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Albert Camus - Die Pest
01.03.2016 um 00:22Ein Roman als Kammerspiel und philosophische Reflexion der Frage, was der einzelne Mensch unter Aufopferung seiner eigenen Wünsche für die Gesellschaft leisten soll.
Camus wird gerne in den Zusammenhang gestellt, dass er den Existenzialismus weitergeführt hat, indem er die Existenz des Menschen als Absurdität darstellte, auch für diesen Roman. Nur: dies kann ich einfach nicht erkennen.
Der Inhalt ist schnell wiedergegeben: die Stadt Oran in Algerien wird von einer Pest-Epidemie heimgesucht, die Behörden wollen dies lange nicht wahrhaben, und der Arzt Bernd Rieux organisiert Hilfe, einen Serum-Spezialisten und einen Sanitätstrupp.
Einerseits ist er die einzige Instanz, welche den Kranken eine persönliche Unterstützung liefert - er und sein kleiner Trupp verbringen 20 Stunden am Tag mit Kranken -, andererseits unterstützt er die immer rigoroseren Quarantänemaßnahmen der Stadt- und Staatsbehörden: Isolierung der Kranken wie der Angehörigen, völlige Abschottung der Stadt (Flucht wird mit dem Tode bestraft, nur mehr Telegramme sind als Kommunikationsmittel erlaubt).
Warum ich nicht der Absurditäts-These für diesen Roman anhänge, ist die Aufopferung der kleinen Personenschar um Rieux. Alle haben etwas oder jemand verloren oder sind getrennt davon: Rieux von seiner tuberkolosekranken Frau, ein Journalist von seiner Frau in Frankreich (er verzichtet auf eine mögliche Flucht), ein Jesuiten-Pater von Gott (sensationelle Theodizee-Passagen!).
Was diese Menschen auszeichnet, ist keine Absurdität, sondern eine Ergebenheit in eine über das Einzelinteresse hinausgehende Angelegenheit der Gemeinschaft, welche die Möglichkeit des eigenen Todes miteinschließt: "Die Pest geht uns alle an."
Neben längeren philosphischen Passagen, vor allem in Gesprächen, ein sehr sachlich gehaltener Roman, der persönliche Gefühle hintenanstellt und zutiefst anregt darüber nachzudenken, wie man selbst in einer Situation der äußersten Not handeln würde.
Camus ist zurecht mit diesem Roman praktisch über Nacht berühmt worden, da in Frankreich dieser Roman des in Algerien aufgewachsenen Franzosen als Metapher gesehen wurde, wie der einzelne sich während der Nazi-Besatzung bzw. des Vichy-Regimes hätte verhalten sollen. Die Sanitätstruppe von Rieux wurde als Resistance verstanden.
Aber wie immer bei großartiger Kunst: dies ist eine Seite der Interpretation. Der Text selbst ist offen, er stellt die allgemeine Frage, wie eine einzelne Person sich in Zeiten einer Katastrophe verhalten soll, und die Antwort ist, dass in diesem Falle die Hingabe für die Gemeinschaft über den individuellen Einzelinteressen steht.
Aber nur in diesem Falle. Im normalen, katastrophenfreien Leben ist die Liebe und das Feiern das menschlichste Verhalten.
Ein großartiger Roman.