"Spurensicherung. Wege in die DDR" GNN Verlag
16.06.2016 um 18:32Hermann Kant:
Zeitangaben
Für jene Deutschen, die den zweiten Weltkrieg gern gewonnen hätten, ging er spätestens im Mai 1945 verloren. In Wahrheit war er das schon am 1. September 1939. Spätestens. Denn begonnen hatte er am 30. Januar 1933. Spätestens. Oder am 9. November 1918. Hält man sich weniger an Daten als an Taten, ist er noch nicht zu Ende. In den juristischen Manövern Lange Bank und Tod vor Entschädigung, mit denen Deutsche Bank & Kumpanei um eine Bußgeldzahlung an ehemalige Zwangsarbeiter herumkommen wollen, dauert dieser Krieg an. In allen Zusammenrottungen gegen die Wehrmachtsausstellung ist er lebendig. Mit jeder Auschwitz-Leugnung setzt er sich fort. Der Historiker-Streit war seine Verlängerung mit wissenschaftlichen Mitteln. Bei der Mahnmal-Debatte geriet er dank maulendem Dichtermund in moralisch-ästhetische Bereiche. Wo Beutekunst zum Streit zwischen gleich empörten Räubern und Beraubten führt, geht der Raubkrieg weiter. Selbst in der Ansicht des Kanzlers, der letzte Einsatz deutscher Soldaten in Serbien habe den vorletzten in Wichtigem wettgemacht, behauptet sich besagter Krieg. Wirklich vorbei ist er erst, wenn zu solchen Taten auch solches Denken unterbleibt.
Am 1. September 39, spätestens, fingen die deutschen Städte Stettin und Breslau an, polnische Städte zu werden. Zeitgleich mit den Panzern, die nach Osten rollten, schleppten sich die Flüchtlingstrecks nach Westen. Mit dem Gebrüll, nun werde zurückgeschossen, begann der Marsch hinter Stacheldraht. In ein und derselben Stunde wurden zu den Gewehren die Krücken und Prothesen ausgegeben. Wer den Mann am Wolchow oder die Frau im Phosphor verlor, dem geschah es unter diesem Datum. Auch der Anfang deutscher Teilung ist so markiert. Fragt sich nur, wie weit sich solche Zusammenhänge unter den Deutschen herumgesprochen haben. - Einen alten Satz noch einmal aufzunehmen: Der Krieg hat einen Hof, wie der Mond einen hat. Ein Ring aus Nebenwirkungen, eine Korona aus Kollateralem fasst ihn ein. Wo man von seinem Vorfeld spricht, darf man auch von einem Nachfeld sprechen. In dem einen wird er geplant, oder es wird auf Abhilfe gegen ihn gesonnen. Im anderen sichert man Gewinn oder sucht Verluste wettzumachen. Gegen Ende eines Krieges beginnt der nächste. Spätestens. Wirklich beenden kann man ihn nur, bevor er angefangen hat. Das Wort Kriegsausbruch sagt es wünschenswert genau. Ob Vulkan, Epidemie, Gefangene oder Wut - ehe etwas ausbricht, hat es sich versammelt, aufgebaut, angestaut oder ist verabredet und vorbereitet worden. Man soll es ruhig glauben: Die meisten Deutschen haben den Krieg, der am 1. September vor sechzig Jahren ausbrach, ausgebrochen wurde, nicht gewollt. Die meisten von diesen meisten haben nur nichts gegen ihn getan, solange es noch ging. Dass sie ihren Diktator nicht stürzten, als sie ihn nicht stürzen konnten, ist ihnen nicht vorzuwerfen; dass sie ihn wählten, als sie ihn nicht wählen mussten, schon eher.
Man darf es beunruhigt glauben: Die meisten der heutigen Deutschen wären gegen jeden nächsten Krieg - und beteiligten sich doch an ihm. Obwohl sie freie Bürger eines freiheitlich verfassten Landes sind, die keinen Diktator fürchten müssen. Von wegen ... und keiner ginge hin! Und ob sie gingen! Und ob sie hingegangen sind, eben noch nach Serbien! - Das war etwas anderes? Selbstredend war es etwas anderes. Vor allem aber war und ist es ein Krieg. Ein regionaler Krieg, der für einen globalen das sein konnte und könnte, was ein Zünder für die Granate ist. Jeder Krieg ist ein anderer. Dieser war, soweit es die Deutschen betrifft, mehr ein Fernbedienungskrieg. Einer, in dem sie sich unter Bösen als Gute fühlen konnten. Wie ein Stänglein allenfalls von einem Bündel Dynamit. Zwar gibt es, was solchen Anteil an Geschichte betrifft, etliche Geschichten, von denen einige am 1. September 39 begannen. Doch was ist Literatur gegen Geschichtsteilhabe? Was gar sind 1999 Kriegsgeschichten gegen Kriegsanteil, Kriegsgewinn?
Jeder Krieg ist anders. Sie ähneln einander insofern, als zugehörige Begründungen und Zielangaben selten zu den wahren Gründen und Zielen stimmen. In Serbien habe man Unrecht bekämpfen und Entrechtete in ihr Recht setzen wollen? Das ist zu glauben, aber welcher von all den Kriegen vor und nach dem 1. IX. 39 kam ohne eine derartige Deklarierung aus? Der auf dem Balkan hat erkennbar einen Seitenwechsel von Unrecht und Entrechteten gebracht. Neben aktuellen zielt er auf ferne Wirkungen. Er war, er ist weniger ein Fernbedienungskrieg als vielmehr einer der Fernwirkung. Der Wirkung in nahe Ferne. Einer, der die Schussbahn für einen anderen schaffte.
Alle reden vom Problem 2000 und meinen den Umgang des Computers mit der Zeit. Doch sollte man das Wort für andere Fehler reservieren. Z. B. den, der sich ergeben könnte, weil in 60 Jahren zu wenige der vielen Deutschen einen auch ihnen bekömmlichen Umgang mit dem 1. September 1939 erlernten.
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Erstveröffentlichung in „Neues Deutschland“ am Mittwoch, 1. September 1999; der Nachdruck im vorliegenden Buch erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.