"Spurensicherung. Zeitzeugen zum 17. Juni 1953" GNN Verlag
16.06.2016 um 04:30Hans Fricke:
Keine Fehlerdiskussion zugelassen
(Rostock)
Das für mich nachhaltigste Ereignis während meiner aktiven Dienstzeit in der BDVP Rostock war der 17. Juni 1953. Die Tage um den 17. Juni und die Zeit danach hinterließen in mir tiefere Spuren, als ich mir anfangs bewußt war und selbst eingestehen wollte. Auch wir Angehörigen der Volkspolizei hatten die Entwicklung vor dem 17. Juni sehr aufmerksam und mit wachsender Besorgnis verfolgt. Da wir in der Hauptsache aus der Arbeiterklasse kamen, war uns unbegreiflich, daß ausgerechnet die Arbeiter von der Politik des Neuen Kurses ausgespart bleiben sollten. Und wären die Demonstrationen des 17. Juni ebenso gewaltlos verlaufen wie die in den Novembertagen des Jahres 1989, hätten sie möglicherweise sogar in der Volkspolizei Sympathie gefunden. Doch leider - und das ist anderen anzulasten als den unzufriedenen Arbeitern - wurden die Meldungen aus Berlin und anderen Zentren von Stunde zu Stunde besorgniserregender. Die vielerorts brennenden Gebäude, umgestürzten Autos, eingeschlagenen und geplünderten Schaufenster vermittelten ein Bild sinnloser, zerstörerischer Gewalt. Dann wurde bekannt, daß in Halle das Gefängnis gestürmt worden war. Es hieß, neben anderen Gewaltverbrechern sei auch die dort einsitzende berüchtigte Kommandeuse eines KZ befreit worden. Kurze Zeit später erfuhren wir, daß diese vor einer ihr zujubelnden Menschenmenge gesprochen hatte. Polizeiintern gab es erste Meldungen über erschlagene und aufgehängte Angehörige der Volkspolizei. Vor diesem Hintergrund waren für uns Richtung und Hintermänner der Ereignisse klar. Offensichtlich handelte es sich um eine langfristig vorbereitete, von außen gesteuerte konterrevolutionäre Aktion gegen die noch junge DDR. Die berechtigten Proteste gegen die Normerhöhung waren nur als Vorwand und auslösendes Moment genutzt worden.http://www.spurensicherung.org/texte/Band2/fricke.htm#top
In Rostock versuchten die örtlichen Partei- und Staatsorgane vor allem, die nach Tausenden zählende Arbeitsschicht der Neptun-Werft von der Straße fernzuhalten.
Auch wir atmeten erleichtert auf, als die Sowjetarmee die Demonstrationen und Randale in den wichtigsten Zentren gewaltsam, aber dennoch mit erstaunlicher und begrüßenswerter Zurückhaltung beendete. Die Reaktionen der Westmächte sowie die Proteste der Bundesregierung hielt ich für pure Heuchelei von Leuten, deren Rechnung nicht aufgegangen war.
Erst später begann ich zu ahnen, daß Schwerwiegenderes geschehen war und der massive Ausbruch von Unzufriedenheit Tieferliegendes offenbarte. Doch jeder Versuch, in der Partei darüber offen zu diskutieren, scheiterte am Widerstand der Parteiführung. Sie forderte damals kategorisch, keine schädlichen „Fehlerdiskussionen" zuzulassen. Die innenpolitischen Schwierigkeiten der DDR sollten vielmehr „im Vorwärtsschreiten" überwunden werden.