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Blutige Maiglöckchen
17.06.2014 um 09:07Die Nacht ist vorbei, der Morgen kommt
Und wieder versuch ich meine Träume festzuhalten
Es war doch so schön, ich war im Wunderland
Ich war frei und leicht und unbekannt
Ich hatte Flügel, flog durch die Welt
Nun sind sie fort, wer hat den Tag bestellt
Die Sonne schickt mir strahlendes Licht
Der Tag umarmt mich, doch meine Träume kennt er nicht
Kennt nicht die Liebe, kennt nicht den Schmerz
Kennt keine Trauer, Hass oder liebend Herz
Nur die Nacht schenkt mir Vergessen und Glück
Ich wünsch mir die Nacht wehmütig zurück
Will träumen und frei sein und fliegen
Doch es wird immer der Morgen siegen
Laura langweilte sich. Sie saß auf der Terasse ihres kleinen Häuschens in der warmen Maisonne und hatte ein aufgeschlagenes Buch vor sich liegen. Heute war wieder so ein Tag, wo sie nichts mit sich anzufangen wußte. Ihre Freundin war im Urlaub und ihr Mann Luca arbeiten. Sie schaute nach der Uhr. Eigentlich sollte Luca schon zu Hause sein. Großartige Sorgen machte sie sich nicht, sicher kaufte er noch schnell etwas ein. Als Luca nach zwei Stunden immer noch nicht da war, rief sie bei einem Arbeitskollegen an. Dieser versicherte ihr jedoch, daß er mit Luca pünktlich das Büro verlassen habe und er riet ihr dringend die Polizei zu verständigen. In Laura stieg unendliche Angst auf. Sofort kam die Erinnerung. Ihr Mann nahm mit seinem Fahrrad immer die Abkürzung durch das kleine Wäldchen. Voriges Jahr, es muß auch im Mai gewesen sein, wurde dort ein Mann ermordet aufgefunden. Soweit sie informiert war, hatte man den Täter nie gefasst. Und nun kam Luca nicht.
Mit zitternden Fingern wählte sie den Notruf. Ihr wurde jedoch nur lakonisch mitgeteilt, sie solle doch erst mal alle Verwandte und Bekannte anrufen und natürlich auch in allen Krankenhäusern nachfragen. Dann erst würde man eine Suchmeldung herausgeben.
Laura rief überall an, ohne Ergebnis. Sofort griff sie wieder zum Telefonhörer und sprach nochmals mit einem Polizeibeamten. Sie erzählte ihm, daß ihr Mann jeden Tag durch das Wäldchen fuhr und daß doch dort einmal jemand ermordet wurde. Man versprach ihr zu helfen.
Keine zehn Minuten später klingelte es an ihrer Tür. Luca! Das ist Luca! Aber es war eine Kriminalbeamtin mit ihrem Kollegen. Laura mußte ausführlich den Arbeitsweg ihres Mannes beschreiben und es wurden ihr auch seltsame Fragen gestellt. Ob sie vielleicht Streit hatten, oder ob eine andere Frau im Spiel ist und wie ihre Ehe so läuft.
Lauras Geduld war am Ende. „Wieso stellen Sie mir so sinnlose Fragen, wieso suchen sie meinen Mann nicht?“ „Nur mit der Ruhe Frau Brandt, der Wald wird gerade durchsucht, aber das ist halt schwierig in der Dunkelheit.“ Die Polizistin legte mitfühlend den Arm um Laura, der die Tränen übers Gesicht liefen. „Holen Sie sich eine Freundin für diese Nacht hierher, dann sind Sie nicht so allein, wir müssen jetzt leider gehen.“
In ihrer Verzweiflung klingelte Laura die Nachbarin aus dem Bett. Nun saßen beide Frauen auf der Couch und warteten auf einen Anruf. Nach drei Stunden endlosen Wartens erhielten sie die Nachricht, daß die Suche für heute abgebrochen wurde, man konnte ihren Mann nicht finden. Laura saß nur da und zitterte. Die besorgte Nachbarin machte ihr einen Tee und dann saßen Beide wieder schweigend da.
Es war schon gegen drei Uhr, als Laura aus ihrer Starre erwachte. Ihre nette Nachbarin lag etwas verdreht neben ihr auf der Couch und schlief. Laura stand auf und ging in die Küche. Sie schaute ziellos umher, was will ich eigentlich hier. Ihr Blick fiel auf eine Flasche Rotwein, den Luca vor zwei Tagen mitgebracht hatte. Mit dem gefülltem Glas ging sie zurück ins Wohnzimmer und setzte sich in den alten Sessel neben das Telefon. Ihr Herz raste noch immer, sie stellte sich die schlimmsten Sachen vor, die passiert sein könnten. Mit einem Zug trank sie den Wein und fiel kurze Zeit später in einen Dämmerschlaf.
Laura hatte Flügel und flog hoch oben in der Luft. Unter ihr lag das Wäldchen. Die Sonne schien und eine Biene summte um ihr Ohr. Sie flog zu einer kleinen Lichtung, wo Luca friedlich schlief. Laura legte sich neben ihn und lehnte ihren Kopf an den Seinen. Sie war so glücklich, Luca war alles was sie hatte und sie liebte ihn. Ringsum standen Maiglöckchen in voller Blüte. Laura pflückte ein Sträußchen und legte es Luca in die Hände. Dann schlief auch sie ein.
Das Telefon klingelte. Schlaftrunken schaute Laura auf die Uhr. Es war morgens acht Uhr und plötzlich fiel ihr die vergangene Nacht ein. Hatte man Luca gefunden? Es wurde ihr aber nur mitgeteilt, daß die Suche nun fortgesetzt wird. Ihre Nachbarin kam mit frischem Kaffee und ein paar Schnittchen aus der Küche. Nein, essen konnte Laura nicht. Die Kaffeetasse hielt sie fest umklammert, ihr ganzer Körper bebte vor Angst.
Schrill und laut klingelte es an der Haustür. Die Frauen zuckten zusammen. Wieder stand die Kriminalbeamtin vor der Tür. Sie fragte mit ernster Miene, ob sie eintreten könnte. Laura konnte sich nicht mehr beherrschen und schluchzte laut. Ihre schlimmsten Vorahnungen bestätigten sich. Luca war tot. Man hatte ihren geliebten Luca ermordet. Sie hörte nicht mehr die tröstenden Worte, sie fiel einfach um.
„Möchten Sie etwas zu trinken haben?“ Laura sah in die freundlichen Augen einer Krankenschwester, die ihr das Bettzeug zurecht zupfte. „Nein Danke,“ konnte Laura noch mit erstickter Stimme herausbringen, dann flossen wieder ihre Tränen. Als die Schwester das Zimmer verlassen hatte, nahm Laura das Kopfkissen vor den Mund und schrie ihren Schmerz hinein.
Ein paar Tage dämmerte Laura vor sich hin. Die Tränen waren versiegt, aber der Schmerz hörte nicht auf. Apathisch ließ sie alles über sich ergehen. Sie nahm ihre Medizin und beantwortete alle Fragen. Nur nachts in ihren Träumen war sie glücklich. Sie hatte Flügel und flog mit Luca über die Erde. Sie näherten sich der Sonne und dem Sternenhimmel, aber immer endete der Traum auf der Maiglöckchenwiese. Dort lagen sie beieinander und hielten sich fest umschlungen.
Nach einer Woche wurde Laura entlassen. Ihre Freundin Nelly, inzwischen zurück aus dem Urlaub, holte sie ab. Zu Hause angekommen, übermannte Laura der Schmerz mit aller Macht. Alles erinnerte sie an Luca, den sie nie wieder sehen würde.
Die Trauerfeier und das anschließende Begräbnis waren vorüber. Laura saß in ihrem großen Sessel. Gegenüber auf der Couch saß die Kriminalbeamtin mit ihrem Kollegen und erzählte, wie man Luca gefunden hatte. Luca war von hinten mit einem dünnem Draht erdrosselt worden. Der Täter hatte ihn dann auf die Lichtung gelegt und ihm einen Maiglöckchenstrauß in die gefalteten Hände gesteckt. Alles war genauso wie beim ersten Mord im vorigen Mai. „Wir haben es mit einem Serientäter zu tun und wir werden Sie auf dem Laufenden halten Frau Brandt. Mehr können wir Ihnen vorerst nicht mitteilen.“
Laura war geschockt. Sie dachte an ihre Träume.
Vorsichtig umsorgte Nelly ihre Freundin. Sie wohnte nur zwei Häuser entfernt und konnte so öfter bei ihr vorbei schauen. Eines Abends, die Freundinnen saßen mal wieder beisammen, erzählte Laura von ihren Träumen, die sie auch jetzt noch hatte. Nelly hörte erstaunt zu. „Du mußt das unbedingt der Polizei erzählen.“ „Nein, ich glaube nicht, daß sie ein Traum interessiert, es wird nicht weiter helfen und auslachen lass ich mich schon garnicht.“ „Gut Laura, wenn Du das nicht möchtest, müssen wir auf eigene Faust etwas unternehmen. Wenn Du wieder über die Lichtung fliegst, dann sieh genau nach unten. Alles was Dir auffällt kann wichtig sein.“
Ein knappes Jahr war vergangen. Laura hatte sich wieder erholt und bewältigte ihren Alltag allein. Sie ging inzwischen ein paar Stunden arbeiten und hatte recht nette Kollegen in ihrer Abteilung. Mit Nelly verband sie eine innige Freundschaft. Das Unglück hatte die Beiden noch fester zusammen geschweißt. Ab und zu fragte Nelly nach Lauras Träumen und ob sie etwas gesehen hätte. Aber Laura konnte nichts Neues berichten. Sie flog immer noch mit Luca durch die Welt und landete zum Schluß auf der Lichtung mit den blühenden Maiglöckchen. Doch eines Nachts änderte sich ihr Traum. Sie flog allein über das Wäldchen und Luca lag unten auf der Wiese. Glücklich, ihren geliebten Mann wieder zu haben, legte sie sich neben ihn und wollte ihn umarmen. Doch was war das? Neben ihr lag ein fremder Mann, um seinen Hals war eine dünne Drahtschlinge, in den Händen hielt er einen blutigen Strauß Maiglöckchen.
Die Zeit verging. Laura fand sich in ihr neues Leben hinein und ihr seelischer Zustand wurde stabiler. Sie war nur traurig, daß ihre Träume mit Luca aufgehört hatten, denn nur dann war sie frei und glücklich. Seit jener Nacht, als ein anderer Mann auf der Wiese lag, war es vorbei mit ihren Träumen. Nun stellte das Leben andere Anforderungen an sie. Inzwischen ging sie schon den ganzen Tag arbeiten, und es blieben ihr nur wenige Stunden Freizeit. Ihre Aufgaben in der Firma nahmen sie voll in Anspruch.
Ein Kollege lud sie eines Tages zu einem sogenanntem Arbeitsessen ein. Laura stimmte zu. Die Arbeit machte ihr Spaß und sie war ehrgeizig. Für das Arbeitsessen machte sie sich sorgfältig zurecht. Sogar ein neues Kleid hatte sie sich gekauft, das Erste nach Lucas Tod. Als sie an Luca dachte, bekam sie ein schlechtes Gewissen, sie mochte ihren Kollegen, mit dem sie gleich essen ging. Doch da klingelte es schon. Vor der Tür stand Nelly. „Du siehst toll aus Laura, willst du ausgehen?“ „Nicht direkt, es ist wegen dem neuen Projekt. Thomas, du weißt schon, mein Kollege, will mit mir nochmal darüber reden. Er hat mich zum Essen ins 'Blue Moon' eingeladen.“ Laura wurde rot. „Das muß Dir doch nicht peinlich sein Schatz, ich freue mich, daß Du wieder am Leben teilnimmst. Und mit einem verschmitztem Lächeln fügte sie hinzu: „Und ich freue mich, daß Du dich wieder für andere Männer interessierst.“
Es klingelte abermals. Thomas, ein Mann Ende Dreißig, gutaussehend, schlank und sportlich, begrüßte die beiden Frauen. „Schön Sie mal kennenzulernen, Nelly. Laura erzählt oft von Ihnen.“ „Ich will doch hoffen, nur Gutes. Aber jetzt muß ich los, habe noch einiges zu tun.“
An den Abend mit dem Arbeitsessen mußte Laura noch oft denken. Sie hatte nach langer Zeit wieder einmal herzhaft gelacht und sich als Frau gefühlt. Thomas bewundernte Blicke blieben ihr nicht verborgen. Sie dachte jetzt öfter an ihn, aber verliebt, nein verliebt hatte sie sich nicht. Das jedenfalls redete sie sich ein. Und nun hatte er sie abermals eingeladen. Von einem Arbeitsessen war allerdings nicht die Rede. Es wurde wieder ein sehr schöner Abend. Thomas brachte Laura bis zur Haustür und sie umarmten sich zum Abschied. Ein weiteres Treffen war schon geplant. Nun mußte sich Laura eingestehen, daß es mehr als Freundschaft war, was sie mit Thomas verband.
Laura war verliebt! Und sie war glücklich! Das Leben hatte wieder einen Sinn.
Laura lief durch den Supermarkt und suchte die feinsten Delikatessen aus. Heute wollte Thomas zu ihr kommen. Sie hatte ihn nach reiflicher Überlegung und mit Nellys Zuspruch, zu sich eingeladen. Verträumt ging sie an den Regalen entlang. Das Essen sollte perfekt werden, aber was kam danach? Nein, soweit wollte sie nicht denken. Sie griff zu einer Flasche Wein, als sie plötzlich jemand von hinten ansprach. „Hallo, schöne Nachbarin, man sieht Sie ja kaum noch, wohl sehr beschäftigt?“ Laura kannte die Stimme. Es war ihr Nachbar aus dem Nebenhaus, aber sie freute sich nicht über diese Begegnung. Sie hatte schon öfter das Gefühl, daß er ihr nachstellte. Außerdem mochte sie seine schleimige Art nicht. Sie begrüßte ihn kurz und ging dann zur Kasse. Auf dem Nachhauseweg holte er sie jedoch wieder ein und wollte ihre Taschen tragen. Laura mußte sich notgedrungen nun mit ihm unterhalten und war froh, als sie endlich vor ihrer Haustür stand. Sie dachte wieder an den heutigen Abend mit Thomas und sie wußte nun auch, daß da mehr war als verliebt sein.
Laura und Thomas waren ein Paar. Sie sahen sich zwar täglich auf Arbeit, aber die Wochenenden gehörten ihnen ganz allein. Entweder machten sie es sich zu Hause gemütlich oder sie gingen ins 'Blue Moon'. Das 'Blue Moon' war eine gemütliche und saubere Eckkneipe nicht weit von Lauras Wohnung entfernt. Hier hatten sie sich verliebt und hier fühlten sie sich wohl. In letzter Zeit allerdings nicht mehr so sehr. Lauras lästiger Nachbar kam immer öfter und beobachtete sie und Thomas argwöhnisch. Erst als Laura etwas sagte, wurde Thomas aufmerksam auf den jungen Mann. „Wir können auch woanders hingehen, wenn es Dich stört.“
Von nun an gingen sie nicht mehr ins 'Blue Moon'. Sie vermissten jedoch den lustigen Wirt, die alte Schrammelmusik, die lärmenden Gäste und den Billardtisch.
Nelly hatte Veständnis, daß Laura nun weniger Zeit mit ihr verbrachte. Sie freute sich für Laura, daß sie nochmals ihr Glück gefunden hatte. Aber da ihr Mann öfter auf Dienstreisen unterwegs war, langweilte sie sich ohne die Freundin. Also rief sie bei ihr an und fragte, ob sie Lust auf eine Runde Billard im 'Blue Moon' hätte. Laura sagte sofort zu. Sie freute sich auf diesen Abend. Früher war sie öfter mit Nelly dort gewesen und sie hatten Spaß ohne Ende gehabt. Aber seit Luca tot war, war sie nie wieder mit Nelly dort gewesen.
Der Abend verlief lustig, wie erwartet. Die Beiden hatten wohl ein Gläschen zu viel getrunken, denn auf dem Heimweg schwankten sie bedenklich und mußten sich unterhaken. Eine Weile standen sie noch bei Laura am Gartentor und kicherten. Dann verabschiedete sich Nelly. Vom Weiten rief sie noch: „Nicht die falsche Tür erwischen, Laura, Dein Nachbar freut sich schon.“ Erschrocken schaute Laura hinüber zum Nachbarhaus. Die Fenster waren dunkel, doch die alte Sraßenlaterne spendete so viel Licht, daß sie erkennen konnte, daß Klaus, ihr Nachbar am Gartenzaun mit einer Flasche Wein stand. „Wollen Sie nicht noch einen Schluck mit mir trinken, schöne Frau?“ „Nein Herr Keller, ich habe für heute genug, außerdem bin ich totmüde. Vielleicht ein anderes Mal.“ Laura schloß ihre Tür auf und ging hinein. Wieso habe ich jetzt gesagt, vielleicht ein anderes Mal? Der Kerl verfolgt mich ständig und ich bin auch noch freundlich zu ihm. Doch dann dachte sie wieder an Thomas. Morgen würden sie sich sehen. Nellys Mann hatte Geburtstag und sie waren beide eingeladen.
Die Arbeit in der Firma ging voran. Das Projekt war erfolgreich und Thomas wurde befördert. Er hatte nun sein eigenes Büro und eine dicke Gehaltserhöhung bekommen. Allerdings hatte er nun auch mehr Arbeit und weniger Zeit für Laura. Das konnte Nelly nur recht sein. Immer häufiger saßen die Freundinnen bei Nelly zu Hause und spielten Karten oder schauten sich alte Filme an. Öfters war auch Gerald, Nellys Mann dabei und verwöhnte die Beiden. Er kochte für sie leckere Sachen und füllte ihre Gläser nach, was sie sich gern gefallen ließen.
Wenn das Gespräch auf Luca kam blockte Laura ab. Sie liebte Luca immer noch. Aber sie liebte auch Thomas. Es fiel ihr unendlich schwer ihren Mann zu vergessen. Thomas spürte das und gab ihr Zeit. Wenn es nach ihm ginge,würde Laura längst schon bei ihm wohnen. Er hatte auch geplant, sie seinen Eltern vorzustellen.
Aber es kam anders. Thomas erhielt einen Anruf von seinem Vater, der ihm mitteilte, daß seine Mutter schwer gestürzt war und auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben war.
„Mit unserem gemeinsamen Urlaub wird es leider nichts. Ich muß mich erst mal um meinen Vater kümmern und alles regeln.“ Laura hatte Thomas noch nie so traurig gesehen. Sie wußte, daß er sehr an seiner Mutter gehangen hatte. „Ja, fahr zu Deinem Vater, er braucht Dich jetzt dringend. Ich werde auf Dich warten, egal wie lange es dauert.“
Und wieder war es Nelly, die ihrer Freundin Trost spendete. „Mich brauchst Du nicht trösten, Thomas könnte das gebrauchen. Er wird wohl am Wochenende wieder hier sein.“
Das Wochenende verging, doch Thomas kam nicht. Laura versuchte mehrmals am Tag ihn zu erreichen, doch er ging nicht ans Handy. Die Adresse seines Vaters wußte sie leider nicht, sonst hätte sie dort angerufen. Doch Nelly wußte Rat. Über den Namen bekam sie die Telefonnummer heraus und Laura rief sofort Thomas Vater an. Sie stellte sich als Kollegin vor und sprach ihr Beileid aus. Im Gespräch erfuhr sie, daß Thomas vorgestern abgefahren war. Na gut, dachte sich Laura, Thomas braucht sicher etwas Zeit, sonst hätte er sich schon bei mir gemeldet, da will ich ihn auch nicht stören.
Laura ging traurig zu Bett. Gerne hätte sie den heutigen Abend mit Thomas verbracht, aber sie hatte Verständnis für ihn und konnte sich in seine Lage versetzen.
Die folgende Nacht sollte Laura für ewig im Gedächtnis behalten.
Sie flog in ihrem Traum über das Wäldchen zur Lichtung. Glücklich und frei! Luca lag auf der Wiese und schlief. Es war alles wie immer. Die Maiglöckchen blühten und sie legte sich zu Luca und umarmte ihn.
Aber es war nicht Luca, sondern Thomas.
Am nächsten Morgen freute sich Laura schon auf die Arbeit. Heute würde sie endlich Thomas wiedersehen und vielleicht auch den Abend mit ihm verbringen. Ob ich ihn schon mal anrufe, überlegte sie. Doch dann beschloss sie, schnell noch seine Lieblingspralinen zu kaufen, um ihn im Büro zu überraschen. Doch Thomas war nicht auf Arbeit erschienen. Sein Kollege hatte schon versucht ihn zu erreichen, aber erfolglos. Thomas war verschwunden.
Laura lief zur Toilette. Ihr war schlecht. Schlagartig fiel ihr der Traum von letzter Nacht ein. Sie sank auf den kalten Fliesenboden und weinte hemmungslos. So fand sie eine Kollegin, die sogleich Nelly zu Hilfe rief.
„Wir müssen die Polizei verständigen, oder Thomas Vater.“
Nelly schenkte ihrer Freundin bereits den zweiten Cognac ein. Laura hatte sich etwas beruhigt. „Nein, solange wir nicht wissen was mit Thomas ist, rufen wir seinen Vater nicht an. Der hat selbst genug Sorgen. Und die Polizei? Ich weiß nicht? Die sagen dann, ich soll alle Krankenhäuser und Verwandte anrufen. Ich kenne doch Thomas Verwandtschaft garnicht. Sie werden seinem Vater Bescheid sagen.“ Laura wußte nicht mehr weiter, aber irgend etwas musste sie tun.
Nelly hatte die Freundin gleich nach dem Anruf vom Büro abgeholt und mit zu sich nach Hause genommen. Unterwegs hatte ihr Laura unter Tränen von ihrem Traum erzählt. Es war Thomas, der auf der Wiese gelegen hatte, und auch er hielt einen blutigen Strauß Maiglöckchen in den Händen. Auch Nelly war geschockt. Sie dachte an das vergangene Jahr und was Laura durchgemacht hatte. Und nun war wieder Mai und die Träume kehrten zurück. Etwas ratlos schaute sie zu Laura hinüber, die wie ein Häufchen Unglück aussah. „Es hilft alles nichts, wir müssen seinen Vater anrufen.“ Laura antwortete nicht. Nelly wollte gerade zum Hörer greifen, als das Telefon klingelte. Es war die Kollegin aus Lauras Büro, die sie verständigt hatte. Sie wollte wissen, ob Thomas bei ihnen war, denn zu Hause war er noch immer nicht zu erreichen. „Wer weiß, was passiert ist, ich rufe jetzt die Polizei an. Ich werde Sie später noch mal anrufen, wenn sich etwas Neues ergibt.“ Nelly war froh, daß ihr die Sorge nun abgenommen worden war.
Spät am Abend kam die Polizei vorbei. Sie stellten wieder die üblichen Fragen. Laura hätte sich gewünscht, daß die nette Kommissarin sie befragt hätte, zu ihr hatte sie Vertrauen gefasst und ihr möglicherweise von ihrem Traum erzählt. Aber so blieb sie stumm.
Die Tage vergingen und die Angst begleitete die zwei Frauen. Keiner wagte mehr auszusprechen, was er dachte. Laura träumte nun jede Nacht ihren Traum vom Fliegen und sie war fei und glücklich. Nur die Nacht schenkte ihr Vergessen.
Laura war wieder zu Hause, schließlich konnte sie nicht ewig bei Nelly und Gerald bleiben, obwohl ihr beide versichert hatten, dass sie nicht stören würde. Aber es hatte einen Vorfall gegeben, von dem Laura immer noch nicht wußte, ob sie es vielleicht nur geträumt hätte.
Laura war in der Nacht aufgewacht und in ihrem Arm lag Gerald. Schlaftrunken erhob sie sich von ihrer Couch und drehte sich um. Doch sie war allein. Eben hatte sie noch geträumt, daß sie Thomas umarmt hat, und nun sollte es Gerald sein? Gerald? Der Mann ihrer besten Freundin? Nein! Aber es war so reell.
Beim Frühstück schaute sie öfters zu Nellys Mann hinüber. Er trank seinen Kaffee und plauderte wie immer. Kein anzüglicher Blick, kein verstecktes Lächeln. Mein Gott bin ich blöd, dachte Laura, ich sehe schon Gespenster. Trotzdem zog sie an diesem Tag in ihre Wohnung zurück.
Die Arbeit im Büro fiel ihr nicht leicht. Durch die ständige Sorge um Thomas war sie abgelenkt und konnte sich kaum konzentrieren. Zu allem Unglück war nun auch noch ihr Nachbar Klaus ihr neuer Kollege. Er wurde auf seine Bewerbung als Bote eingestellt und verteilte täglich die Post in den Büros. Heute blieb er bei Laura stehen und versuchte sie zum Essen einzuladen. Laura lehnte dankend ab. Was bildet der sich ein, dachte sie empört, er soll mich endlich in Ruhe lassen. Doch ihre Ruhe bekam sie nicht. Klaus begleitete sie nach Dienstschluß bis nach Hause. Sein endloses Gerede ging ihr auf die Nerven. Doch als er eine Stunde später an ihrer Haustür mit einer Flasche guten Weins stand, ließ sie ihn ein. So war sie ein bißchen abgelenkt und vergaß ihre Sorgen. Es wurde ein netter Abend. Ihr Nachbar war wie ausgewechselt und unterhielt sie mit lustigen Sprüchen und Geschichten.
Am nächsten Morgen war die Polizei im Büro. Man hatte Thomas gefunden. Tot! Im nahen Wäldchen auf der Maiglöckchenwiese. Laura brach zusammen. Es war genau das eingetreten, was sie befürchtet hatte. Nun hatte der Mörder ihr auch das Letzte genommen und ihr blieb nichts was noch lebenswert war. Sie wurde mit aufs Revier genommen und verhört. Die Fragen klangen wie Hohn, alles war verschwommen wie im Nebel. Laura war nicht fähig, auch nur eine vernünftige Antwort zu geben. Was sollte sie auch sagen. Man verdächtigte sie, daß sie ihren Mann Luca und ihren Freund Thomas umgebracht hatte.
Laura war wieder auf freiem Fuß. Die endlosen Verhöre mit verschiedenen Kriminalbeamten mußte sie über sich ergehen lassen. Sie konnte immer nur wieder beteuern, dass sie unschuldig sei. Erst zum Schluss kam die Kriminalbeamtin, die Laura schon kannte. Stockend und unter Tränen erzählte sie nun, was sie wußte. Als sie von ihren Träumen erzählte, lächelte die nette Beamtin und sagte: „Es tut mir leid Frau Brandt, aber Träume spielen bei unseren Ermittlungen keine Rolle.“ Danach ging sie hinaus, sie beriet sich wohl mit ihren Kollegen. Nach kurzer Zeit konnte Laura nach Hause, aber sie durfte die Stadt nicht verlassen. Noch immer stand sie unter Verdacht.
Jeder neue Tag, der anbrach, bescherte Laura Tränen. Wie konnte sie je wieder glüchlich sein, wie sollte es weitergehen ohne Thomas. Auch an Luca dachte sie nun öfter. Kein Trost der Welt half ihr, den Schmerz um die beiden geliebten Männer zu überwinden. Einsam saß sie Abends in ihrem Sessel und hatte düstere Gedanken. Sie wollte nicht mehr leben. Wenn es klingelte, öffnete sie nicht mal mehr die Tür. Bis jetzt war sie ja noch arbeiten gegangen, aber nun nicht mehr. Sie meldete sich nicht mal krank, es war ihr alles egal. Nelly machte sich große Sorgen um die Freundin und rief, wieder einmal vergeblich, bei ihr an. Dann stand sie vor Lauras Tür und klingelte und klopfte wohl eine halbe Stunde, bevor ihr geöffnet wurde. Sie erschrak. Laura sah zum Erbarmen aus. Abgemagert, mit zerzaustem Haar und tiefen Ringen unter den Augen. Nelly nahm ihre Freundin in die Arme. Da fing Laura an zu weinen. Sie schluchzte und schrie ihren Schmerz an Nellys Schulter. Alle Tränen, die sie zurückgehalten hatte, flossen aus ihr heraus. „Weine nur mein Schatz, das wird dich erleichtern.“ Behutsam führte sie Laura in die Stube. Hier sah es schlimm aus. Angetrocknete Essensreste, schmutzige Wäsche, Zeitschriften und Bilder lagen wirr durcheinander. Bilder über Bilder von Thomas und Luca. „Geh erst mal ins Bad und mach dich ein bischen frisch, ich räume derweil auf.“ Laura gehorchte und verschwand. Nelly brachte schnell Ordnung in das Chaos. Auf dem Tisch fand sie etliche Tablettenpackungen, aber alle noch verschlossen. Als Laura zurück kam sagte sie: „Wir müssen ernsthaft reden. Ich weiß, daß es dir sehr schlecht geht, aber so wie jetzt kann es nicht weitergehen. Du gehst zugrunde dabei. Geh wieder arbeiten, mach dich hübsch, geh mit mir Billard spielen, lass das Leben einfach wieder an dich heran.“
Monate waren vergangen. Dank Nellys energischer Art hatte sich Laura wieder gefangen. Noch immer saß der Schmerz tief in ihr und wollte nicht aufhören. Äußerlich merkte man ihr nichts mehr an. Es schien, als wäre sie die Laura von früher.
Es schneite. Endlos fielen die Flocken vom Himmel. Laura stapfte durch den matschigen Schnee. Sie war in der Stadt um ein paar Besorgungen zu machen. Was ihr noch fehlte, war ein Weihnachtsgeschenk für Nelly. Es sollte etwas besonderes sein. Sie lief durch die lichtergeschmückten Straßen und schaute in die glitzernden Schaufenster.
„Hätten Sie nicht Lust mit mir ein Glas Glühwein zu trinken? Guten Tag erst mal. Ganz schön kalt heute.“ Laura drehte sich um und reichte ihrem Nachbarn und Kollegen die Hand. Klaus Keller hatte sie in letzter Zeit in Ruhe gelassen und seine aufdringliche Art abgelegt, er wurde ihr langsam sympathisch. Deshalb antwortete sie spontan: „Gerne, der Weihnachtsmarkt ist doch gleich um die Ecke, ich brauch tatsächlich etwas Warmes.“
Nun standen beide an einem Stehtisch, vor sich einen lecker duftenden heißen Glühwein, und ließen sich die Schneeflocken um den Kopf wirbeln. Aus den zahlreichen Lautsprechern ertönte besinnliche Weihnachtsmusik. Laura fühlte sich wohl. Sie fand es gemütlich, hier mit einem Bekannten zu stehen und über Gott und die Welt zu reden. Langsam wurde es dunkel. Der dritte Glühwein stand auf dem Tisch. „Eigentlich könnten wir Du zueinander sagen. Wir kennen uns nun schon eine Ewigkeit.“ Gerne, Prost Klaus!“ Sie tauschten einen flüchtigen Kuß und unterhielten sich weiter. „Hallo ihr Nachtschwärmer, wieso trinkt ihr ohne uns?“ Nelly und Gerhard näherten sich, eingepackt in dicke Fellmützen. Nun tranken sie zu viert ihren Glühwein bis Nelly auf die Idee kam, ins 'Blue Moon' zu gehen. Sie könnten sich aufwärmen und Billard spielen.
„ Ooch Gerald du schummelst.“ Nelly zog ungeschickt an ihrer Zigarette und mußte husten. Sie hatten zwei Gruppen gebildet, die Männer spielten gegen die Frauen und lagen vorn.
So entspannt wie heute war Laura lange nicht mehr, aber sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie schon seit Stunden nicht mehr an Thomas gedacht hatte.
In dieser Nacht hörten ihre Träume auf.
Die Weihnachtszeit war lange vorbei und auch der Winter neigte sich dem Ende zu.
Es war Ende März und die Sonne schickte ihre wärmenden Strahlen. Laura ging es seelisch recht gut. Nelly, Gerald, Klaus und die Kolleginnen aus dem Büro hatten sich so oft mit ihr verabredet, dass sie kaum noch Zeit hatte Trübsal zu blasen. Aber ihre Gedanken waren jetzt auf den Monat Mai gerichtet. Die Angst, dass wieder etwas schreckliches passieren könnte, beherrschte sie immer mehr. Und sie hatte sich nicht getäuscht. Pünktlich zum ersten Mai begannen ihre Träume. Nun war sie des nachts wieder glücklich und frei. Es war ein unendlich schönes Gefühl. Sie vertraute sich Nelly an.
„Ich habe solche Angst, wer wird dieses Mal ermordet? Glaubst du auch, daß es weitergehen wird?“ Da Nelly keinen Rat wusste, blieb die Frage erst einmal unbeantwortet. Sie konnten beide nichts tun.
Laura lief zu Hause unruhig hin und her. Sie hatte eine Einladung zum Abendessen von Klaus bekommen. Sie war sich nicht sicher, ob sie rüber gehen sollte. Würde vielleicht ihr Nachbar das nächste Opfer sein? Ich ziehe das Unglück regelrecht an. Aber mit Klaus ist es doch etwas anderes, wir sind einfach nur Freunde. Endlich entschloss sie sich, doch die Einladung anzunehmen. Sie konnte eh nichts rückgängig machen. Nicht die zahlreichen Verabredungen und nicht die entstandene Freundschaft.
Als sie mit einer Flasche Wein aus dem Haus trat war es schon dunkel. Aus irgendeinem Grund waren die Laternen noch nicht angeschaltet. Zum Glück scheint der Mond, dachte Laura und stieg vorsichtig die Stufen hinunter. An der Gartentür stand Gerald, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. „Hallo Gerald, tut mir leid, ich hab jetzt eine Verabredung. Ist irgend etwas Wichtiges?“ Gerald trat nah an sie heran, sie konnte seinen heißen Atem spüren. „Wichtig bist du mir und ich will den Abend mit dir verbringen. Komm, wir gehen rein!“ Er packte Laura und schob sie in Richtung Tür. „Heute gehst du nicht zu dem Kerl da drüben, du gehörst mir!“ Laura schrie auf, aber schon hielt er ihr den Mund zu. Sie versuchte sich aus seiner Umklammerung zu lösen, aber vergeblich. „Schließ auf, sonst kannst du was erleben!“ Mit zitternden Fingern suchte Laura den Schlüssel und überlegte krampfhaft, wie sie sich befreien könnte. Gerald stieß sie in die Wohnung und schloss ab.
Nun standen sie sich kampfbereit gegenüber. Mit zuckersüßer Stimme sagte Gerald: „Hab keine Angst Laura, ich werde dir nichts tun, solange du mir gehorchst.“ „Bitte Gerald, sei vernünftig, denk an Nelly, ich bin ihre Freundin und ich liebe dich auch nicht. Lass uns reden, bitte.“ In Gerald stieg die Wut hoch. Sie sah es an seinem verzerrten Gesicht und den wild blickenden Augen. Er packte Laura, warf sie auf die Erde und riss ihr die Sachen herunter. Laura schrie, aber es half ihr nichts. Speichel tropfte aus seinem Mund und er küsste sie leidenschaftlich. Laura wurde schlecht, sie ekelte sich vor ihm. Mit seiner Zunge schob er ihre Lippen auseinander. Laura biss kräftig zu. Er schrie auf und ließ von ihr ab. Schnell sprang Laura auf und wollte fortlaufen. Doch mit eisernem Griff zwang er sie in die Knie. Blut tropfte aus seinem Mund. „Wir zwei gehören zusammen, nur du und ich zählen. Was interessiert mich die langweilige Nelly. Du wirst nie jemand anders gehören als mir. Jede Nacht habe ich neben dir gelegen und du hast mich umarmt. Ich liebe dich schon lange und ich weiß, daß du mich auch liebst.“
Sein Kopf war über sie gebeugt, Blut tropfte ihr ins Gesicht. Laura bemerkte es nicht. Sie versuchte verzweifelt ihn abzuschütteln. Die Angst verlieh ihr übermenschliche Kräfte und sie konnte ihr Knie frei machen, welches sie mit Gewalt zwischen seine Beine stieß. Gerald ließ sofort von ihr ab und wimmerte. Laura sprang auf, rannte ins Bad und verriegelte die Tür. Sie riss das kleine hohe Fenster auf und schrie um Hilfe. Hinter ihr krachte es. Gerald hatte die Tür eingetreten. Er packte sie und schlug auf sie ein. Laura verlor das Gleichgewicht und fiel mit dem Kopf gegen das Toilettenbecken. Um sie herum wurde es dunkel. Gerald zog sie aus und warf sie in die Wanne. Dann ließ er eiskaltes Wasser über ihren nackten zerschundenen Körper laufen. Laura schlug kurz die Augen auf, sie zitterte und bebte vor Angst und Kälte. Sie sah noch, wie Klaus um Geralds Hals eine dünne Drahtschlinge legte. Dann umfing sie wieder wohltuende Dunkelheit.
„Schön, daß du wach bist, Laura. Ich habe deine Hilferufe gehört und die Hintertür aufgehebelt. Als ich reinkam ist Gerald weggerannt. Ich wollte erst hinter ihm her, aber du lagst so hilflos da. Es ist dir doch recht, daß ich dich zu mir gebracht habe? Du mußt dich jetzt erholen.“
Klaus stand vor Laura, in der Hand eine Tasse dampfenden Tee und schaute mitfühlend auf sie herab.
Blitzartig kam Laura alles wieder ins Gedächtnis. Sei vorsichtig Laura, dachte sie, nichts anmerken lassen, er scheint nicht zu wissen, dass ich alles gesehen habe. Sie richtete sich mühsam auf und lächelte Klaus an, der ihr die Teetasse reichte. „Ich danke dir, dass du mich gerettet hast. Mein Kopf tut so weh, ich kann mich kaum erinnern. Hast du die Polizei angerufen?“ Klaus deckte sie fürsorglich zu. „Ja, alles schon erledigt, sie waren hier und ich habe erzählt was ich wusste. Dich werden sie erst befragen, wenn es dir besser geht. Ein Arzt war auch da und hat dich untersucht. Hier, diese Tabletten sollst du nehmen.“
„Du bist so lieb zu mir Klaus, aber ich würde gerne ein bischen schlafen.“ Laura drehte sich um und tat als ob sie schlief. Ihre Gedanken arbeiteten fieberhaft. Klaus ist der Mörder, wieso habe ich nichts gemerkt, er hat Luca und Thomas umgebracht und der erste Mord ging sicher auch auf sein Konto. Er bringt jeden um, der mit mir engeren Kontakt hat.
Plötzlich dachte sie an ihr Klassentreffen vor drei Jahren im Mai. Sie hatte sich fast den ganzen Abend mit Paul unterhalten und zum Schluss noch mit ihm getanzt. Paul brachte sie bis vor ihre Haustür, ließ sich ihre Handy-Nr. geben und versprach sie recht bald anzurufen. Nach einer kurzen Umarmung hatte man sich getrennt. Sie hörte nie wieder etwas von Paul und sie hatte ihn auch längst vergessen. Luca war für sie wichtig gewesen, sonst niemand.
Wenn morgen die Polizei kommt, werde ich ihnen alles erzählen, dachte Laura noch und dann schlief sie endlich ein.
Als Laura am nächsten Morgen wach wurde, hörte sie Klaus in der Küche werkeln. Leise schlich sie zur Haustür, doch diese war verschlossen. Nun versuchte sie ihr Glück an den Fenstern im Wohnzimmer, aber auch diese waren nicht zu öffnen.
„Ach, du hast ausgeschlafen, ich habe uns Frühstück gemacht.“ Klaus stand in der Tür.
Laura sagte verlegen: „Ich wollte nur ein bischen frische Luft hereinlassen, aber ich bekomme das Fenster nicht auf.“ „Ja, das ist schon in Ornung, es wird so viel eingebrochen, man muss sich doch schützen. Aber komm jetzt in die Küche, der Kaffee ist fertig.“
Laura folgte gehorsam in die Küche, das Laufen fiel ihr schwer. Sie hatte überall blaue Flecke und am Kopf eine dicke Beule. An die letzte Nacht mit Gerald mochte sie garnicht denken, wie konnte er ihr das antun, was würde Nelly sagen? Nelly? Sie hatte Nelly vergessen, Nelly würde sie bald vermissen und suchen. Wie sollte sie ihr es beibringen? Aber sicher wusste sie schon alles von der Polizei.
Laura setzte ihre Kaffeetasse ab. „Mir geht es heute schon besser, kann ich dein Telefon benutzen, ich würde gerne Nelly anrufen und auch im Büro Bescheid sagen.“
„Das habe ich schon erledigt, du brauchst dich ab jetzt um nichts mehr kümmern, ich werde dir alle Sorgen abnehmen. Aber nun nimm deine Tabletten.“
Laura schluckte ihre Medizin und ließ sich von Klaus zur Couch führen. Um sie herum drehte sich alles und sie schlief bald ein.
Am Nachmittag wurde Laura unsanft aus dem Schlaf gerissen. Klaus hatte sie hochgehoben, sich über die Schulter gelegt und trug sie eilig in den Keller. Er öffnete eine kleine Metalltür, warf sie hinein und schloss ab. Ehe Laura zur Besinnung kam, war sie schon gefangen. Wie aus weiter Ferne hatte sie noch das Klingeln an der Haustür vernommen. Nun lag sie hier. Um sie herum war es stockdunkel, nirgendwo ein Lichtstrahl. Vorsichtig tastete sie die Wände ab. Es war ein leerer, winziger, niedriger Raum ohne Fenster, aufrecht stehen konnte sie nicht. Laura hatte unendliche Angst, ihr Herz klopfte wild. Wird er mich auch umbringen? Wird er auch mir die Drahtschlinge um den Hals legen? Klar denken konnte Laura nicht, die Schlaftabletten zeigten noch immer ihre Wirkung. Wie kann ich fliehen, was soll ich tun? Die Gedanken drehten sich im Kreis, mehr als abwarten blieb ihr vorerst nicht.
Stunden später wurde sie aus ihrem Dämmerzustand geweckt. Klaus zog sie aus dem Verlies und brachte sie dieses Mal zwei Treppen höher auf den Boden. Auch hier hatte er einen kleinen Raum ohne Fenster für Laura gebaut. Er legte sie auf die Matratze, nötigte sie ihre Tabletten zu nehmen und kontrollierte ihren Mund, ob sie auch geschluckt hatte. Kurze Zeit später war er wieder da und stellte ihr eine Lampe auf die Erde.
„Warum hälst du mich gefangen Klaus, was habe ich dir getan?“
„Es ist zu deinem eigenen Schutz Laura, man will dich verhaften.“
Mit schwerer Zunge und unter Anstrengung sprach sie weiter. „Bitte lass mich gehen, sie werden mich suchen. Nelly hat bestimmt schon die Polizei verständigt.“
„Nelly?“ Klaus lachte abfällig. „Nelly kannst du vergessen, sie genießt jetzt den Duft der Maiglöckchen und ihr Dreckskerl von Ehemann auch. Dich habe ich als vermisst gemeldet. Keiner wird dich hier finden. Niemand! Nur uns beide gibt es ab jetzt. Wir werden immer zusammen sein, nur du und ich.“
Den letzten Satz hörte Laura schon nicht mehr. Der Schlaf hatte sie übermannt.
Irgendwann wachte Laura auf und tastete nach dem Schalter des Lämpchens. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren und schaute auf die Armbanduhr. Doch ihr Arm war leer. Die habe ich sicher beim Kampf mit Gerald verloren. Als sie an Gerald dachte, kam ihr sofort Nelly in den Sinn. Ihr Magen krampte sich um und sie mußte sich übergeben. Nelly, ihre geliebte, beste Freundin Nelly war auch tot. Laura weinte und weinte und schrie. Ihre Seele war zerstört, wieviel Leid sollte sie noch erfahren, wieviel Leid kann ein Mensch ertragen? Und wieder erbrach sie sich in den alten Blecheimer, der in der Ecke stand. Ihr Gesicht war geschwollen und zerkratzt, die Augen kaum noch sichtbar und gerötet.
So fand sie Klaus, der mit dem Frühstück hereinkam. Auf dem Tablett stand eine Vase mit Maiglöckchen.
Er stellte alles schweigend hin und ging wieder hinaus.
Der süße, schwere Duft der Blumen stieg langsam in Lauras verschnupfte Nase. Sie wusste, dass Maiglöckchen hoch giftig waren. Wenn ich die jetzt essen würde, dann... Laura konnte nicht weiter überlegen. Schon stand Klaus, ihr Nachbar und Mörder wieder vor ihr.
„Du musst essen und deine Tabletten nehmen.“ Klaus wartete, bis Laura ein paar Happen gefrühstückt hatte. Dann musste sie die Tabletten schlucken und er verschwand erst, als er sicher war, dass seine Gefangene schlief. Die Maiglöckchen nahm er mit.
In den kurzen Zeiten, wenn Laura wach war, konzentrierten sich ihre Gedanken auf Flucht. Doch es schien aussichtslos. In dem kleinen Raum war nur die Matratze mit ein paar Decken, die kleine Nachttischlampe und der Blecheimer, den Klaus täglich leerte. Der Blecheimer! Ja den Eimer könnte ich nehmen. Laura hatte eine Idee. Sie wollte warten, bis Klaus aufschloss und ihm schnell den Eimer über den Kopf stülpen, dann hätte sie ein paar Sekunden um wegzurennen. Sie müsste dann vom Wohnzimmerfenster eine Scheibe einschlagen und wäre frei. Um sich an den Glasscherben nicht zu verletzen, bat sie um mehrere Hemden und Hosen von Klaus. Diese wollte sie anziehen um sich zu schützen. Klaus brachte die Sachen nach kurzer Zeit mit der Bemerkung: „So, damit wird dir nicht mehr kalt sein. Wenn du brav bist, können wir heute im Wohnzimmer zusammen essen.“
Laura nickte und versuchte ihrer Stimme einen netten Klang zu geben. „Ich würde gern mit dir essen und ich freue mich sehr darauf.“ Klaus beugte sich zu ihr hinunter und gab ihr einen Kuß. Laura mußte ihren Ekel verbergen.
„So gefällst du mir, warte nur ab, ich werde uns etwas schönes kochen.“ Er nahm das Frühstücksbrett, achtete darauf, daß sie die Tabletten einnahm und schloss die Tür von aussen ab.
Laura erwachte erst wieder, als Klaus eintrat. Er hatte einen Anzug an und seine Haare waren noch feucht vom Duschen.
„Komm mit Liebste, komm nur, dies wird heute ein besonderer Abend.“ Er lächelte sie vielversprechend an. Laura lächelte gequält zurück und erhob sich.
Im Wohnzimmer stand ein fürstliches Abendessen bereit. Der rote Wein funkelte im Schein der flackernden Kerzen.
Der Abend verlief harmonisch. Sie plauderten und scherzten fast wie früher, als wäre nichts gewesen. Laura staunte über sich selbst, was bin ich doch für eine gute Schauspielerin...
Heimlich ließ sie ihre Blicke umherschweifen. In der Nähe des linken Fensters stand eine schwere Vase. Damit könnte ich die Scheibe einschlagen, aber sie konnte nicht nach draußen schauen. Also stand sie auf und schob die Gardine zur Seite. Schon stand Klaus neben ihr. „Lass doch zu, es ist schon dunkel, da siehst du eh nichts.“ „Ich wollte nur ein bischen lüften, mir ist etwas schlecht vom vielen essen.“ „Da kann ich dir helfen Laura, du legst dich einfach hin.“ Er trat ganz nah an sie heran. „Komm, wir gehen hoch in mein Schlafzimmer und machen es uns gemütlich, ich werde dich verwöhnen. Ich kann dir alles geben was du brauchst.“
In Laura stieg die Angst auf, aber sie antwortete mit freundlichem Lächeln: „Mir ist wirklich sehr schlecht und ich bin so müde. Wir können das Ganze doch auf morgen Abend verschieben.“ Und mit einem koketten Blick fügte sie hinzu: „Und wenn du die Tabletten weglässt, kann ich dich auch verwöhnen und schlafe nicht ein dabei.“ Klaus sah sie nachdenklich an und bemerkte keinen Falsch in ihrer Stimme. „Gut, meine liebste Laura, dann ist Morgen unsere Nacht. Für heute mußt du nochmal in die Bodenkammer.“
Auf dem kurzen Weg zum Boden beschloss Laura, morgen vor dem Frühstück zu fliehen. Abends hatte es keinen Zweck. Sie hatte gesehen, daß die Fenster mit stabilen Läden verschlossen waren, an denen zu allem Ünglück auch noch ein großes Schloß hing.
Laura stand neben der Kammertür, den Eimer bereit und wartete auf ihren Peiniger. Klaus hatte gestern Abend nicht lange genug gewartet, bis sie eingeschlafen war. Sobald er das Zimmer verlassen hatte, erbrach Laura die Tabletten und zugleich ihr Abendessen. So konnte sie heute ihren Plan ausführen. Sie zitterte bedenklich und der Henkel des Eimers fing an zu klappern. Sie hielt den Atem an vor Schreck. Kurz danach hörte sie das Knarren der Bodentreppe. Sie hob den Eimer über den Kopf und ihr Herz schlug wie wild. Dann wurde die Tür geöffnet und Klaus sah sie erstaunt an. Doch ehe er reagieren konnte, hatte sie ihm den Eimer mit dem erbrochenem Inhalt übergestülpt. Schnell stieß sie ihn zur Seite und rannte die Treppen hinunter, hinter sich hörte sie ein lautes Poltern. Klaus verfolgte sie, war aber mit glitschigen Schuhen ausgerutscht und fiel auf sie zu. Sein schwerer Körper riss Beide in die Tiefe.
Laura schrie! Auf ihrem gebrochenen Bein lag Klaus und rührte sich nicht. Sie versuchte ihn beiseite zu schieben, was aber die Schmerzen noch verstärkte. Klaus war wieder zu sich gekommen, packte sie grob und warf sie wutschäumend in das Kellerverlies. „Was nun kommt, hast du dir selbst eingebrockt, du mieses verlogenes Stück!“
Laura hatte unerträgliche Schmerzen und weinte, auch weil ihr Plan missglückt war. Was würde er jetzt tun, würde sie nochmals eine Chance bekommen? Sie lag hilflos in der Dunkelheit und Kälte, wohl ein oder zwei Tage. Sie wusste es nicht. Zum Glück hatte sie warme Kleidung an, aber lieber wollte sie hier erfrieren und verhungern, als mit dem Mörder ihres Mannes zu schlafen. Ihr Bein hatte aufgehört zu bluten, aber die Wunde schien sich zu entzünden. Laura hatte einmal vorsichtig danach getastet und vor Schmerz geschrien. Ein spitzer Knochen ragte aus ihrer Wade. Dann sterbe ich eben hier, ihr war alles egal, der quälende Durst hatte auch nachgelassen. Wenn sie in ihren Dämmerschlaf verfiel, träumte sie wieder von Luca.
Irgendwann fiel ein Lichtstrahl zu ihr herein, sie wurde unsanft aus dem engen Betonverlies herausgezerrt und in eine Decke gewickelt. „Jetzt kriegst du was du verdienst, du undankbares Miststück!“ Laura war unfähig sich zu wehren und ließ alles über sich ergehen.
Klaus warf sie in den Kofferraum und fuhr los.
Später, als der Weg holprig wurde, merkte Laura, daß sie warscheinlich Richtung Wäldchen fuhren und ihr Ende nun gekommen war. Sie wehrte sich nicht gegen den Gedanken, endlich erlöst und frei von allem Grauen.
Nach ein paar Minuten hörte die Fahrt auf. Laura wurde aus dem Auto gezerrt und auf die Maiglöckchenwiese geworfen. Sie erkannte es am betäubenden Duft. Im schwachen Mondlicht konnte Laura sehen, daß Klaus vor ihr stand. Halb besinnungslos vor Schmerzen, verstand sie nur Worfetzen von seiner Rede: „Selber zu zuschreiben...,...liebst mich nicht...,...schuld an allem...,...Tod verdient...
Plötzlich fiel ein Schuß.
Laura schlug mühsam die Augen auf. Rings um sie stand Polizei und Klaus lag blutend und röchelnd neben ihr. In seinen sterbenden Händen hielt er eine Drahtschlinge.
Und wieder versuch ich meine Träume festzuhalten
Es war doch so schön, ich war im Wunderland
Ich war frei und leicht und unbekannt
Ich hatte Flügel, flog durch die Welt
Nun sind sie fort, wer hat den Tag bestellt
Die Sonne schickt mir strahlendes Licht
Der Tag umarmt mich, doch meine Träume kennt er nicht
Kennt nicht die Liebe, kennt nicht den Schmerz
Kennt keine Trauer, Hass oder liebend Herz
Nur die Nacht schenkt mir Vergessen und Glück
Ich wünsch mir die Nacht wehmütig zurück
Will träumen und frei sein und fliegen
Doch es wird immer der Morgen siegen
Laura langweilte sich. Sie saß auf der Terasse ihres kleinen Häuschens in der warmen Maisonne und hatte ein aufgeschlagenes Buch vor sich liegen. Heute war wieder so ein Tag, wo sie nichts mit sich anzufangen wußte. Ihre Freundin war im Urlaub und ihr Mann Luca arbeiten. Sie schaute nach der Uhr. Eigentlich sollte Luca schon zu Hause sein. Großartige Sorgen machte sie sich nicht, sicher kaufte er noch schnell etwas ein. Als Luca nach zwei Stunden immer noch nicht da war, rief sie bei einem Arbeitskollegen an. Dieser versicherte ihr jedoch, daß er mit Luca pünktlich das Büro verlassen habe und er riet ihr dringend die Polizei zu verständigen. In Laura stieg unendliche Angst auf. Sofort kam die Erinnerung. Ihr Mann nahm mit seinem Fahrrad immer die Abkürzung durch das kleine Wäldchen. Voriges Jahr, es muß auch im Mai gewesen sein, wurde dort ein Mann ermordet aufgefunden. Soweit sie informiert war, hatte man den Täter nie gefasst. Und nun kam Luca nicht.
Mit zitternden Fingern wählte sie den Notruf. Ihr wurde jedoch nur lakonisch mitgeteilt, sie solle doch erst mal alle Verwandte und Bekannte anrufen und natürlich auch in allen Krankenhäusern nachfragen. Dann erst würde man eine Suchmeldung herausgeben.
Laura rief überall an, ohne Ergebnis. Sofort griff sie wieder zum Telefonhörer und sprach nochmals mit einem Polizeibeamten. Sie erzählte ihm, daß ihr Mann jeden Tag durch das Wäldchen fuhr und daß doch dort einmal jemand ermordet wurde. Man versprach ihr zu helfen.
Keine zehn Minuten später klingelte es an ihrer Tür. Luca! Das ist Luca! Aber es war eine Kriminalbeamtin mit ihrem Kollegen. Laura mußte ausführlich den Arbeitsweg ihres Mannes beschreiben und es wurden ihr auch seltsame Fragen gestellt. Ob sie vielleicht Streit hatten, oder ob eine andere Frau im Spiel ist und wie ihre Ehe so läuft.
Lauras Geduld war am Ende. „Wieso stellen Sie mir so sinnlose Fragen, wieso suchen sie meinen Mann nicht?“ „Nur mit der Ruhe Frau Brandt, der Wald wird gerade durchsucht, aber das ist halt schwierig in der Dunkelheit.“ Die Polizistin legte mitfühlend den Arm um Laura, der die Tränen übers Gesicht liefen. „Holen Sie sich eine Freundin für diese Nacht hierher, dann sind Sie nicht so allein, wir müssen jetzt leider gehen.“
In ihrer Verzweiflung klingelte Laura die Nachbarin aus dem Bett. Nun saßen beide Frauen auf der Couch und warteten auf einen Anruf. Nach drei Stunden endlosen Wartens erhielten sie die Nachricht, daß die Suche für heute abgebrochen wurde, man konnte ihren Mann nicht finden. Laura saß nur da und zitterte. Die besorgte Nachbarin machte ihr einen Tee und dann saßen Beide wieder schweigend da.
Es war schon gegen drei Uhr, als Laura aus ihrer Starre erwachte. Ihre nette Nachbarin lag etwas verdreht neben ihr auf der Couch und schlief. Laura stand auf und ging in die Küche. Sie schaute ziellos umher, was will ich eigentlich hier. Ihr Blick fiel auf eine Flasche Rotwein, den Luca vor zwei Tagen mitgebracht hatte. Mit dem gefülltem Glas ging sie zurück ins Wohnzimmer und setzte sich in den alten Sessel neben das Telefon. Ihr Herz raste noch immer, sie stellte sich die schlimmsten Sachen vor, die passiert sein könnten. Mit einem Zug trank sie den Wein und fiel kurze Zeit später in einen Dämmerschlaf.
Laura hatte Flügel und flog hoch oben in der Luft. Unter ihr lag das Wäldchen. Die Sonne schien und eine Biene summte um ihr Ohr. Sie flog zu einer kleinen Lichtung, wo Luca friedlich schlief. Laura legte sich neben ihn und lehnte ihren Kopf an den Seinen. Sie war so glücklich, Luca war alles was sie hatte und sie liebte ihn. Ringsum standen Maiglöckchen in voller Blüte. Laura pflückte ein Sträußchen und legte es Luca in die Hände. Dann schlief auch sie ein.
Das Telefon klingelte. Schlaftrunken schaute Laura auf die Uhr. Es war morgens acht Uhr und plötzlich fiel ihr die vergangene Nacht ein. Hatte man Luca gefunden? Es wurde ihr aber nur mitgeteilt, daß die Suche nun fortgesetzt wird. Ihre Nachbarin kam mit frischem Kaffee und ein paar Schnittchen aus der Küche. Nein, essen konnte Laura nicht. Die Kaffeetasse hielt sie fest umklammert, ihr ganzer Körper bebte vor Angst.
Schrill und laut klingelte es an der Haustür. Die Frauen zuckten zusammen. Wieder stand die Kriminalbeamtin vor der Tür. Sie fragte mit ernster Miene, ob sie eintreten könnte. Laura konnte sich nicht mehr beherrschen und schluchzte laut. Ihre schlimmsten Vorahnungen bestätigten sich. Luca war tot. Man hatte ihren geliebten Luca ermordet. Sie hörte nicht mehr die tröstenden Worte, sie fiel einfach um.
„Möchten Sie etwas zu trinken haben?“ Laura sah in die freundlichen Augen einer Krankenschwester, die ihr das Bettzeug zurecht zupfte. „Nein Danke,“ konnte Laura noch mit erstickter Stimme herausbringen, dann flossen wieder ihre Tränen. Als die Schwester das Zimmer verlassen hatte, nahm Laura das Kopfkissen vor den Mund und schrie ihren Schmerz hinein.
Ein paar Tage dämmerte Laura vor sich hin. Die Tränen waren versiegt, aber der Schmerz hörte nicht auf. Apathisch ließ sie alles über sich ergehen. Sie nahm ihre Medizin und beantwortete alle Fragen. Nur nachts in ihren Träumen war sie glücklich. Sie hatte Flügel und flog mit Luca über die Erde. Sie näherten sich der Sonne und dem Sternenhimmel, aber immer endete der Traum auf der Maiglöckchenwiese. Dort lagen sie beieinander und hielten sich fest umschlungen.
Nach einer Woche wurde Laura entlassen. Ihre Freundin Nelly, inzwischen zurück aus dem Urlaub, holte sie ab. Zu Hause angekommen, übermannte Laura der Schmerz mit aller Macht. Alles erinnerte sie an Luca, den sie nie wieder sehen würde.
Die Trauerfeier und das anschließende Begräbnis waren vorüber. Laura saß in ihrem großen Sessel. Gegenüber auf der Couch saß die Kriminalbeamtin mit ihrem Kollegen und erzählte, wie man Luca gefunden hatte. Luca war von hinten mit einem dünnem Draht erdrosselt worden. Der Täter hatte ihn dann auf die Lichtung gelegt und ihm einen Maiglöckchenstrauß in die gefalteten Hände gesteckt. Alles war genauso wie beim ersten Mord im vorigen Mai. „Wir haben es mit einem Serientäter zu tun und wir werden Sie auf dem Laufenden halten Frau Brandt. Mehr können wir Ihnen vorerst nicht mitteilen.“
Laura war geschockt. Sie dachte an ihre Träume.
Vorsichtig umsorgte Nelly ihre Freundin. Sie wohnte nur zwei Häuser entfernt und konnte so öfter bei ihr vorbei schauen. Eines Abends, die Freundinnen saßen mal wieder beisammen, erzählte Laura von ihren Träumen, die sie auch jetzt noch hatte. Nelly hörte erstaunt zu. „Du mußt das unbedingt der Polizei erzählen.“ „Nein, ich glaube nicht, daß sie ein Traum interessiert, es wird nicht weiter helfen und auslachen lass ich mich schon garnicht.“ „Gut Laura, wenn Du das nicht möchtest, müssen wir auf eigene Faust etwas unternehmen. Wenn Du wieder über die Lichtung fliegst, dann sieh genau nach unten. Alles was Dir auffällt kann wichtig sein.“
Ein knappes Jahr war vergangen. Laura hatte sich wieder erholt und bewältigte ihren Alltag allein. Sie ging inzwischen ein paar Stunden arbeiten und hatte recht nette Kollegen in ihrer Abteilung. Mit Nelly verband sie eine innige Freundschaft. Das Unglück hatte die Beiden noch fester zusammen geschweißt. Ab und zu fragte Nelly nach Lauras Träumen und ob sie etwas gesehen hätte. Aber Laura konnte nichts Neues berichten. Sie flog immer noch mit Luca durch die Welt und landete zum Schluß auf der Lichtung mit den blühenden Maiglöckchen. Doch eines Nachts änderte sich ihr Traum. Sie flog allein über das Wäldchen und Luca lag unten auf der Wiese. Glücklich, ihren geliebten Mann wieder zu haben, legte sie sich neben ihn und wollte ihn umarmen. Doch was war das? Neben ihr lag ein fremder Mann, um seinen Hals war eine dünne Drahtschlinge, in den Händen hielt er einen blutigen Strauß Maiglöckchen.
Die Zeit verging. Laura fand sich in ihr neues Leben hinein und ihr seelischer Zustand wurde stabiler. Sie war nur traurig, daß ihre Träume mit Luca aufgehört hatten, denn nur dann war sie frei und glücklich. Seit jener Nacht, als ein anderer Mann auf der Wiese lag, war es vorbei mit ihren Träumen. Nun stellte das Leben andere Anforderungen an sie. Inzwischen ging sie schon den ganzen Tag arbeiten, und es blieben ihr nur wenige Stunden Freizeit. Ihre Aufgaben in der Firma nahmen sie voll in Anspruch.
Ein Kollege lud sie eines Tages zu einem sogenanntem Arbeitsessen ein. Laura stimmte zu. Die Arbeit machte ihr Spaß und sie war ehrgeizig. Für das Arbeitsessen machte sie sich sorgfältig zurecht. Sogar ein neues Kleid hatte sie sich gekauft, das Erste nach Lucas Tod. Als sie an Luca dachte, bekam sie ein schlechtes Gewissen, sie mochte ihren Kollegen, mit dem sie gleich essen ging. Doch da klingelte es schon. Vor der Tür stand Nelly. „Du siehst toll aus Laura, willst du ausgehen?“ „Nicht direkt, es ist wegen dem neuen Projekt. Thomas, du weißt schon, mein Kollege, will mit mir nochmal darüber reden. Er hat mich zum Essen ins 'Blue Moon' eingeladen.“ Laura wurde rot. „Das muß Dir doch nicht peinlich sein Schatz, ich freue mich, daß Du wieder am Leben teilnimmst. Und mit einem verschmitztem Lächeln fügte sie hinzu: „Und ich freue mich, daß Du dich wieder für andere Männer interessierst.“
Es klingelte abermals. Thomas, ein Mann Ende Dreißig, gutaussehend, schlank und sportlich, begrüßte die beiden Frauen. „Schön Sie mal kennenzulernen, Nelly. Laura erzählt oft von Ihnen.“ „Ich will doch hoffen, nur Gutes. Aber jetzt muß ich los, habe noch einiges zu tun.“
An den Abend mit dem Arbeitsessen mußte Laura noch oft denken. Sie hatte nach langer Zeit wieder einmal herzhaft gelacht und sich als Frau gefühlt. Thomas bewundernte Blicke blieben ihr nicht verborgen. Sie dachte jetzt öfter an ihn, aber verliebt, nein verliebt hatte sie sich nicht. Das jedenfalls redete sie sich ein. Und nun hatte er sie abermals eingeladen. Von einem Arbeitsessen war allerdings nicht die Rede. Es wurde wieder ein sehr schöner Abend. Thomas brachte Laura bis zur Haustür und sie umarmten sich zum Abschied. Ein weiteres Treffen war schon geplant. Nun mußte sich Laura eingestehen, daß es mehr als Freundschaft war, was sie mit Thomas verband.
Laura war verliebt! Und sie war glücklich! Das Leben hatte wieder einen Sinn.
Laura lief durch den Supermarkt und suchte die feinsten Delikatessen aus. Heute wollte Thomas zu ihr kommen. Sie hatte ihn nach reiflicher Überlegung und mit Nellys Zuspruch, zu sich eingeladen. Verträumt ging sie an den Regalen entlang. Das Essen sollte perfekt werden, aber was kam danach? Nein, soweit wollte sie nicht denken. Sie griff zu einer Flasche Wein, als sie plötzlich jemand von hinten ansprach. „Hallo, schöne Nachbarin, man sieht Sie ja kaum noch, wohl sehr beschäftigt?“ Laura kannte die Stimme. Es war ihr Nachbar aus dem Nebenhaus, aber sie freute sich nicht über diese Begegnung. Sie hatte schon öfter das Gefühl, daß er ihr nachstellte. Außerdem mochte sie seine schleimige Art nicht. Sie begrüßte ihn kurz und ging dann zur Kasse. Auf dem Nachhauseweg holte er sie jedoch wieder ein und wollte ihre Taschen tragen. Laura mußte sich notgedrungen nun mit ihm unterhalten und war froh, als sie endlich vor ihrer Haustür stand. Sie dachte wieder an den heutigen Abend mit Thomas und sie wußte nun auch, daß da mehr war als verliebt sein.
Laura und Thomas waren ein Paar. Sie sahen sich zwar täglich auf Arbeit, aber die Wochenenden gehörten ihnen ganz allein. Entweder machten sie es sich zu Hause gemütlich oder sie gingen ins 'Blue Moon'. Das 'Blue Moon' war eine gemütliche und saubere Eckkneipe nicht weit von Lauras Wohnung entfernt. Hier hatten sie sich verliebt und hier fühlten sie sich wohl. In letzter Zeit allerdings nicht mehr so sehr. Lauras lästiger Nachbar kam immer öfter und beobachtete sie und Thomas argwöhnisch. Erst als Laura etwas sagte, wurde Thomas aufmerksam auf den jungen Mann. „Wir können auch woanders hingehen, wenn es Dich stört.“
Von nun an gingen sie nicht mehr ins 'Blue Moon'. Sie vermissten jedoch den lustigen Wirt, die alte Schrammelmusik, die lärmenden Gäste und den Billardtisch.
Nelly hatte Veständnis, daß Laura nun weniger Zeit mit ihr verbrachte. Sie freute sich für Laura, daß sie nochmals ihr Glück gefunden hatte. Aber da ihr Mann öfter auf Dienstreisen unterwegs war, langweilte sie sich ohne die Freundin. Also rief sie bei ihr an und fragte, ob sie Lust auf eine Runde Billard im 'Blue Moon' hätte. Laura sagte sofort zu. Sie freute sich auf diesen Abend. Früher war sie öfter mit Nelly dort gewesen und sie hatten Spaß ohne Ende gehabt. Aber seit Luca tot war, war sie nie wieder mit Nelly dort gewesen.
Der Abend verlief lustig, wie erwartet. Die Beiden hatten wohl ein Gläschen zu viel getrunken, denn auf dem Heimweg schwankten sie bedenklich und mußten sich unterhaken. Eine Weile standen sie noch bei Laura am Gartentor und kicherten. Dann verabschiedete sich Nelly. Vom Weiten rief sie noch: „Nicht die falsche Tür erwischen, Laura, Dein Nachbar freut sich schon.“ Erschrocken schaute Laura hinüber zum Nachbarhaus. Die Fenster waren dunkel, doch die alte Sraßenlaterne spendete so viel Licht, daß sie erkennen konnte, daß Klaus, ihr Nachbar am Gartenzaun mit einer Flasche Wein stand. „Wollen Sie nicht noch einen Schluck mit mir trinken, schöne Frau?“ „Nein Herr Keller, ich habe für heute genug, außerdem bin ich totmüde. Vielleicht ein anderes Mal.“ Laura schloß ihre Tür auf und ging hinein. Wieso habe ich jetzt gesagt, vielleicht ein anderes Mal? Der Kerl verfolgt mich ständig und ich bin auch noch freundlich zu ihm. Doch dann dachte sie wieder an Thomas. Morgen würden sie sich sehen. Nellys Mann hatte Geburtstag und sie waren beide eingeladen.
Die Arbeit in der Firma ging voran. Das Projekt war erfolgreich und Thomas wurde befördert. Er hatte nun sein eigenes Büro und eine dicke Gehaltserhöhung bekommen. Allerdings hatte er nun auch mehr Arbeit und weniger Zeit für Laura. Das konnte Nelly nur recht sein. Immer häufiger saßen die Freundinnen bei Nelly zu Hause und spielten Karten oder schauten sich alte Filme an. Öfters war auch Gerald, Nellys Mann dabei und verwöhnte die Beiden. Er kochte für sie leckere Sachen und füllte ihre Gläser nach, was sie sich gern gefallen ließen.
Wenn das Gespräch auf Luca kam blockte Laura ab. Sie liebte Luca immer noch. Aber sie liebte auch Thomas. Es fiel ihr unendlich schwer ihren Mann zu vergessen. Thomas spürte das und gab ihr Zeit. Wenn es nach ihm ginge,würde Laura längst schon bei ihm wohnen. Er hatte auch geplant, sie seinen Eltern vorzustellen.
Aber es kam anders. Thomas erhielt einen Anruf von seinem Vater, der ihm mitteilte, daß seine Mutter schwer gestürzt war und auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben war.
„Mit unserem gemeinsamen Urlaub wird es leider nichts. Ich muß mich erst mal um meinen Vater kümmern und alles regeln.“ Laura hatte Thomas noch nie so traurig gesehen. Sie wußte, daß er sehr an seiner Mutter gehangen hatte. „Ja, fahr zu Deinem Vater, er braucht Dich jetzt dringend. Ich werde auf Dich warten, egal wie lange es dauert.“
Und wieder war es Nelly, die ihrer Freundin Trost spendete. „Mich brauchst Du nicht trösten, Thomas könnte das gebrauchen. Er wird wohl am Wochenende wieder hier sein.“
Das Wochenende verging, doch Thomas kam nicht. Laura versuchte mehrmals am Tag ihn zu erreichen, doch er ging nicht ans Handy. Die Adresse seines Vaters wußte sie leider nicht, sonst hätte sie dort angerufen. Doch Nelly wußte Rat. Über den Namen bekam sie die Telefonnummer heraus und Laura rief sofort Thomas Vater an. Sie stellte sich als Kollegin vor und sprach ihr Beileid aus. Im Gespräch erfuhr sie, daß Thomas vorgestern abgefahren war. Na gut, dachte sich Laura, Thomas braucht sicher etwas Zeit, sonst hätte er sich schon bei mir gemeldet, da will ich ihn auch nicht stören.
Laura ging traurig zu Bett. Gerne hätte sie den heutigen Abend mit Thomas verbracht, aber sie hatte Verständnis für ihn und konnte sich in seine Lage versetzen.
Die folgende Nacht sollte Laura für ewig im Gedächtnis behalten.
Sie flog in ihrem Traum über das Wäldchen zur Lichtung. Glücklich und frei! Luca lag auf der Wiese und schlief. Es war alles wie immer. Die Maiglöckchen blühten und sie legte sich zu Luca und umarmte ihn.
Aber es war nicht Luca, sondern Thomas.
Am nächsten Morgen freute sich Laura schon auf die Arbeit. Heute würde sie endlich Thomas wiedersehen und vielleicht auch den Abend mit ihm verbringen. Ob ich ihn schon mal anrufe, überlegte sie. Doch dann beschloss sie, schnell noch seine Lieblingspralinen zu kaufen, um ihn im Büro zu überraschen. Doch Thomas war nicht auf Arbeit erschienen. Sein Kollege hatte schon versucht ihn zu erreichen, aber erfolglos. Thomas war verschwunden.
Laura lief zur Toilette. Ihr war schlecht. Schlagartig fiel ihr der Traum von letzter Nacht ein. Sie sank auf den kalten Fliesenboden und weinte hemmungslos. So fand sie eine Kollegin, die sogleich Nelly zu Hilfe rief.
„Wir müssen die Polizei verständigen, oder Thomas Vater.“
Nelly schenkte ihrer Freundin bereits den zweiten Cognac ein. Laura hatte sich etwas beruhigt. „Nein, solange wir nicht wissen was mit Thomas ist, rufen wir seinen Vater nicht an. Der hat selbst genug Sorgen. Und die Polizei? Ich weiß nicht? Die sagen dann, ich soll alle Krankenhäuser und Verwandte anrufen. Ich kenne doch Thomas Verwandtschaft garnicht. Sie werden seinem Vater Bescheid sagen.“ Laura wußte nicht mehr weiter, aber irgend etwas musste sie tun.
Nelly hatte die Freundin gleich nach dem Anruf vom Büro abgeholt und mit zu sich nach Hause genommen. Unterwegs hatte ihr Laura unter Tränen von ihrem Traum erzählt. Es war Thomas, der auf der Wiese gelegen hatte, und auch er hielt einen blutigen Strauß Maiglöckchen in den Händen. Auch Nelly war geschockt. Sie dachte an das vergangene Jahr und was Laura durchgemacht hatte. Und nun war wieder Mai und die Träume kehrten zurück. Etwas ratlos schaute sie zu Laura hinüber, die wie ein Häufchen Unglück aussah. „Es hilft alles nichts, wir müssen seinen Vater anrufen.“ Laura antwortete nicht. Nelly wollte gerade zum Hörer greifen, als das Telefon klingelte. Es war die Kollegin aus Lauras Büro, die sie verständigt hatte. Sie wollte wissen, ob Thomas bei ihnen war, denn zu Hause war er noch immer nicht zu erreichen. „Wer weiß, was passiert ist, ich rufe jetzt die Polizei an. Ich werde Sie später noch mal anrufen, wenn sich etwas Neues ergibt.“ Nelly war froh, daß ihr die Sorge nun abgenommen worden war.
Spät am Abend kam die Polizei vorbei. Sie stellten wieder die üblichen Fragen. Laura hätte sich gewünscht, daß die nette Kommissarin sie befragt hätte, zu ihr hatte sie Vertrauen gefasst und ihr möglicherweise von ihrem Traum erzählt. Aber so blieb sie stumm.
Die Tage vergingen und die Angst begleitete die zwei Frauen. Keiner wagte mehr auszusprechen, was er dachte. Laura träumte nun jede Nacht ihren Traum vom Fliegen und sie war fei und glücklich. Nur die Nacht schenkte ihr Vergessen.
Laura war wieder zu Hause, schließlich konnte sie nicht ewig bei Nelly und Gerald bleiben, obwohl ihr beide versichert hatten, dass sie nicht stören würde. Aber es hatte einen Vorfall gegeben, von dem Laura immer noch nicht wußte, ob sie es vielleicht nur geträumt hätte.
Laura war in der Nacht aufgewacht und in ihrem Arm lag Gerald. Schlaftrunken erhob sie sich von ihrer Couch und drehte sich um. Doch sie war allein. Eben hatte sie noch geträumt, daß sie Thomas umarmt hat, und nun sollte es Gerald sein? Gerald? Der Mann ihrer besten Freundin? Nein! Aber es war so reell.
Beim Frühstück schaute sie öfters zu Nellys Mann hinüber. Er trank seinen Kaffee und plauderte wie immer. Kein anzüglicher Blick, kein verstecktes Lächeln. Mein Gott bin ich blöd, dachte Laura, ich sehe schon Gespenster. Trotzdem zog sie an diesem Tag in ihre Wohnung zurück.
Die Arbeit im Büro fiel ihr nicht leicht. Durch die ständige Sorge um Thomas war sie abgelenkt und konnte sich kaum konzentrieren. Zu allem Unglück war nun auch noch ihr Nachbar Klaus ihr neuer Kollege. Er wurde auf seine Bewerbung als Bote eingestellt und verteilte täglich die Post in den Büros. Heute blieb er bei Laura stehen und versuchte sie zum Essen einzuladen. Laura lehnte dankend ab. Was bildet der sich ein, dachte sie empört, er soll mich endlich in Ruhe lassen. Doch ihre Ruhe bekam sie nicht. Klaus begleitete sie nach Dienstschluß bis nach Hause. Sein endloses Gerede ging ihr auf die Nerven. Doch als er eine Stunde später an ihrer Haustür mit einer Flasche guten Weins stand, ließ sie ihn ein. So war sie ein bißchen abgelenkt und vergaß ihre Sorgen. Es wurde ein netter Abend. Ihr Nachbar war wie ausgewechselt und unterhielt sie mit lustigen Sprüchen und Geschichten.
Am nächsten Morgen war die Polizei im Büro. Man hatte Thomas gefunden. Tot! Im nahen Wäldchen auf der Maiglöckchenwiese. Laura brach zusammen. Es war genau das eingetreten, was sie befürchtet hatte. Nun hatte der Mörder ihr auch das Letzte genommen und ihr blieb nichts was noch lebenswert war. Sie wurde mit aufs Revier genommen und verhört. Die Fragen klangen wie Hohn, alles war verschwommen wie im Nebel. Laura war nicht fähig, auch nur eine vernünftige Antwort zu geben. Was sollte sie auch sagen. Man verdächtigte sie, daß sie ihren Mann Luca und ihren Freund Thomas umgebracht hatte.
Laura war wieder auf freiem Fuß. Die endlosen Verhöre mit verschiedenen Kriminalbeamten mußte sie über sich ergehen lassen. Sie konnte immer nur wieder beteuern, dass sie unschuldig sei. Erst zum Schluss kam die Kriminalbeamtin, die Laura schon kannte. Stockend und unter Tränen erzählte sie nun, was sie wußte. Als sie von ihren Träumen erzählte, lächelte die nette Beamtin und sagte: „Es tut mir leid Frau Brandt, aber Träume spielen bei unseren Ermittlungen keine Rolle.“ Danach ging sie hinaus, sie beriet sich wohl mit ihren Kollegen. Nach kurzer Zeit konnte Laura nach Hause, aber sie durfte die Stadt nicht verlassen. Noch immer stand sie unter Verdacht.
Jeder neue Tag, der anbrach, bescherte Laura Tränen. Wie konnte sie je wieder glüchlich sein, wie sollte es weitergehen ohne Thomas. Auch an Luca dachte sie nun öfter. Kein Trost der Welt half ihr, den Schmerz um die beiden geliebten Männer zu überwinden. Einsam saß sie Abends in ihrem Sessel und hatte düstere Gedanken. Sie wollte nicht mehr leben. Wenn es klingelte, öffnete sie nicht mal mehr die Tür. Bis jetzt war sie ja noch arbeiten gegangen, aber nun nicht mehr. Sie meldete sich nicht mal krank, es war ihr alles egal. Nelly machte sich große Sorgen um die Freundin und rief, wieder einmal vergeblich, bei ihr an. Dann stand sie vor Lauras Tür und klingelte und klopfte wohl eine halbe Stunde, bevor ihr geöffnet wurde. Sie erschrak. Laura sah zum Erbarmen aus. Abgemagert, mit zerzaustem Haar und tiefen Ringen unter den Augen. Nelly nahm ihre Freundin in die Arme. Da fing Laura an zu weinen. Sie schluchzte und schrie ihren Schmerz an Nellys Schulter. Alle Tränen, die sie zurückgehalten hatte, flossen aus ihr heraus. „Weine nur mein Schatz, das wird dich erleichtern.“ Behutsam führte sie Laura in die Stube. Hier sah es schlimm aus. Angetrocknete Essensreste, schmutzige Wäsche, Zeitschriften und Bilder lagen wirr durcheinander. Bilder über Bilder von Thomas und Luca. „Geh erst mal ins Bad und mach dich ein bischen frisch, ich räume derweil auf.“ Laura gehorchte und verschwand. Nelly brachte schnell Ordnung in das Chaos. Auf dem Tisch fand sie etliche Tablettenpackungen, aber alle noch verschlossen. Als Laura zurück kam sagte sie: „Wir müssen ernsthaft reden. Ich weiß, daß es dir sehr schlecht geht, aber so wie jetzt kann es nicht weitergehen. Du gehst zugrunde dabei. Geh wieder arbeiten, mach dich hübsch, geh mit mir Billard spielen, lass das Leben einfach wieder an dich heran.“
Monate waren vergangen. Dank Nellys energischer Art hatte sich Laura wieder gefangen. Noch immer saß der Schmerz tief in ihr und wollte nicht aufhören. Äußerlich merkte man ihr nichts mehr an. Es schien, als wäre sie die Laura von früher.
Es schneite. Endlos fielen die Flocken vom Himmel. Laura stapfte durch den matschigen Schnee. Sie war in der Stadt um ein paar Besorgungen zu machen. Was ihr noch fehlte, war ein Weihnachtsgeschenk für Nelly. Es sollte etwas besonderes sein. Sie lief durch die lichtergeschmückten Straßen und schaute in die glitzernden Schaufenster.
„Hätten Sie nicht Lust mit mir ein Glas Glühwein zu trinken? Guten Tag erst mal. Ganz schön kalt heute.“ Laura drehte sich um und reichte ihrem Nachbarn und Kollegen die Hand. Klaus Keller hatte sie in letzter Zeit in Ruhe gelassen und seine aufdringliche Art abgelegt, er wurde ihr langsam sympathisch. Deshalb antwortete sie spontan: „Gerne, der Weihnachtsmarkt ist doch gleich um die Ecke, ich brauch tatsächlich etwas Warmes.“
Nun standen beide an einem Stehtisch, vor sich einen lecker duftenden heißen Glühwein, und ließen sich die Schneeflocken um den Kopf wirbeln. Aus den zahlreichen Lautsprechern ertönte besinnliche Weihnachtsmusik. Laura fühlte sich wohl. Sie fand es gemütlich, hier mit einem Bekannten zu stehen und über Gott und die Welt zu reden. Langsam wurde es dunkel. Der dritte Glühwein stand auf dem Tisch. „Eigentlich könnten wir Du zueinander sagen. Wir kennen uns nun schon eine Ewigkeit.“ Gerne, Prost Klaus!“ Sie tauschten einen flüchtigen Kuß und unterhielten sich weiter. „Hallo ihr Nachtschwärmer, wieso trinkt ihr ohne uns?“ Nelly und Gerhard näherten sich, eingepackt in dicke Fellmützen. Nun tranken sie zu viert ihren Glühwein bis Nelly auf die Idee kam, ins 'Blue Moon' zu gehen. Sie könnten sich aufwärmen und Billard spielen.
„ Ooch Gerald du schummelst.“ Nelly zog ungeschickt an ihrer Zigarette und mußte husten. Sie hatten zwei Gruppen gebildet, die Männer spielten gegen die Frauen und lagen vorn.
So entspannt wie heute war Laura lange nicht mehr, aber sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie schon seit Stunden nicht mehr an Thomas gedacht hatte.
In dieser Nacht hörten ihre Träume auf.
Die Weihnachtszeit war lange vorbei und auch der Winter neigte sich dem Ende zu.
Es war Ende März und die Sonne schickte ihre wärmenden Strahlen. Laura ging es seelisch recht gut. Nelly, Gerald, Klaus und die Kolleginnen aus dem Büro hatten sich so oft mit ihr verabredet, dass sie kaum noch Zeit hatte Trübsal zu blasen. Aber ihre Gedanken waren jetzt auf den Monat Mai gerichtet. Die Angst, dass wieder etwas schreckliches passieren könnte, beherrschte sie immer mehr. Und sie hatte sich nicht getäuscht. Pünktlich zum ersten Mai begannen ihre Träume. Nun war sie des nachts wieder glücklich und frei. Es war ein unendlich schönes Gefühl. Sie vertraute sich Nelly an.
„Ich habe solche Angst, wer wird dieses Mal ermordet? Glaubst du auch, daß es weitergehen wird?“ Da Nelly keinen Rat wusste, blieb die Frage erst einmal unbeantwortet. Sie konnten beide nichts tun.
Laura lief zu Hause unruhig hin und her. Sie hatte eine Einladung zum Abendessen von Klaus bekommen. Sie war sich nicht sicher, ob sie rüber gehen sollte. Würde vielleicht ihr Nachbar das nächste Opfer sein? Ich ziehe das Unglück regelrecht an. Aber mit Klaus ist es doch etwas anderes, wir sind einfach nur Freunde. Endlich entschloss sie sich, doch die Einladung anzunehmen. Sie konnte eh nichts rückgängig machen. Nicht die zahlreichen Verabredungen und nicht die entstandene Freundschaft.
Als sie mit einer Flasche Wein aus dem Haus trat war es schon dunkel. Aus irgendeinem Grund waren die Laternen noch nicht angeschaltet. Zum Glück scheint der Mond, dachte Laura und stieg vorsichtig die Stufen hinunter. An der Gartentür stand Gerald, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. „Hallo Gerald, tut mir leid, ich hab jetzt eine Verabredung. Ist irgend etwas Wichtiges?“ Gerald trat nah an sie heran, sie konnte seinen heißen Atem spüren. „Wichtig bist du mir und ich will den Abend mit dir verbringen. Komm, wir gehen rein!“ Er packte Laura und schob sie in Richtung Tür. „Heute gehst du nicht zu dem Kerl da drüben, du gehörst mir!“ Laura schrie auf, aber schon hielt er ihr den Mund zu. Sie versuchte sich aus seiner Umklammerung zu lösen, aber vergeblich. „Schließ auf, sonst kannst du was erleben!“ Mit zitternden Fingern suchte Laura den Schlüssel und überlegte krampfhaft, wie sie sich befreien könnte. Gerald stieß sie in die Wohnung und schloss ab.
Nun standen sie sich kampfbereit gegenüber. Mit zuckersüßer Stimme sagte Gerald: „Hab keine Angst Laura, ich werde dir nichts tun, solange du mir gehorchst.“ „Bitte Gerald, sei vernünftig, denk an Nelly, ich bin ihre Freundin und ich liebe dich auch nicht. Lass uns reden, bitte.“ In Gerald stieg die Wut hoch. Sie sah es an seinem verzerrten Gesicht und den wild blickenden Augen. Er packte Laura, warf sie auf die Erde und riss ihr die Sachen herunter. Laura schrie, aber es half ihr nichts. Speichel tropfte aus seinem Mund und er küsste sie leidenschaftlich. Laura wurde schlecht, sie ekelte sich vor ihm. Mit seiner Zunge schob er ihre Lippen auseinander. Laura biss kräftig zu. Er schrie auf und ließ von ihr ab. Schnell sprang Laura auf und wollte fortlaufen. Doch mit eisernem Griff zwang er sie in die Knie. Blut tropfte aus seinem Mund. „Wir zwei gehören zusammen, nur du und ich zählen. Was interessiert mich die langweilige Nelly. Du wirst nie jemand anders gehören als mir. Jede Nacht habe ich neben dir gelegen und du hast mich umarmt. Ich liebe dich schon lange und ich weiß, daß du mich auch liebst.“
Sein Kopf war über sie gebeugt, Blut tropfte ihr ins Gesicht. Laura bemerkte es nicht. Sie versuchte verzweifelt ihn abzuschütteln. Die Angst verlieh ihr übermenschliche Kräfte und sie konnte ihr Knie frei machen, welches sie mit Gewalt zwischen seine Beine stieß. Gerald ließ sofort von ihr ab und wimmerte. Laura sprang auf, rannte ins Bad und verriegelte die Tür. Sie riss das kleine hohe Fenster auf und schrie um Hilfe. Hinter ihr krachte es. Gerald hatte die Tür eingetreten. Er packte sie und schlug auf sie ein. Laura verlor das Gleichgewicht und fiel mit dem Kopf gegen das Toilettenbecken. Um sie herum wurde es dunkel. Gerald zog sie aus und warf sie in die Wanne. Dann ließ er eiskaltes Wasser über ihren nackten zerschundenen Körper laufen. Laura schlug kurz die Augen auf, sie zitterte und bebte vor Angst und Kälte. Sie sah noch, wie Klaus um Geralds Hals eine dünne Drahtschlinge legte. Dann umfing sie wieder wohltuende Dunkelheit.
„Schön, daß du wach bist, Laura. Ich habe deine Hilferufe gehört und die Hintertür aufgehebelt. Als ich reinkam ist Gerald weggerannt. Ich wollte erst hinter ihm her, aber du lagst so hilflos da. Es ist dir doch recht, daß ich dich zu mir gebracht habe? Du mußt dich jetzt erholen.“
Klaus stand vor Laura, in der Hand eine Tasse dampfenden Tee und schaute mitfühlend auf sie herab.
Blitzartig kam Laura alles wieder ins Gedächtnis. Sei vorsichtig Laura, dachte sie, nichts anmerken lassen, er scheint nicht zu wissen, dass ich alles gesehen habe. Sie richtete sich mühsam auf und lächelte Klaus an, der ihr die Teetasse reichte. „Ich danke dir, dass du mich gerettet hast. Mein Kopf tut so weh, ich kann mich kaum erinnern. Hast du die Polizei angerufen?“ Klaus deckte sie fürsorglich zu. „Ja, alles schon erledigt, sie waren hier und ich habe erzählt was ich wusste. Dich werden sie erst befragen, wenn es dir besser geht. Ein Arzt war auch da und hat dich untersucht. Hier, diese Tabletten sollst du nehmen.“
„Du bist so lieb zu mir Klaus, aber ich würde gerne ein bischen schlafen.“ Laura drehte sich um und tat als ob sie schlief. Ihre Gedanken arbeiteten fieberhaft. Klaus ist der Mörder, wieso habe ich nichts gemerkt, er hat Luca und Thomas umgebracht und der erste Mord ging sicher auch auf sein Konto. Er bringt jeden um, der mit mir engeren Kontakt hat.
Plötzlich dachte sie an ihr Klassentreffen vor drei Jahren im Mai. Sie hatte sich fast den ganzen Abend mit Paul unterhalten und zum Schluss noch mit ihm getanzt. Paul brachte sie bis vor ihre Haustür, ließ sich ihre Handy-Nr. geben und versprach sie recht bald anzurufen. Nach einer kurzen Umarmung hatte man sich getrennt. Sie hörte nie wieder etwas von Paul und sie hatte ihn auch längst vergessen. Luca war für sie wichtig gewesen, sonst niemand.
Wenn morgen die Polizei kommt, werde ich ihnen alles erzählen, dachte Laura noch und dann schlief sie endlich ein.
Als Laura am nächsten Morgen wach wurde, hörte sie Klaus in der Küche werkeln. Leise schlich sie zur Haustür, doch diese war verschlossen. Nun versuchte sie ihr Glück an den Fenstern im Wohnzimmer, aber auch diese waren nicht zu öffnen.
„Ach, du hast ausgeschlafen, ich habe uns Frühstück gemacht.“ Klaus stand in der Tür.
Laura sagte verlegen: „Ich wollte nur ein bischen frische Luft hereinlassen, aber ich bekomme das Fenster nicht auf.“ „Ja, das ist schon in Ornung, es wird so viel eingebrochen, man muss sich doch schützen. Aber komm jetzt in die Küche, der Kaffee ist fertig.“
Laura folgte gehorsam in die Küche, das Laufen fiel ihr schwer. Sie hatte überall blaue Flecke und am Kopf eine dicke Beule. An die letzte Nacht mit Gerald mochte sie garnicht denken, wie konnte er ihr das antun, was würde Nelly sagen? Nelly? Sie hatte Nelly vergessen, Nelly würde sie bald vermissen und suchen. Wie sollte sie ihr es beibringen? Aber sicher wusste sie schon alles von der Polizei.
Laura setzte ihre Kaffeetasse ab. „Mir geht es heute schon besser, kann ich dein Telefon benutzen, ich würde gerne Nelly anrufen und auch im Büro Bescheid sagen.“
„Das habe ich schon erledigt, du brauchst dich ab jetzt um nichts mehr kümmern, ich werde dir alle Sorgen abnehmen. Aber nun nimm deine Tabletten.“
Laura schluckte ihre Medizin und ließ sich von Klaus zur Couch führen. Um sie herum drehte sich alles und sie schlief bald ein.
Am Nachmittag wurde Laura unsanft aus dem Schlaf gerissen. Klaus hatte sie hochgehoben, sich über die Schulter gelegt und trug sie eilig in den Keller. Er öffnete eine kleine Metalltür, warf sie hinein und schloss ab. Ehe Laura zur Besinnung kam, war sie schon gefangen. Wie aus weiter Ferne hatte sie noch das Klingeln an der Haustür vernommen. Nun lag sie hier. Um sie herum war es stockdunkel, nirgendwo ein Lichtstrahl. Vorsichtig tastete sie die Wände ab. Es war ein leerer, winziger, niedriger Raum ohne Fenster, aufrecht stehen konnte sie nicht. Laura hatte unendliche Angst, ihr Herz klopfte wild. Wird er mich auch umbringen? Wird er auch mir die Drahtschlinge um den Hals legen? Klar denken konnte Laura nicht, die Schlaftabletten zeigten noch immer ihre Wirkung. Wie kann ich fliehen, was soll ich tun? Die Gedanken drehten sich im Kreis, mehr als abwarten blieb ihr vorerst nicht.
Stunden später wurde sie aus ihrem Dämmerzustand geweckt. Klaus zog sie aus dem Verlies und brachte sie dieses Mal zwei Treppen höher auf den Boden. Auch hier hatte er einen kleinen Raum ohne Fenster für Laura gebaut. Er legte sie auf die Matratze, nötigte sie ihre Tabletten zu nehmen und kontrollierte ihren Mund, ob sie auch geschluckt hatte. Kurze Zeit später war er wieder da und stellte ihr eine Lampe auf die Erde.
„Warum hälst du mich gefangen Klaus, was habe ich dir getan?“
„Es ist zu deinem eigenen Schutz Laura, man will dich verhaften.“
Mit schwerer Zunge und unter Anstrengung sprach sie weiter. „Bitte lass mich gehen, sie werden mich suchen. Nelly hat bestimmt schon die Polizei verständigt.“
„Nelly?“ Klaus lachte abfällig. „Nelly kannst du vergessen, sie genießt jetzt den Duft der Maiglöckchen und ihr Dreckskerl von Ehemann auch. Dich habe ich als vermisst gemeldet. Keiner wird dich hier finden. Niemand! Nur uns beide gibt es ab jetzt. Wir werden immer zusammen sein, nur du und ich.“
Den letzten Satz hörte Laura schon nicht mehr. Der Schlaf hatte sie übermannt.
Irgendwann wachte Laura auf und tastete nach dem Schalter des Lämpchens. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren und schaute auf die Armbanduhr. Doch ihr Arm war leer. Die habe ich sicher beim Kampf mit Gerald verloren. Als sie an Gerald dachte, kam ihr sofort Nelly in den Sinn. Ihr Magen krampte sich um und sie mußte sich übergeben. Nelly, ihre geliebte, beste Freundin Nelly war auch tot. Laura weinte und weinte und schrie. Ihre Seele war zerstört, wieviel Leid sollte sie noch erfahren, wieviel Leid kann ein Mensch ertragen? Und wieder erbrach sie sich in den alten Blecheimer, der in der Ecke stand. Ihr Gesicht war geschwollen und zerkratzt, die Augen kaum noch sichtbar und gerötet.
So fand sie Klaus, der mit dem Frühstück hereinkam. Auf dem Tablett stand eine Vase mit Maiglöckchen.
Er stellte alles schweigend hin und ging wieder hinaus.
Der süße, schwere Duft der Blumen stieg langsam in Lauras verschnupfte Nase. Sie wusste, dass Maiglöckchen hoch giftig waren. Wenn ich die jetzt essen würde, dann... Laura konnte nicht weiter überlegen. Schon stand Klaus, ihr Nachbar und Mörder wieder vor ihr.
„Du musst essen und deine Tabletten nehmen.“ Klaus wartete, bis Laura ein paar Happen gefrühstückt hatte. Dann musste sie die Tabletten schlucken und er verschwand erst, als er sicher war, dass seine Gefangene schlief. Die Maiglöckchen nahm er mit.
In den kurzen Zeiten, wenn Laura wach war, konzentrierten sich ihre Gedanken auf Flucht. Doch es schien aussichtslos. In dem kleinen Raum war nur die Matratze mit ein paar Decken, die kleine Nachttischlampe und der Blecheimer, den Klaus täglich leerte. Der Blecheimer! Ja den Eimer könnte ich nehmen. Laura hatte eine Idee. Sie wollte warten, bis Klaus aufschloss und ihm schnell den Eimer über den Kopf stülpen, dann hätte sie ein paar Sekunden um wegzurennen. Sie müsste dann vom Wohnzimmerfenster eine Scheibe einschlagen und wäre frei. Um sich an den Glasscherben nicht zu verletzen, bat sie um mehrere Hemden und Hosen von Klaus. Diese wollte sie anziehen um sich zu schützen. Klaus brachte die Sachen nach kurzer Zeit mit der Bemerkung: „So, damit wird dir nicht mehr kalt sein. Wenn du brav bist, können wir heute im Wohnzimmer zusammen essen.“
Laura nickte und versuchte ihrer Stimme einen netten Klang zu geben. „Ich würde gern mit dir essen und ich freue mich sehr darauf.“ Klaus beugte sich zu ihr hinunter und gab ihr einen Kuß. Laura mußte ihren Ekel verbergen.
„So gefällst du mir, warte nur ab, ich werde uns etwas schönes kochen.“ Er nahm das Frühstücksbrett, achtete darauf, daß sie die Tabletten einnahm und schloss die Tür von aussen ab.
Laura erwachte erst wieder, als Klaus eintrat. Er hatte einen Anzug an und seine Haare waren noch feucht vom Duschen.
„Komm mit Liebste, komm nur, dies wird heute ein besonderer Abend.“ Er lächelte sie vielversprechend an. Laura lächelte gequält zurück und erhob sich.
Im Wohnzimmer stand ein fürstliches Abendessen bereit. Der rote Wein funkelte im Schein der flackernden Kerzen.
Der Abend verlief harmonisch. Sie plauderten und scherzten fast wie früher, als wäre nichts gewesen. Laura staunte über sich selbst, was bin ich doch für eine gute Schauspielerin...
Heimlich ließ sie ihre Blicke umherschweifen. In der Nähe des linken Fensters stand eine schwere Vase. Damit könnte ich die Scheibe einschlagen, aber sie konnte nicht nach draußen schauen. Also stand sie auf und schob die Gardine zur Seite. Schon stand Klaus neben ihr. „Lass doch zu, es ist schon dunkel, da siehst du eh nichts.“ „Ich wollte nur ein bischen lüften, mir ist etwas schlecht vom vielen essen.“ „Da kann ich dir helfen Laura, du legst dich einfach hin.“ Er trat ganz nah an sie heran. „Komm, wir gehen hoch in mein Schlafzimmer und machen es uns gemütlich, ich werde dich verwöhnen. Ich kann dir alles geben was du brauchst.“
In Laura stieg die Angst auf, aber sie antwortete mit freundlichem Lächeln: „Mir ist wirklich sehr schlecht und ich bin so müde. Wir können das Ganze doch auf morgen Abend verschieben.“ Und mit einem koketten Blick fügte sie hinzu: „Und wenn du die Tabletten weglässt, kann ich dich auch verwöhnen und schlafe nicht ein dabei.“ Klaus sah sie nachdenklich an und bemerkte keinen Falsch in ihrer Stimme. „Gut, meine liebste Laura, dann ist Morgen unsere Nacht. Für heute mußt du nochmal in die Bodenkammer.“
Auf dem kurzen Weg zum Boden beschloss Laura, morgen vor dem Frühstück zu fliehen. Abends hatte es keinen Zweck. Sie hatte gesehen, daß die Fenster mit stabilen Läden verschlossen waren, an denen zu allem Ünglück auch noch ein großes Schloß hing.
Laura stand neben der Kammertür, den Eimer bereit und wartete auf ihren Peiniger. Klaus hatte gestern Abend nicht lange genug gewartet, bis sie eingeschlafen war. Sobald er das Zimmer verlassen hatte, erbrach Laura die Tabletten und zugleich ihr Abendessen. So konnte sie heute ihren Plan ausführen. Sie zitterte bedenklich und der Henkel des Eimers fing an zu klappern. Sie hielt den Atem an vor Schreck. Kurz danach hörte sie das Knarren der Bodentreppe. Sie hob den Eimer über den Kopf und ihr Herz schlug wie wild. Dann wurde die Tür geöffnet und Klaus sah sie erstaunt an. Doch ehe er reagieren konnte, hatte sie ihm den Eimer mit dem erbrochenem Inhalt übergestülpt. Schnell stieß sie ihn zur Seite und rannte die Treppen hinunter, hinter sich hörte sie ein lautes Poltern. Klaus verfolgte sie, war aber mit glitschigen Schuhen ausgerutscht und fiel auf sie zu. Sein schwerer Körper riss Beide in die Tiefe.
Laura schrie! Auf ihrem gebrochenen Bein lag Klaus und rührte sich nicht. Sie versuchte ihn beiseite zu schieben, was aber die Schmerzen noch verstärkte. Klaus war wieder zu sich gekommen, packte sie grob und warf sie wutschäumend in das Kellerverlies. „Was nun kommt, hast du dir selbst eingebrockt, du mieses verlogenes Stück!“
Laura hatte unerträgliche Schmerzen und weinte, auch weil ihr Plan missglückt war. Was würde er jetzt tun, würde sie nochmals eine Chance bekommen? Sie lag hilflos in der Dunkelheit und Kälte, wohl ein oder zwei Tage. Sie wusste es nicht. Zum Glück hatte sie warme Kleidung an, aber lieber wollte sie hier erfrieren und verhungern, als mit dem Mörder ihres Mannes zu schlafen. Ihr Bein hatte aufgehört zu bluten, aber die Wunde schien sich zu entzünden. Laura hatte einmal vorsichtig danach getastet und vor Schmerz geschrien. Ein spitzer Knochen ragte aus ihrer Wade. Dann sterbe ich eben hier, ihr war alles egal, der quälende Durst hatte auch nachgelassen. Wenn sie in ihren Dämmerschlaf verfiel, träumte sie wieder von Luca.
Irgendwann fiel ein Lichtstrahl zu ihr herein, sie wurde unsanft aus dem engen Betonverlies herausgezerrt und in eine Decke gewickelt. „Jetzt kriegst du was du verdienst, du undankbares Miststück!“ Laura war unfähig sich zu wehren und ließ alles über sich ergehen.
Klaus warf sie in den Kofferraum und fuhr los.
Später, als der Weg holprig wurde, merkte Laura, daß sie warscheinlich Richtung Wäldchen fuhren und ihr Ende nun gekommen war. Sie wehrte sich nicht gegen den Gedanken, endlich erlöst und frei von allem Grauen.
Nach ein paar Minuten hörte die Fahrt auf. Laura wurde aus dem Auto gezerrt und auf die Maiglöckchenwiese geworfen. Sie erkannte es am betäubenden Duft. Im schwachen Mondlicht konnte Laura sehen, daß Klaus vor ihr stand. Halb besinnungslos vor Schmerzen, verstand sie nur Worfetzen von seiner Rede: „Selber zu zuschreiben...,...liebst mich nicht...,...schuld an allem...,...Tod verdient...
Plötzlich fiel ein Schuß.
Laura schlug mühsam die Augen auf. Rings um sie stand Polizei und Klaus lag blutend und röchelnd neben ihr. In seinen sterbenden Händen hielt er eine Drahtschlinge.