Prolog

Ich geh auf Pfaden, die ich lang nicht gegangen bin

Ich schau mich um und mir kommt so viel in den Sinn

Warum bin ich hier, warum laufe ich in die Vergangenheit

Ich wollt doch vergessen, all die schlimme Zeit

Doch meine Füße tragen mich immer weiter fort

Ich komme ins Dorf, ist das denn der Ort

Den ich oft aus meinen Gedanken verbannte

Der Ort wo ich Feinde nur kannte

Die Bäume blüh`n , die Sonne wärmt meine Haut

Der Wind säuselt sacht, mich ruft jemand laut

Wer soll mich noch kennen, nach all den Jahren

Ich habe es bis heut nicht erfahren

Lief den Weg zurück ohne mich umzusehen

Ich laufe noch heute

Der Vergangenheit davon


Ein schöner Sommertag begann. Die Morgensonne schickte ihre wärmenden Strahlen auf das verträumte Dörfchen.
Hanna und Hannes traten aus ihrer kleinen Pension, ausgerüstet in Wanderkleidung und mit stabilen Wanderschuhen. Jeder hatte einen Rucksack auf dem Rücken, vollgepackt mit Verpflegung für einen Tagesmarsch. Ein besonderes Ziel hatten sie nicht, es sollte immer der Nase nachgehen. Also marschierten sie auf den nahen Wald zu.
Es war ihr erster Urlaubstag. Beide waren sich einig dem Lärm der Welt zu entfliehen und so hatten sie das kleinste abgelegendste Dorf gewählt. Rings umher nur Wiesen und Wälder, keine Autobahn, keine Bahnstrecke und keine Fabriken. Stille und Ruhe, unendliche Ruhe hatten sie sich gewünscht. Beide hatten schweres durchgemacht und wollten nun vergessen.
Und vergessen konnten sie hier. Es war wunderschön. Die Vögel sangen und in der Nähe hämmerte ein Specht. Bei jedem Schritt knackten verdorrte Zweige unter ihren Füßen, eine Eidechse, bunt und schillernd, huschte davon. Der schmale Weg endete plötzlich und sie mußten sich durchs Gebüsch kämpfen. Dicke Äste versperrten ihnen das Weiterkommen und sie mußten mehrmals die Richtung wechseln. Sie liefen durch matschige Pfützen und durch Moos, worin sie tief einsanken. Manchmal blieben sie stehen und pflückten ein paar Beeren.
Nach stundenlangem Marsch, tat sich vor ihnen eine Lichtung auf. Sie ließen ihre Rucksäcke fallen, legten sich ins weiche Gras und schauten in den Himmel. Einzelne weiße Wölckchen verdeckten das strahlende Blau. Grillen zirpten und eine große Libelle surrte an ihnen vorbei. Ja, das war es was sie gewollt hatten.
Nachdem sich Beide erholt hatten, packten sie die Rucksäcke aus. Hanna breitete eine Wolldecke aus und stellte die Thermoskanne und Plastegeschirr hin. Hannes steuerte belegte Brötchen bei und goß den heißen Milchkaffee ein. So gemütlich hatten sie lange nicht gefrühstückt. Hanna sah auf die Uhr. „Es ist fast Mittag, wollen wir umkehren? Von mir aus könnten wir immer weiter laufen.“ Hannes war ein bißchen verlegen, er wußte den Rückweg nicht mehr und wollte es auch nicht zugeben. „Wenn Du Lust hast, laufen wir noch zwei Stunden weiter, es ist so schön hier im Wald.“ Also nahmen sie ihr Gepäck auf und marschierten weiter. Sie befanden sich jetzt in einem dunklen Nadelwald. Der Boden war weich und federte bei jedem Schritt. Kaum ein Laut war zu hören. Manchmal blieben sie stehen und sahen sich einen besonders schönen Pilz an oder eine uralte Tanne, deren Zweige bis zur Erde reichten. Viel wurde nicht geredet, sie verstanden sich auch ohne Worte. Bald wurde es heller und der Wald hörte auf. Doch sie erwartete keine Wiese mit moosbedeckten Steinen, sondern eine tote Landschaft. Es mußte vor kurzem hier gebrannt haben. Überall lagen verkohlte und umgestürzte Baumstämme. Es roch nach Asche und Rauch. Die Beiden blieben stehen und sahen sich an. Weitergehen oder nicht, war nun die Frage. „Nein, da will ich nicht durch, aber wir könnten am Rand entlang gehen und uns die Felsen da drüben ansehen.“ Hannes war einverstanden. Auch er hatte Lust ein bißchen zu klettern. Sie könnten dort noch eine Rast einlegen und dann den Heimweg antreten. Wohl eine Stunde kämpften sie sich durch dichtes Gebüsch, dabei merkten sie nicht, das sich der Himmel bezogen hatte. Erst als sie am Fuße des Berges standen, bemerkten sie die dunklen Wolken. Sturm zog auf und plötzlich goß es wie aus Eimern. Ehe sie ihre Regenjacken aus dem Rucksack geholt hatten, waren sie völlig durchgeweicht. Hanna und Hannes liefen um den Berg herum um eine schützende Stelle zu finden. Weit konnten sie nicht sehen, der Regen peitschte ihnen ins Gesicht. Endlich fanden sie eine Nische, wo sie einigermaßen geschützt waren.

Sie standen eng beieinander, den Rücken an die Felswand gedrückt und schauten dem Regen zu. Langsam wurde es heller, die dunklen Wolken verzogen sich und es wärmte sie wieder die Sommersonne. Die Vögel schüttelten ihr nasses Gefieder und trällerten aus voller Brust.
Hanna packte den Proviant aus und wartete auf ihren Mann, der sich kurz die Gegend besah.
Der Kaffee war noch heiß, nur die Brötchen waren ein bißchen gummiartig. Aber das machte ihnen nichts aus, sie hatten großen Hunger und das Essen schmeckte ihnen köstlich.
Dann kletterten sie die Felsen hinauf. Der Berg war nicht hoch und bald standen sie oben und schauten in die Landschaft. Nur das Grün der Bäume war zu sehen und blauer Himmel. Hinter sich sahen sie das verbrannte Waldstück, es schien kreisrund, wie mit einem Zirkel gezogen. Irgendwann würde auch dort wieder Leben sein.
Es war schon später Nachmittag und sie traten den Rückweg zum verbrannten Wald an. Das es die falsche Richtung war, wußten sie nicht, schließlich waren sie von dort gekommen.
Nach mehrstündigem Marsch gestand Hannes, daß sie sich wohl verlaufen hätten. Nichts kam ihnen mehr bekannt vor. Aber Hanna nahm es nicht schwer. „Irgendwie werden wir schon zurück finden und es ist so schön hier zu wandern. So einen entspannten Tag wie heute, hatten wir lange nicht.“
„Du hast recht Bärchen, zur Not übernachten wir einfach im Wald.“ Sie nahmen sich bei den Händen und liefen weiter. Es dämmerte schon, als sie an ein altes verfallenes Haus kamen. Das Dach hatte von Wind und Wetter gelitten und es besaß keine Fensterscheiben mehr, doch als Nachtlager war es willkommen. Die morsche Tür quietschte und knarrte, ließ sich aber leicht öffnen. Drinnen war es kühl und trocken. Einzelne Einrichtungsgegenstände standen verstaubt herum. Notdürftig bereiteten sie sich ein Nachtlager und tranken den Rest lauwarmen Kaffee. Da sie den ganzen Tag auf den Beinen waren schliefen sie bald ein.
Der nächste Morgen brachte eine Überraschung. Sie hatten das Haus erkundet und festgestellt, daß noch sämtliches Mobilar vorhanden war. Im Keller standen Büchsen über Büchsen mit Lebensmitteln.
„Wir bräuchten nur sauber machen und schon hätten wir ein Häuschen für uns, wär das nicht toll?“ Hanna sah Hannes flehend an. „Mich mußt du nicht überreden, von mir aus bleiben wir hier. Das Dach kann ich reparieren, vielleicht finde ich Werkzeug draußen im Schuppen.“ Hanna fiel ihrem Mann um den Hals. „Und ich fange an zu putzen, muß nur mal sehen wo ich Wasser her bekomme.“ Sie nahm einen verbeulten Eimer und schlenkerte ihn hin und her. „Vielleicht fließt ein Bächlein in der Nähe, schließlich hat hier mal jemand gewohnt, der auch Wasser benötigte.“ Hinter dem Haus fand sie einen Brunnen. Prima, dachte Hanna, nun muß ich nicht so weit laufen, aber ein Bach wäre auch nicht schlecht, dann könnte ich mal baden. Sie betätigte den rostigen Pumpenschwengel und nach einiger Zeit floß Wasser in den davorstehenden Steinbottich. „Haaaannes! wir haben Wasser.“ Sofort hörte das Rumoren im Schuppen auf und Hannes trat heraus. In den Händen hielt er Nägel, einen Hammer und verschiedene Bretter. „Fein Bärchen, dann sieh mal zu, ob du uns einen Tee kochen kannst. Kräuter und Brennholz gibts ja genug hier. Ich bin dann mal oben auf dem Dach.“
Hanna räumte Tisch und Stühle auf die Wiese, putzte und schrubbte und inspizierte ausführlich die Kellervorräte. Da sie Kaffee und Tee fand, konnte sie sich das Sammeln ersparen. Dann reinigte sie den eisernen Ofen und holte sich Zweige und Äste zum Feuern. Streichölzer hatte sie im Keller gefunden und noch eine Büchse Nudelsuppe mit hochgenommen.
Als Hannes mit der Arbeit fertig war, setzte er sich mit Hanna vors Haus. Auf dem Tisch dampfte die Suppe und der Kaffee. „So laß ich mir das gefallen, hier könnten wir glücklich sein und vergessen.“ Aber sogleich merkte er, daß er etwas Dummes gesagt hatte. Hanna standen Tränen in den Augen. „Entschuldige, ich weiß, wir wolten nicht mehr davon reden, es ist mir so herausgerutscht.“ Er stand auf, nahm seine Frau in die Arme und sagte: „Komm Bärchen, sei nicht traurig, auch wenn wir es uns wünschen, aber wir können der Vergangenheit nicht davon laufen. Auch wenn wir sie für einen Tag vergessen hatten, sie wird uns immer wieder einholen.“

Hanna hatte im Schuppen eine kleine Axt gefunden und bahnte sich damit einen Weg durchs Dickicht. Sie war auf der Suche nach einer Wasserstelle, wo sie baden konnte. Hannes hatte sich wieder allerlei Werkzeug besorgt und reparierte die Fensterläden in der unteren Etage. Jeder hatte seine Arbeit und war beschäftigt. Hanna genoß die Stille des Waldes und die Abendsonne. Dann endlich fand sie ihren Bach. Das Wasser war eiskalt und kristallklar. Sie ließ ihre Kleider fallen und stieg vorsichtig hinein. Das Wasser reichte ihr kaum bis zum Knie, aber sie war zufrieden. Was will ich mehr, alles was wir zum Leben brauchen ist hier. Hier ist der Ort der Ruhe und Geborgenheit. Keine Anfeindungen, keine lästigen Fotografen, kein Stress und keine falschen Freunde.
Hanna lag am Ufer des kleinen Bächleins und hing ihren Gedanken nach. Langsam wurde es dunkel. Nach ein paar Minuten stand sie wieder auf der kleinen Wiese vor dem Haus. Hannes hatte die Fensterläden so recht und schlecht repariert. Ist doch egal wie es aussieht, hauptsache wir können sie nachts schließen. Hanna war stolz auf ihren Mann, von seinen handwerklichen Fähigkeiten hatte sie nichts gewußt.
Dann saßen sie auf den alten Holzstühlen im Mondschein, auf dem Tisch eine flackernde Kerze und eine Flasche Wein. Hannes sah zu Hanna hinüber, deren Augen geschlossen waren. Er liebte seine Frau über alles und er wußte, daß auch sie ihn liebte. Sie hatten nur noch sich Beide, sonst keinen Menschen auf der Welt. Eine bittere Erfahrung. Aber nun hatten sie all das hinter sich gelassen und waren frei. Hanna schlug die Augen auf. „Denkst Du auch das Gleiche wie ich? Denkst Du auch wir sollten für immer hier bleiben, nicht nur einen Sommer lang?“ Hannes schaute sie nachdenklich an. „Ich hab auch schon daran gedacht, niemand weiß wo wir sind, niemand wird uns finden. Aber hast Du schon mal an den Winter gedacht? Das Heizen wird kein Problem, Holz gibts genug. Wir sollten Morgen in den Keller gehen und die Vorräte aufteilen.“ Damit war alles gesagt. Noch lange saßen sie in der Dunkelheit und genossen die laue Sommernacht.
Es war schon fast Mittag als sie erwachten. Nach dem gemeinsamen Frühstück im Freien, mit Vogelgezwitscher und dem Rauschen der Bäume, gingen sie kurz zum Bach um sich zu erfrischen. Dann waren die Büchsen im Keller an der Reihe. Sie stapelten immer alles zusammen, was für circa einen Monat reichen müßte. Zum Schluß stellten sie fest, daß sie hier wohl ein paar Jahre überleben konnten. Der Keller hatte noch eine Falltür aus Eisen, die sie jetzt erst entdeckten. Sie stiegen neugierig hinunter. Die Kerze flackerte und drohte zu erlöschen. Hannes hielt schützend die Hand davor. Ein langer niedriger Gang lag vor ihnen, der in der Dunkelheit endete. Gebückt liefen sie den leicht abfallenden, nicht enden wollenden Weg, bis endlich etwas Tageslicht in Sicht war. Ein paar dicke Stämme versperrten den Ausgang. Gemeinsam stemmten sie sich dagegen und standen im Freien. Vor ihnen lag das verbrannte Waldgrundstück. Woher es kam wußte später keiner mehr zu sagen, aber sie sprachen wie aus einem Munde: „Das ist die Insel des Vergessens.“

„Ein zweiter Eingang!“ Hannes widersprach. „Das sieht eher wie ein Fluchtweg aus, aber warum? Die größten Tiere hier sind Wildschweine und ringsum friedliche Landschaft.“ Etwas ratlos blickten sie auf die verkohlten Stämme. „Wir könnten etwas davon mitnehmen und als Holzkohle nutzen. Am Kellerfenster ist ein Eisengitter, daraus werde ich einen Grill bauen. So können wir auch im Freien kochen.“ „Was Du nur für tolle Ideen hast, an Dir ist ja ein Handwerker verloren gegangen.“ Hanna schaute ihren Mann bewundernd an. Insgeheim nahm sie sich vor, allerlei Kräuter und Pilze zu sammeln und für den Winter zu trocknen, denn außer Essen kochen und putzen hatte sie keine Aufgaben weiter. Im Küchenschrank lag ein kleines Kräuterbüchlein, das wollte sie mit in den Wald nehmen.
Als sie wieder in ihrem Häuschen waren, verschwand Hannes im Schuppen. Hanna nahm einen Weidenkorb und ging hinterher. Hannes hatte einen Schlitten zur Seite gestellt und suchte noch nach ein Paar Stricken. „Damit werde ich die Holzkohle transportieren, dann brauchen wir sie nicht zu schleppen und werden auch nicht so schmutzig.“ „Gute Idee Hannes, aber Du wirst trotzdem danach aussehen wie ein Schornsteinfeger. Im Haus hängt alte Arbeitskleidung, zieh sie Dir doch über.“ „Hast recht mein Schatz, aber was willst Du mit dem Korb?“ „Kräuter und Pilze sammeln und vielleicht finde ich noch Heidelbeeren, wir brauchen dringend Vitamine, oder willst Du krank werden?“ „Krank werde ich, wenn ich Deine Pilze esse.“ Hannes lachte laut. „Lass die Pilze wo sie sind, aber zum Beeren suchen komme ich mit, ich habe richtig Appetit darauf.“
Nach ihrem Ausflug in den Wald untersuchten sie die Schränke im Haus. Sie würden warme Kleidung für den Winter brauchen. Was sie fanden erfüllte ihr Herz mit Freude. Ja, sie würden auch einen Winter hier überstehen. Warme Fellkleidung, Stiefel, Decken, Bettwäscheund sogar Handtücher füllten die Schränke bis oben hin. „Wer mag hier gewohnt haben und wie hat man das ganze Zeug hergeschafft?“ Hannas Frage blieb unbeantwortet. „Wer weiß, ob wir das je erfahren werden, aber komm mal mit auf den Boden, dort stehen noch große Kisten.“
Auf dem Boden zeigte Hannes seinem Bärchen stolz seine Dachreparatur. Es war ihm scheinbar gut gelungen, denn kein Lichtstrahl schien herein. Sie zündeten eine Kerze an und besahen sich die verschiedenen Kisten. Alle bestanden aus Metall und waren fest verschlossen. Den kleinsten Behälter nahm Hannes mit nach unten in seine „Werkstatt“, wie er den Schuppen jetzt nannte. Irgendwie mußte er doch zu öffnen sein. Hanna hatte derweil eine warme Mahlzeit und frischen Kaffee gekocht. Sie trug alles nach draußen und stellte noch einen Strauß Blumen auf den Tisch. Zufrieden mit ihrem Werk ging sie Richtung Werkstatt, wo das Hämmern schon vor einer Weile aufgehört hatte. Ein wunderschöner Sonnenuntergang tauchte die Umgebung in rotes warmes Licht.

Hannes saß gebeugt und schluchzend auf einem Schemel und drehte ihr den Rücken zu. „Hannes?“ Keine Antwort. Hanna stellte sich hinter ihn und legte ihre Arme um seine Schultern. Tänen tropften auf ihre Hände. Sie wußte keinen Trost und hatte keine Worte für ihn. Alles was zu sagen war hatten sie sich gesagt und sein Leid war ihr Leid. Nun flossen auch ihre Tränen und sie legte ihre Wange an seinen Kopf. So verharrten Beide, bis sie sich wieder etwas beruhigt hatten.
Später, viel später erfuhr Hanna, daß in der kleinen Kiste nur ein Zettel gewesen war, worauf die Namen ihrer toten Kinder standen, Timmy und Marlena.
Das Abendessen nahmen sie schweigend ein. Nicht der Untergang der Sonne und nicht das letzte Lied einer Amsel drang in ihr Bewußtsein. Die Vergangenheit hatte sie eingeholt und alles brach wieder auf. Vor den Menschen konnten sie davonlaufen, aber nicht vor ihren Erinnerungen.
Auch der nächste Tag verlief schweigend. Hannes hatte sich im Schuppen verkrochen. Hanna putzte die obere Etage und versuchte an nichts zu denken.
Abends auf ihrem Nachtlager rückten sie eng zusammen und Einer spürte die Wärme des Anderen. Hanna brach zuerst das Schweigen. „Wir dürfen uns nicht gehen lassen, wir haben uns doch noch. Wir wollten hier ein neues Leben beginnen.“ „Du hast wie immer recht Bärchen, wir lassen uns nicht unterkriegen. Gleich morgen früh nehme ich den Schlitten und hole für uns Holzkohle.Hast Du Lust mit zukommen?“ „Ja natürlich will ich helfen. Ich werde im Tunnel Kerzen aufstellen, so haben wir die Hände frei.“ Sie nahmen sich noch einmal fest in die Arme, dann erlöste sie der Schlaf.
Aber am nächsten Morgen waren die traurigen Erinnerungen nicht verschwunden. Hanna sah, wie sehr Hannes litt. Sie wußte nichts von dem Zettel, aber sie wußte woran er dachte und auch sie hatte mit den Tränen zu kämpfen. Im Tunnel wurde es noch schlimmer. Vor Hanna ging Hannes mit gebeugtem Rücken und zog den Schlitten. Als sie ihn so betrachtete, mußte sie an gestern denken, wie sie ihn weinend im Schuppen gefunden hatte. Ihr Herz krampfte sich vor Schmerz zusammen und sie weinte laut auf. Hannes drehte sich um und sie sah seine Tränen.
Endlich kamen sie an den Ausgang. Sie schoben die Stämme beiseite und fingen an den Schlitten zu beladen. „Hannes, komm mal her. So eine Einöde ist das garnicht mehr, hier wachsen schon wieder Pflanzen!“ Hannes kam heran und sah in Hannas rußverschmiertes strahlendes Gesicht. „Siehst du Bärchen, ich hatte Recht, nach dem Tod entsteht wieder neues Leben.“ Sie schauten sich verwundert an. „Spürst Du auch was ich spüre, bist Du auch so leicht und glücklich?“ Eine Antwort brauchte Hanna nicht, denn ihr Mann hatte sie hochgehoben und wirbelte sie durch die Luft. „Ja Hanna, ich bin glücklich, glücklich mit Dir. Hier auf diesem verbrannten Stück Erde beginnt unsere Zukunft. Hier auf der Insel des Vergessens.

Die nächste Woche verbrachten sie mit Holz sammeln. Es war ein riesiger Berg geworden. Nun standen Beide und hackten es in kleine Stücke. Sorgsam stapelten sie es hinter dem Haus. Die Arbeit machte ihnen großen Spaß und sie kamen kaum zum Nachdenken. Auch einen großen Vorrat an Holzkohle hatten sie sich zugelegt. Hanna hatte vorgeschlagen, sie auf dem Dachboden zu lagern, damit sie nicht nass wird.
Der August neigte sich dem Ende zu, sie bemerkten es an den kühleren Nächten und das die Tage kürzer wurden. „Ich werde heute in der oberen Etage die Fensterläden reparieren, bald wird es kalt und wir haben keine Glasscheiben, die uns schützen.“ Die Zwischenräume von Fenstern und Läden wurden mit Heu, Laub und Moos ausgefüllt. Hanna staunte: „Du hast immer so gute Ideen, nun kann der Winter kommen. Ich werde gleich mal den Ofen zur Probe heizen.“ „Warte Bärchen, ich hole schnell Holz und Streichhölzer hoch.“ Als das Feuer lustig flackerte fing es an zu regnen. Erst wenige Tropfen und dann regnete es Bindfäden. Schnell liefen sie nach unten, holten Tisch und Stühle herein, setzten sich an die geöffnete Tür und freuten sich an dem Naturschauspiel. Der Wind bog die Wipfel der großen Tannen und auf der Wiese bildete sich ein kleiner See. Hanna hatte eine Flasche Wein geöffnet und sie tranken abwechselnd einen Schluck. Im Küchenofen knisterte das Feuer. Hannes legte den Arm um seine geliebte Frau und sagte: „So gemütlich wie wir hat es Niemand. Ich bin so froh, daß ich all dies mit Dir erleben darf.“
Später ging Hannes auf den Dachboden Er wollte nachsehen, ob es durchgeregnet hatte, aber alles war trocken. Insgeheim klopte er sich auf die Schulter und war stolz auf seine gute Arbeit. Sein Blick fiel auf die Metallkisten. Sofort hing er wieder trüben Gedanken nach. Er würde wohl keine mehr öffnen und wollte auch garnicht wissen was sich noch in ihnen befand. Das die erste Kiste die Namen seiner Kinder enthielt war für ihn immer noch ein Schock. Hannes setzte sich hin und seine Gedanken reisten in die Vergangenheit.

Hannes Winter war ein berühmter und begehrter Regisseur. Seine Frau Hanna war eine begnadete Sängerin. Kennengelernt hatten sie sich auf einer der zahlreichen Preisverleihungen und sich ineinander verliebt. Sie sahen sich selten, da ihr Beruf sie sehr in Anspruch nahm. Trotzdem heirateten sie schon ein halbes Jahr später und ihnen wurden zwei süße Kinder geschenkt. Timmy und Marlena. Sie waren ihr ganzes Glück. Die Klatschpresse war voll von ihrem Familienleben und es stand weißgott nicht immer nettes darin. Täglich begleitete sie eine Schar Fotografen, was ihnen sehr lästig war, aber es gehörte nun mal dazu. Ein Privatleben hatten sie nicht, dafür Geld ohne Ende. Sie waren Beide begehrt und beliebt beim Publikum und konnten sich ihren Fans kaum entziehen. Die wenige Zeit, die ihnen verblieb verbrachten sie mit den Zwillingen. Als sie drei Jahre alt waren, nahmen sie Hannas Eltern mit in die Ferien, da wegen wichtiger Termine ihr Urlaub auf den Winter verschoben werden mußte. Vier Wochen mußten sie ohne die Beiden leben und sie hatten große Sehnsucht, ihre Kinder wieder in die Arme zu schließen. Endlich nahte die Rückreise. Hanna hatte das Zimmer geschmückt und eine große Torte stand auf dem Tisch. Auch ihr Lieblingsspielzeug lag schon bereit.
Doch all ihr Glück zerplatzte mit einem Schlag. Ein betrunkener Autofahrer raste in das Auto von Hannas Eltern. Alle vier waren sofort tot.

Nach dem schrecklichem Unglück sagten sie alle Termine ab. Eine Welt war zusammengebrochen. Erst Glanz und Glemmer und nun nur noch Dunkelheit. Dunkelheit, endlose Verzweiflung und Schmerz. Nichts auf der Welt konnte sie trösten. Ihre geliebten süßen Kinder waren tot, ihr Ein- und Alles!
Monate gingen ins Land. Ihre Manager bedrängten sie mit Terminen. Langsam öffneten sie sich wieder dem Leben. Doch Hanna konnte und wollte nicht mehr singen. Dafür redete sie ihrem Mann zu, sich wieder in die Arbeit zu stürzen, sie hoffte so sehr, daß er dabei schneller vergaß.
Hanna hatte nun Zeit. Zuviel Zeit! Den Fernseher mochte sie nicht mehr anschalten, es kursierten schlimme Gerüchte. Die Klatschreporter hatten sich auf sie gestürzt und verbreiteten Lügen, nur um die Auflagen ihrer verlogenen Zeitung zu erhöhen. Hanna wollte nichts davon hören und sehen. Aber beim Einkaufen lagen die „Schmierblätter“ überall herum. „Falsche Trauer“, las sie und Tränen der Wut liefen ihr übers Gesicht. Nun hatten die Fotografen wieder ein 'tolles' Motiv. Sie verfolgten sie bis in die Geschäfte. Entnervt gab Hanna auf. Sie ließ sich ihre Lebensmittel ins Haus liefern. Sobald sie sich an der Tür zeigte, begann ein Blitzlichtgewitter.
Hanna und Hannes bekamen keinen Besuch mehr. Keiner der sogenannten 'Freunde' ließ sich sehen. Nun kam auch noch diese Enttäuschung hinzu. Wie konnten sie glauben, was in den Zeitungen stand. Hannas Eltern sollten angeblich mit zu hoher Geschwindigkeit gefahren sein und auch noch riskante Überholmanöver gemacht haben. Seltsamerweise war auch der Autofahrer jetzt nicht mehr betrunken, sondern ihre Eltern. Kleingedruckt erschien zwar das Dementi, aber das tröstete sie nicht mehr.
Zwei Jahre, zwei lange Jahre hielten sie durch. Dann brachen sie alle Brücken hinter sich ab und reisten bei 'Nacht und Nebel' in das kleine einsame Dörfchen, wo sie niemand kannte.

Hanna fand ihren Mann auf dem Dachboden. Sie sah sofort, daß er Kummer hatte und sie nahm in stumm in die Arme. „Es kam alles wieder hoch, entschuldige Bärchen.“ „Dafür brauchst Du dich nicht entschuldigen, das nächste Mal wirst Du mich trösten. Aber jetzt komm zum Abendessen, ich habe schon zweimal gerufen.“
Die Zeit ging dahin, aber der Schmerz blieb. Manche Tage waren sie so sehr beschäftigt, daß sie alles vergaßen. Doch es gab Zeiten, wo die Tränen und die Trauer zurückkamen. Dann nahmen sie sich bei den Händen und liefen auf ihre „Insel.“ Dort war alles Leid vorbei und glücklich wie nie zuvor gingen sie wieder ihrem Alltag nach.
Die ersten Winterstürme brachten Eis und Schnee. Hanna und Hannes zogen ihre Felljacken an und unternahmen lange Spaziergänge. Sie hatten nicht gedacht, daß der Winter so schön sein konnte. Die Tannen waren schneebedeckt und manchmal fiel die Schneelast auf sie herunter. Sie lachten dann und klopften sich gegenseitig wieder sauber. Hannes hatte heimlich vor dem Haus auf der Wiese einen großen Scheemann gebaut. „Das ist jetzt unser Wächter, er passt auf, daß uns die wilden Tiere nicht fressen.“ „Nein, das bist Du“ sagte Hanna, „Sieh doch nur den dicken Bauch!“ Sie lachten beide und balgten sich im weichen Schnee. Dann bauten sie noch eine Schneefrau dazu. Nun standen sie in der Abenddämmerung und beschauten ihr Werk. Hanna verschwand kurz und kam dann mit zwei Tassen Glühwein heraus. „Wenn wir etwas Fleisch hätten, würde ich jetzt den Grill aufbauen.“ Hannes schaute enttäuscht drein. „Kannst Du nicht eine Falle bauen, dann könnten wir vielleicht einen Hasen grillen.“ „Gute Idee, wirklich gute Idee“ sagte Hannes, „Wenn ich nur wüßte wie man das macht? Ich gehe gleich morgen früh in die Werkstatt und lasse mir was einfallen.“
Am nächsten Morgen konnte es Hannes kaum erwarten, daß es hell wurde. Schnell trank er einen heißen Kaffee und verschwand danach im Schuppen. Hanna hörte ihn rumoren. Nachdem sie die Küche in Ordnung gebracht hatte, ging sie hinaus. Hannes war noch am Suchen. Rings um den Schuppen hatte er allerlei Gerät gestapelt und er brachte immer noch aus der Tiefe der Hütte, Bretter und Eisenteile. Plötzlich hörte sie einen Jubelschrei. Hannes hatte in jeder Hand eine Tierfalle und fing an Hanna zu erklären, wie er sie aufstellen wollte. „Ja mach nur, aber Du mußt dann auch immer nachschauen, ich kann das nicht.“
Hannes verschwand mit den Fallen im verschneiten Wald. Hanna ging mit ihrem verbeulten Eimer zur Pumpe und holte sich Wasser. Heute war ihr Waschtag. Später gingen dann Beide mit dem Schlitten in den Wald zum Holz sammeln. Der Holzvorrat ging schneller zur Neige, als sie dachten.
Am nächsten Tag war tatsächlich ein Hase in der Falle. Hannes zeigte stolz seinen ersten Fang. Dann holte er einen Tisch auf die Wiese, nahm sein scharfes Messer und zog das Fell ab. Hanna brachte eine Schüssel mit warmen Wasser und stellte sie auf den Tisch. „Ich werde ihn ausnehmen und Du stellst in der Zeit den Grill auf. Vielleicht können wir hier draußen essen, bevor es dunkel wird.
Der Mond war schon aufgegangen, als sie endlich ihr erstes Fleisch essen konnten. Es schmeckte köstlich. Sie hatten die Stühle herausgeholt und saßen nah beim Feuer. Hanna hatte wieder einen Glühwein gezaubert. Eng umschlungen, glücklich und zufrieden schauten sie auf die knisternde Holzkohle. „Wir haben schon in den besten Hotels gegessen, aber so etwas feines wie heute, hatten wir noch nie.“ Hanna konnte ihrem Mann nur zustimmen. „Nein, so etwas feines hatten wir noch nie!“

Es wurde kalt, bitter kalt. Hanna und Hannes gingen jetzt täglich in den Wald Holz sammeln. Sie hatten Bedenken, wenn es noch mehr schneien würde, daß sie kein Feuerholz mehr unter den Schneemassen finden würden. Es machte ihnen großen Spaß und ihnen wurde auch nicht kalt bei der Arbeit. Wenigstens vier Mal täglich kamen sie mit einem voll beladenen Schlitten zurück. Der Brennholzberg wuchs und wuchs. Und sie hatten das Richtige getan. Graue dicke Wolken brachten unaufhörlich Schnee und der Weg zum Brunnen und dem überlebenswichtigen Holz mußte ständig frei geschaufelt werden. Die Spaziergänge hörten auf, da der Schnee schon über einen Meter hoch lag.
Eines Tages kam Hannes mit einer kleinen Tanne in die Küche. „Schau mal Bärchen, die habe ich schon einige Zeit in der Werkstatt deponiert, irgendwann wollen wir doch Weihnachten feiern.“ „Und ich habe Tannenzweige und Tannenzapfen im Tunnel liegen. Die werde ich gleich holen und das Haus schmücken.“ Beide machten sich fleißig an die Arbeit und Hannes hörte das erste Mal nach langer Zeit Hanna singen. Es war kein richtiges singen, aber sie summte Weihnachtslieder vor sich hin. Er sah sie liebevoll an. „Wollen wir morgen Weihnachten feiern? Ich glaube die Zeit kommt heran.“ „Ja mein lieber Mann, morgen wollen wir feiern, egal ob schon Weihnachten ist oder nicht.“
Das Haus war geschmückt und es roch überall nach frischer Tanne und Harz. Hanna hatte auf dem Herd einen Hasenbraten zubereitet. Dazu öffnete
sie eine Büchse Kartoffeln, mit denen sie bisher sehr sparsam umgegangen war. Eine Büchse Rotkohl vervollständigte das Menü. Als es dämmerte, setzten sie sich an den festlich gedeckten Tisch und wünschten sich frohe Weihnachten. Nach dem ausgiebigen Mahl zauberte Hanna eine Flasche Kräuterlikör auf den Tisch. Eine Kerze verbreitete warmes Licht und im Ofen knisterte das Feuer.
„So habe ich mir schon immer Weihnachten gewünscht. Timmy und Marlena hätten hier glücklich aufwachsen können.“ Hanna sah ihren Mann fragend an. Hannes war erstaunt. Bisher hatten Beide sorgfältig vermieden, die Namen ihrer Kinder zu nennen oder über sie zu reden.
Sie saßen noch lange an diesem Abend und sprachen über die Vergangenheit. Endlich konnten sie ohne Tränen darüber reden. Nun rückte auch Hannes mit der Sprache heraus. „Weißt Du was ich Dir schon lange erzählen will? Ich habe es Dir bisher nicht gesagt, damit Du nicht noch trauriger wirst. Der Inhalt der kleinen Metallkiste enthielt nur ein Stück Papier. Darauf stand: Timmy und Marlena.“ Hanna holte tief Luft. Dann ging sie zu ihrem Mann und setzte sich auf seinen Schoß. Beide umarmten sich und eine unendliche Ruhe breitete sich in ihnen aus. Dann sagte Hanna einen folgenschweren Satz: „Hannes mein Schatz, ich glaube wir werden bald zu Dritt sein.“

Hannes sah seine Frau an, ihre Augen leuchteten. Da hob er sie hoch und küsste sie zärtlich auf den Mund. „Ich bin bereit für ein kleines Wesen und ich freue mich so sehr. Du machst mich so glücklich.“ „Und ich bin auch glücklich, endlich werden wir wieder ein Kind haben.“
Die Zeit verging. Schnee und Eis zogen sich zurück und die Sonnenstrahlen erwärmten den Boden. Auf ihrer „Insel“ verdrängte das heranwachsende Grün die schwarzen verkohlten Stämme. Auch Hannas Bauch wuchs. Sie mußte schon im fünften Monat sein. Hannes machte sich insgeheim Sorgen. Wenn bei der Entbindung etwas schief lief, er könnte ihr nicht helfen. Er hatte große Angst um seine geliebte Frau. Aber Hanna hatte ihm klipp und klar gesagt, daß sie hier im Waldhaus bleiben wollte.
Bald wußte er nicht mehr ein noch aus. Um nachzudenken machte er einen Spaziergang zur „Insel.“ Vielleicht fiel ihm dort etwas ein. Nachdem er den Tunnel durchquert und die Stämme beiseite geschoben hatte, stand er im vollen Sonnenlicht. Es war ein wunderschöner Tag. Langsam lief er durch das ehemalige Ödland und sofort wurden seine düsteren Gedanken vertrieben. Überall wuchs neues Leben. Sein Blick fiel auf kleine Löwenzahnpflänzchen und Brennesseln. Da er im Kräuterbuch gelesen hatte, daß sie sehr viel Vitamine enthielten, pflückte er für Hanna einen dicken Strauß. Als er fertig war, bemerkte Hannes, daß er etwa in der Mitte der „Insel“ stand. So weit war er noch nie gelaufen. Aber was war das? Unter seinen Füßen war es glatt und rutschig. Als er herunterschaute, bemerkte er etwas glänzendes. Sofort scharrte er mit den Füßen die Stelle frei. Es war tatsächlich eine Metallplatte. Und die Platte hatte einen Griff. Genau so eine Falltür wie bei uns im Keller, dachte Hannes und zog mit Leibeskräften daran. Endlich ging die Tür auf. Ein etwas modriger Geruch schlug ihm entgegen und er konnte eine Treppe erkennen. Seine Neugierde war geweckt. Am liebsten hätte er den neuen Tunnel sofort erkundet, aber ohne Licht ging das wohl nicht. Außerdem mußte er Hanna vorher Bescheid sagen, wer weiß, was ihn erwarten würde.

Frohen Mutes lief er zurück. Er konnte es garnicht erwarten zu erzählen, was er entdeckt hatte. Hanna saß etwas bleich auf dem Küchenstuhl. „Was ist los Bärchen“ fragte Hannes besorgt. „Ach nichts weiter, ich hab nur so ein komisches Ziehen im Bauch, es tut ein bißchen weh.“ Sofort waren Hannes Sorgen wieder da und er dachte an eine Fehlgeburt. „Komm mein Schatz, ich bring Dich ins Bett. Es wird bestimmt besser, wenn Du dich ausruhst. Gleich mache ich Dir frischen Salat und eine heiße Suppe.“ Hanna sah ihn dankbar an. Natürlich hatte auch sie Angst das Kind zu verlieren, aber ihre Angst vor den Menschen war größer. Sie war zu sehr enttäuscht worden.
Hannes ging in die Küche und bereitete aus den frischen Kräutern einen recht leckeren Salat. Zusammen mit einem Teller Möhrensuppe betrat er das Schlafzimmer. Hanna lächelte ihn an. „Du bist lieb, vielen Dank! Mir geht es wieder gut, die Schmerzen haben aufgehört.“ Hannes freute sich und sagte: „Ich hole nur schnell meine Suppe und dann esse ich mit Dir hier am Bett. Außerdem habe ich Neuigkeiten.“
Nach dem Essen fing Hannes an zu erzählen was er entdeckt hatte.
„Ich muß unbedingt den Tunnel, oder was immer es auch ist, untersuchen. Ich warte selbstverständlich damit, bis Du wieder ganz gesund bist.“ „Ach Bärchen, das ist doch Unsinn, ich hatte doch nur ein bißchen Bauchschmerzen und ich bleibe auch Morgen noch ganz brav liegen. Übermorgen kannst Du dann Entdecker spielen. Am liebsten würde ich mitkommen.“
„Ich weiß nicht Schatz, Du müßtest sehr weit laufen, besser Du bleibst hier. Es kann sein, daß ich länger fort bin, bitte mach dir keine Sorgen, ich werde alles Notwendige mitnehmen.“ Aber am übernächsten Tag konnte sich Hannes nicht entschließen zu gehen. Er wollte erst abwarten ob sich die Bauchschmerzen wieder einstellten. Doch Hanna ging es bestens. So zog er dann am darauffolgenden Tag los. Den Rucksack vollgepackt mit Kerzen, Streichhölzern, Proviant, eine kleine Schaufel und die kleine Axt.

Hannes lief und lief, doch immer wieder wanderten seine Gedanken zu seiner Frau und er machte sich große Sorgen. Bald war er an der Metallplatte angekommen, doch er konnte sich nicht entschließen hinunter zu steigen. Wenn nun das Kind vorzeitig kam? Seine Gedanken überschlugen sich. Wie konnte er seine Hanna allein lassen?
Schnell trat er den Rückweg an, doch das Unglück war schon passiert. Hanna lag blutüberströmt im Tunnel. Hannes war entsetzt, wie hätte er eine Fehlgeburt verhindern sollen. Er nahm seine geliebte Frau in die Arme und trug sie unter Tränen zurück zu ihrem Heim. Dort legte er sie vorsichtig auf das Bett und hoffte, daß seine Gebete erhört wurden. Doch Hanna wurde immer schwächer, er spürte kaum noch ihren Atem und die Blutung kam nicht zum stehen. Den ganzen langen Tag und die Nacht saß er verzweifelt bei ihr. Gegen Morgen war er so erschöpft, daß ihm die Augen zu fielen. Von einem Geräusch wurde er geweckt. Hanna hatte die Augen geöffnet und sah ihn an. Er beugte sich zu ihr und gab ihr einen Kuß. Hanna machte einen tiefen Atemzug und Hannes dachte, sie wollte ihm etwas mitteilen. Doch es war das Letzte, was er von ihr vernahm. Hanna, seine über alles geliebte Hanna hatte ihn verlassen. Fassungslos, zu keiner Bewegung fähig, saß er Stunden, oder auch Tage, an ihrem Totenbett.

Ein Jahr verging. Hannes war nicht wieder zu erkennen. Sein Bart und die Haare waren lang, zerzaust und schmutzig. Außerdem war er abgemagert bis auf die Knochen. Was ihn noch am Leben erhielt, wußte er selbst nicht. Manchmal aß er tagelang nichts und trank nur Wasser aus dem Brunnen. Das gesamte Holz hatte er im Winter verfeuert und kein Neues gesammelt. Seine Suppen machte er sich nicht warm, wozu auch, alles schien sinnlos. Als das Holz im Winter nicht reichte, hatte er jeden Abend vor dem Einschlafen gehofft zu erfrieren. Aber es war ihm nicht vergönnt. In der Küche und im gesamten Haus herrschte das Chaos. Er sah es nicht, nur sterben wollte Hannes. Da kam er auf die Idee giftige Pflanzen zu essen. Im Kräuterbüchlein waren sie mit einem schwarzen Totenkopf gekennzeichnet.
So machte er sich eines Tages auf, um diese Pflanzen zu suchen. Seine Kleidung hatte er schon lange nicht mehr gewechselt. Sie hing schmutzig und in Fetzen an ihm herunter. Wäre ihm jemand begegnet, hätte er bestimmt gedacht, er sieht einen bösen Waldgeist.
So lief Hannes, das erste Mal nach ewiger Zeit, durch den Wald. Den struppigen Kopf zu Boden gesenkt um schnell seine Pflanzen zu finden. Stunden später, die Sonne stand hoch am Himmel, legte er eine Pause ein. Sein geschwächter Körper verlangte nach seinem Recht. Hannes legte sich hin und schlief ein. Als er aufwachte, sah er über sich den blauen Himmel und rigsum die mächtigen Tannen. Er schaute, als ob er das alles das erste Mal sah. Und genau so war es auch. Hannes hatte vergessen, wie schön die Natur war. Er stand auf und lief weiter. An einem kleinen Waldsee beugte er sich hinunter um zu trinken und er erschrak vor seinem Spiegelbild. Lange saß er im Gras, zwischen Schilf und summenden Bienen und dachte über sein Leben nach.
Als es dunkel wurde, hatte er sein Heim erreicht, und er hatte einen Entschluß gefasst.

Die nächsten Tage sah man Hannes, zwar nicht fröhlich pfeifend, aber doch frohen Mutes, das Haus reinigen. Auch für sich hatte er etwas getan. Sein Bart und die Haare waren gestutzt und er war frisch gewaschen. Auch seine Kleidung war wieder ordentlich.
Nun saß er am Tisch auf der Wiese und trank seinen Kaffee. Sein Blick wanderte zum Haus hinüber und er stellte fest, daß er das Dach reparieren mußte. Sofort stand er auf, nahm das Werkzeug und bald war auch diese Arbeit getan. Bevor Hannes die Treppen hinunter stieg, schaute er sich alle Metallkisten an. Ich werde nicht mehr feige sein, ich werde mich der Herausforderung stellen, egal was kommt. So dachte Hannes bei sich und nahm die kleinste Kiste mit nach unten in seine Werkstatt.
Als er Mittagbrot essen wollte, fiel ihm wieder der Mangel an Feuerholz ein. Einige Tage war nun Hannes beschäftigt. Mit dem alten Schlitten zog er in den Wald, immer und immer wieder, bis sich ein stattlicher Berg auf der Wiese angesammelt hatte. Noch eine weitere Woche verbrachte er mit dem Hacken des teilweise morschen Holzes, bis ihm wieder seine kleine Metallkiste einfiel.
Mit seinem wenigen Werkzeugen konnte er sie öffnen und es lag wieder ein Zettel darin, worauf stand: „Geh zum zweiten Tunnel!“



.................Ende des 1. Teils......................................