wieder arbeitsfähig. Doch in der Kreisleitung fühlte ich mich nicht mehr wohl. Alle nahmen sich furchtbar wichtig, plötzlich kamen sie mir wie alte Leute vor, nicht wie jugendliche Funktionäre. Es wurde darüber gesprochen, daß die Wohngruppen aufgelöst werden sollten, was ich ganz falsch fand, weil sich die Jugendlichen in den Wohngruppen wohl fühlten. Betriebsgruppen waren wichtig, um den Jugendlichen Verantwortung in den Betrieben zu geben, aber einen echten Zusammenhalt gab es nur in den Wohngruppen.
Und dann kam einfach alles zusammen. Zu Hause fühlte ich mich überflüssig. Die Eltern waren endlich geschieden. Otto und Mutter waren mit den beiden Kleinen eine neue Familie. Ich hatte mir ein möbliertes Zimmer gesucht. Jürgen sah ich noch einige Male, bis er mir „beichtete“, daß er eine Frau kennengelernt hat, mit der er zusammenbleiben wird. Für mich stürzte eine Welt zusammen. Ich hatte große Minderwertigkeitsgefühle und fühlte mich nutzlos. Ich traute mich nirgends mehr hin und ging auch nicht mehr arbeiten. Nach längerem Fehlen kündigte ich rückwirkend bei der FDJ, ohne eine andere Arbeit in Aussicht zu haben. Die FDJ-Bezirksleitung nahm meine Kündigung kommentarlos an. Es fiel keinem auf, daß ich dringend Hilfe brauchte.
Nachdem ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte, suchte ich mir neue Arbeit. Im VEB Funkwerk Köpenick suchten sie „Mechaniker-Umlernlinge“. Mir war es egal, was ich tat, so fing ich Ende März 1952 in diesem Betrieb an. Ich lernte zuerst die Grundbegriffe der Mechanik. Eines Tages kam ein junger Kollege zu mir, der mich beobachtete, wie ich eine Feile mit der Feilenbürste bearbeitete. Er neckte mich eine Weile mit meiner Ungeschicklichkeit, zeigte mir, wie ich eine Feile richtig säubern muß und wie ich die Feile halten muß, um eine glatte Fläche feilen zu können. An diese Episode wurde ich über ein Jahr später wieder erinnert.
Ich hatte im Funkwerk Fuß gefaßt. War eine Weile in der Wickelei, im Sommer 1952 als Gruppenleiter im Kinderferienlager des Betriebes, wurde vom Betrieb von November 1952 bis Januar 1953 zu einem Wirtschaftslehrgang geschickt, wo ich außer Stenografie und Schreibmaschine auch noch Deutsch und Mathematik gelehrt bekam. Das Leben hatte mich wieder. Nach Beendigung des Lehrganges arbeitete ich für unsere beiden Redakteure von Betriebsfunk und Betriebszeitung.
Im VEB Funkwerk existierte ein aus Chor, Musik- und Tanzgruppe bestehendes Jugendensemble. Im Frühjahr 1953 wurde ich dort Chormitglied. Der junge Mechaniker, den ich mit der Feilenbürste so geschockt hatte, sang dort die Tenorstimme. Aber mehr als ein paar Sätze haben wir erst während der Ereignisse um den 17. Juni 1953 miteinander gesprochen. Nachdem mir ein Junge aus meiner Wohngruppe am 16. Juni ganz aufgeregt erzählt hatte, daß die Bauarbeiter streikten, ging ich zu meiner Mutter. Sie und Otto wußten auch noch nichts. Als wir den RIAS einschalteten, verschlug es uns fast die Sprache. Was da aus dem Lautsprecher kam, hörte sich wie die Frontberichterstattung aus dem Krieg an.
Am nächsten Tag war ich früher als sonst im Betrieb und eigentlich erstaunt, daß die Kollegen normal zur Arbeit gingen. Auch sonst erkannte ich keine Unruhe. Erst nach dem Frühstück, so gegen zehn Uhr, wurde durch Flüsterpropaganda zu einer Versammlung an das Werktor gerufen, dort bildeten sich Diskussionsgruppen. Zwischenzeitlich fiel der elektrische Strom aus. Hier und da wurden Stimmen laut, die zum Sturz der Regierung aufriefen. Trotz des geschlossenen Werktores versuchten einige unbekannte Personen ohne Ausweis, das Betriebsgelände zu betreten. Sie wurden vom Betriebsschutz und Kollegen daran gehindert. Während noch Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre beruhigend auf die Versammelten einsprachen, fiel der elektrische Strom erneut aus. Danach konnten auch die arbeitswilligen Kollegen nicht mehr arbeiten und fanden sich am Tor ein. Inzwischen wurde die Lage unübersichtlich. Nachdem außerdem der Technische Direktor zum Sturz der Regierung aufgerufen hatte, forderten etliche sehr aufgeregte FDJler den Schutz der Betriebsanlagen und stellten sich sofort zur Verfügung. Daraufhin besetzten Genossen der Partei und FDJler das Kesselhaus, die elektrische Schaltzentrale und die Telefonzentrale. Zur Unterstützung des Betriebsschutzes wurden Patrouillen eingeteilt.
Diese Einsätze führten wir rund um die Uhr bis zum Ende des Ausnahmezustandes durch. Bei diesem Einsatz lernte ich auch Günther, den jungen Mechaniker mit der „Feilenbürste“ näher kennen. (Meine spätere Ehe mit ihm ist schon ein neues Kapitel). Er erzählte mir bei einer unserer Patrouillen, was er am frühen Morgen des 17. Juni erlebt hatte. Um von der elterlichen Wohnung in Pankow nach Köpenick zu kommen, mußte er in Friedrichstraße umsteigen. Der Zug kam sonst immer leer aus dem Westsektor. Aber am 17. Juni fuhr er voll besetzt mit jungen Leuten in fabrikneuer Maurerkleidung ein. Bis zur Warschauer Straße waren diese „jungen Maurer“ alle ausgestiegen. Da Günther vom „Volksaufstand der DDR-Bürger“ noch nichts gehört hatte, wunderte er sich darüber. Inzwischen war ihm natürlich klar, daß diese „Ostberliner Streikenden“ zur Stalinallee gewollt hatten.