"Spurensicherung. Zeitzeugen zum 17. Juni 1953" GNN Verlag
14.06.2016 um 17:53Marga Rothe:
Häftlinge und Helden
(Leipzig)
Damals arbeitete ich bei der Leipziger Staatsanwaltschaft in der Beethovenstraße. Am 17. Juni 1953 wurde mein Mann 37 Jahre alt, und wir hatten Gäste. Meine Mutter war angereist und wollte sich Leipzig ansehen. Sie kam zum Karl-Marx-Platz. Dort waren viele Menschen versammelt. Ein Mann sprach, aber wegen der Entfernung verstand sie nichts davon. Ein anderer entrollte plötzlich eine schwarz-rot-goldene Fahne, und die Menschenmenge setzte sich in Bewegung. Meiner Mutter wurde es langweilig. Sie kehrte um.http://www.spurensicherung.org/texte/Band2/rothe.htm#top
Dafür sah ich wenig später den Fahnenträger, gefolgt von einer johlenden Menschenmenge, in der Beethovenstraße erscheinen. Vor unserem Gebäude rollte er die Fahne ein und verschwand über ein Garagendach. Inzwischen hatten Randalierer das Kommando übernommen und versuchten, das Tor zur Haftanstalt - sie lag im gleichen Gebäudekomplex wie Gericht und Polizeipräsidium - einzudrücken. Kurz zuvor war im Zuckeltrab noch der Pferdewagen angekommen, mit dem ein Aufseher und ein Häftling Speiseabfalle für die Schweinemast zusammengefahren hatten. Als der Häftling die Menschenmenge heranwalzen sah, ergriff er die Zügel, stellte sich vor den Aufseher und kutschierte das Gespann unangefochten ins Gehöft.
Danach horte ich wuchtige Hammerschlage im Erdgeschoß. Später stellten wir fest, daß man die Telefonanlage völlig zerstört hatte. Eine Etage unter uns wurden Akten des Vertragsgerichts auf die Straße geworfen und angezündet. Jemand brüllte Morddrohungen gegen den Leiter der Abteilung I1. Und das sollen Arbeiter gewesen sein? Doch dann brummte ein Panzer der Roten Armee heran. In der Luke stand ein junger Rotarmist. Und nachdem zweimal in die Luft geschossen wurde, wich die Menge. Nur vereinzelt wurden noch Störungen versucht.
Wenn heute von Toten in der Beethovenstraße geschrieben wird, ist das für mich eine Zwecklüge. Unsere bewaffneten Organe hatten absolutes Schießverbot. Übrigens hatte der Leiter der Haftanstalt die Zellentüren öffnen lassen und den Häftlingen freigestellt, hinauszugehen. Es ist aufschlußreich, daß nicht einer von ihnen diese Möglichkeit nutzte. „Mit der Sache wollen wir nichts zu tun haben", erklärten sie.
In den nächsten Tagen wurde der Umfang der Plünderungen und Verwüstungen bekannt. Bezeichnenderweise waren viele der später Verhafteten im Rotlicht- und Ganovenmilieu angesiedelt und oft genug gekaufte Subjekte. So sollte das Kraftwerk Dimitroffstraße gestürmt werden, um ganz Leipzig lahmzulegen. Die Arbeiter dieses Betriebes besaßen keine Waffen, aber sie nutzten ihre Fäuste und schlugen das Gesindel in die Flucht. Für mich sind nicht die Teilnehmer des sogenannten „Arbeiteraufstandes", sondern solche wie sie die wahren Helden dieses Tages.