Die Jahre gingen dahin. Paul und Sina hatten bald geheiratet und waren in ihr „Schloss“ eingezogen. Der Kauf des leerstehenden Gebäudes hatte sich als nicht schwierig gestaltet. Nach aufwendigen Renovierungsarbeiten hatten sie sich ein gemütliches Heim geschaffen. Ihre feste Liebe wurde von einem Kind gekrönt. Es war ein Junge. Über den Namen waren sich beide sofort einig. Er sollte Sibillus heißen.
Sibillus war ein unkompliziertes Kind und sie schenkten ihm all ihre Liebe. Er wuchs heran, heiratete und zog zu den gebrechlichen Großeltern in die Mühle. Bald wurde auch ihm ein Sohn geschenkt, der den Namen Martin erhielt.
Martin war oft und gern im „geheimnisvollen Schloss“ bei seinen Großeltern Sina und Paul. Am liebsten spielte er auf dem Dachboden, und immer wieder berichtete er seinen Eltern, daß dort oben ein Gespenst haust. Die Eltern gaben nichts darauf, sie glaubten nicht an solche Dinge. Ihr Sohn hatte einfach zu viel Phantasie.
Martin wurde älter und kam nur noch selten zu seinen Großeltern. Er hatte Arbeit in der Hauptstadt gefunden. Doch nun war Sommer und Martin nahm seinen Urlaub in Anspruch. Er war auf dem Weg in die Heimat.
Paul und Sina, inzwischen schon über die Siebzig, saßen auf der alten Bank vor ihrem Haus und schauten aufs Dörfchen zur Saale hinunter. Der Ausblick war wunderschön. Paul hatte den Arm um seine Sina gelegt. Er liebte sie immer noch wie am ersten Tag. Sie beide hatten ein glückliches Leben gelebt. Alle Höhen und Tiefen hatten sie gemeinsam gemeistert. Im Herzen waren sie jung geblieben und ihre Liebe war mit jedem Tag gewachsen. Sie sprachen oft über vergangene Zeiten und ihr einziger Wunsch war es, zu wissen wer die „Weise Frau“ war und wo sie sich jetzt aufhielt. Damals auf dem Marktplatz hatten sie sie das letzte Mal gesehen. Sie hatten gemeinsam den Satan in die Hölle verbannt, aber danach war sie verschwunden. Nur Paul, Sina und die drei Freunde standen noch im Kreis und hielten sich bei den Händen.
Martin fand seine Großeltern auf ihrer Lieblingsbank. Er liebte sie beide über alles. Seine Großmutter Sina mit den vielen Runzeln und und ihrer liebevollen Art und Großvater Paul, der ihm oft spannende und gruslige Geschichten von der Mühle und der kleinen Stadt erzählt hatte. Auch trug Großvater ein silbernes Amulett um den Hals, worauf der Name von Martins Vater stand. Sibillus! Auch Martin hätte gern erfahren, wer der geheimnisvolle Sibillus in Wirklichkeit war.

2. Kapitel

Am nächsten Morgen war Martin schon zeitig wach, und so beschloß er einen Waldspaziergang zu machen. Aber vorher deckte er für seine Großeltern, die noch schliefen, den Kaffeetisch. Die Sonne schien und es war schon recht warm. Ein kleines Lüftchen wehte und bewegte leise die Blätter der Bäume. Es roch angenehm nach Harz und Pilzen. Martin pfiff fröhlich vor sich hin und lief immer weiter in den Wald hinein. Auf einer Lichtung hielt er an und legte sich ins Gras. Bald fielen ihm die Augen zu. Er träumte, er ginge weiter in den Wald und es wurde immer dunkler. Nebel zog auf. Er hörte seltsame, gruslige Töne von irgendwelchen Tieren und dazwischen lautes Donnergrollen. Als Martin aufwachte, war es tatsächlich dunkel und überall war dicker Nebel. Nun hörte er auch die seltsamen Töne. Schnell sprang er auf um nach Hause zu laufen. Aber er wußte die Richtung nicht mehr. Also lief er einfach los. Nach einiger Zeit kam er an ein dichtes Gebüsch woraus die Töne kamen. Er ging vorsichtig heran und sah zwei fette schwarze Ratten von der Größe einer ausgewachsenen Katze, die sich um ein blutiges Stück Fleisch stritten. Ihre Zähne und ihr Maul waren blutbeschmiert. Martin wurde schlecht, als er erkannte, daß sie an einem Menschen fraßen. Als die Ratten ihn sahen, gingen sie auf ihn los. Wie er nach Hause gekommen war, wußte er nicht zu sagen, aber er war kreidebleich und konnte kaum sprechen vor Angst. Nachdem Paul die Polizei verständigt hatte, stellte sich bald heraus, daß der alte Franz aus dem Dorf getötet worden war. Am nächsten Tag durchstreiften zwei Wissenschaftler das Waldstück. Sie wollten die übergroßen Ratten lebend einfangen, doch sie kehrten nie zurück. Nun wurde der Wald abgespert und Warnschilder aufgestellt. Martin hatte sich wieder beruhigt und beschloß einkaufen zu fahren. Die Vorräte gingen langsam zur Neige. Den Waldweg hatte er fast hinter sich, als er sah, daß eine Ratte auf dem Weg stand. Aber diese war anders. Sie hatte etwa die Größe eines Schweines und hatte sich auf den Hinterbeinen aufgerichtet. Ihr Maul war weit geöffnet und er konnte vom Weiten die scharfen langen Zähne erkennnen.Plötzlich sprangen aus dem Gebüsch drei schwarze Wölfe, welche die Ratte verjagten. Martin fing an zu zittern und legte den Rückwärtsgang ein. So schnell es ging, fuhr er zurück.
Nachdem er seinen Großeltern alles berichtet hatte, sahen diese sich bedeutungsvoll an. „Es geht wieder los, Sina. Wir müssen Martin schützen.“ Damit nahm sein Großvater die Kette mit dem silbernen Amulett ab und legte sie seinem Enkelsohn um den Hals. „Bitte trage diese Kette immer, sie wird dich jederzeit beschützen. Wir sind nun schon alt und haben unser Leben glücklich gelebt, aber du hast alles noch vor dir.“
Die drei saßen an diesem Abend noch lange beisammen. Sina und Paul erzählten ihrem Enkel alles, was sie erlebt hatten. Auch die Geschichten von der Mühle und wie alles begann.

3. Kapitel

Hubschrauber kreisten am Himmel. Immer und immer wieder überflogen sie das Waldgrundstück, aber von oben war nichts zu sehen. Zu Fuß traute sich niemand mehr in die Nähe des Waldes.
Auch Martin hatte drei Tage das Haus nicht verlassen. Sie ernährten sich von den letzten Lebensmitteln. Heute wollte er nun endlich ins Dorf zum Einkaufen. Er hatte eine lange Liste bei sich, die seine Großmutter geschrieben hatte. Die Fahrt hinunter ins Tal verlief problemlos. Vereinzelt standen Polizeiwagen am Weg. Martin hatte die vergangenen drei Tage benutzt, um den Dachboden aufzuräumen. Sein Spielzeug aus vergangenen Kindertagen hatten die Großeltern sorgsam in Kisten aufbewahrt. Martin setzte sich auf seine, damals heißgeliebte, Schaukel, welche an einem dicken Querbalken befestigt war, und schaute sich um. Sein Blick fiel auf ein altes Holzregal, was schon früher ziehmlich schief dastand. Eigentlich könnte ich es wegreißen und etwas neues bauen. Martin staunte nicht schlecht, als er hinter dem Regal eine Tür entdeckte. Nun war seine Neugierde geweckt. Hinter der recht morschen Tür befand sich ein kleiner Raum mit allerhand Gerümpel. Seltsam war jedoch ein Schreibtisch in der Mitte, worauf eine Kerze brannte. Er löschte die Kerze und begann die Kammer zu durchsuchen, konnte aber außer einer kleinen, fest verschlossenen Metallkiste nichts brauchbares finden. Gemeinsam mit seinen Großeltern öffnete Martin die Kiste. Der Inhalt versetzte seine Großeltern in helle Aufregung. Martin konnte es erst nicht verstehen, denn es waren nur seltsam geformte Steine, schwarze Kerzen, ein Dolch und ein kleiner Totenkopf darin. „Diese Dinge gehören der weisen Frau“ sagte sein Großvater. „Bitte Martin, bring ihr ihr Eigentum zurück. Vielleicht lebt sie wieder in der kleinen Kate. Fahre nach dem Einkaufen zu ihr hin.“
Martin hatte alles Notwendige im Dorfladen erhalten und war auf dem Weg zur weisen Frau. Die alte windschiefe Kate war jedoch unbewohnt und er fuhr wieder nach Hause. Gerne hätte er seinen lieben Großeltern bessere Nachrichten gebracht, aber auch nach Umfragen im Dorf hatte er nichts erreichen können.
Es war schon später Nachmittag als er die Biegung vom kleinen Waldweg hinauffuhr. Von hier aus konnte er sonst immer die Türmchen vom „Schloß“ erkennen. Doch heute war alles hinter einer grauen Nebelwand verhüllt. Martins Herz fing an zu rasen. Er dachte an die Ratten und an seine geliebten Großeltern und das sie nun kein Amulett mehr schützte. Voller Angst fuhr er vorsichtig durch die Nebelwand. Dahinter war strahlender Sonnenschein und tiefblauer Himmel.
Doch das Haus gab es nicht mehr. Das „stolze Schloß“ war zusammengebrochen und hatte seine Großeltern unter sich begaben. Seine geliebten Großeltern waren tot. Martin zerriss es das Herz. Er weinte wie ein kleines Kind und schrie seinen Schmerz gegen die Nebelwand. Er lag auf den Knien und weinte stundenlang. Dann verwandelte sich sein unendlicher Schmerz in rasenden Zorn. Er stand auf, stellte sich vor die Nebelwand und schrie:

„Dunkler Seher zeige dich
Weise Frau, ich brauche dich
Helft den Satan zu besiegen
Hilf mir Gott, ihn zu besiegen“

4. Kapitel

Martin war zu seinen Eltern in die Mühle gezogen. Diese waren glücklich und traurig zugleich. Glücklich, weil Martin lebte und traurig, weil ihre lieben Eltern gestorben waren. Martin hatte den Tod der Großeltern noch nicht verarbeitet. Er saß stundenlang oben im Turm der Mühle und schaute ins Leere. Nur wenn seine Mutter zum Essen rief, stieg er die hölzerne Wendeltreppe hinab und aß ein paar Bissen.
Eines nachts, Martin saß wieder einmal oben im Turm und war eingenickt, hatte er einen wunderbaren Traum. Zwei engelhafte, weiße Gestalten saßen um ihn herum und wisperten ihm seltsame Dinge ins Ohr. „Martin, bleib standhaft und kämpfe. Du bist auserkoren das Böse zu besiegen. Wenn du Satan in die Hölle verbannst, wird unser Tod nicht umsonst gewesen sein. Bleibe dir immer selbst treu. Wir werden dir Sibillus zu Hilfe schicken. Leb wohl Martin, wir lieben dich!“ Als Martin erwachte, wußte er sofort, daß ihn seine geliebten Großeltern im Traum besucht hatten. Er rief sich ihre Worte in Erinnerung. Ja, sie hatten Recht, er mußte kämpfen. Kämpfen gegen Satan und seine grausamen Taten. Aber wie sollte er das anstellen? Er war ziehmlich ratlos aber hoffte, daß ihm der geheimnisvolle Sibillus erscheinen würde. Martin holte sein Amulett unter dem Hemd hervor und rief mit leiser Stimme: „Sibillus erscheine, Sibillus hilf mir!“ Nichts geschah.
Am nächsten Tag stieg Martin in sein Auto und fuhr in Richtung des kleinen Friedhofes mit der uralten Kapelle. Er wollte nicht mehr untätig zu Hause sitzen, denn schon wieder hatten die Ratten zwei Menschen zerfleischt. Sie waren aus dem Wald bis ins kleine Dorf heruntergekommen und hatten dort ihre grausame Tat verübt.
Der Friedhof und die kleine Kapelle waren genau so, wie auf dem Bild, welches seine Großeltern neben dem Kamin hängen hatten. Martin ging zur kleinen Kapelle, zündete eine Kerze an und sprach ein Gebet. Im Halbdunkel zeichnete sich eine helle Gestalt ab, die immer deutlicher wurde. „Ich grüße dich, Martin“ sprach der Mann im grauen Anzug. „Ich bin der dunkle Seher, ich bin die weise Frau. Ich bin Alles und kann alles sein. Aber eigentlich bin ich Sibillus.“ „Du trägst nun mein Amulett und ich werde dir helfen, wann immer ich kann. Wenn du mich brauchst, fasse fest die Kette und rufe mich.“ Damit wurden seine Umrisse schwächer, doch bevor er ganz verschwand, rief Martin: „Was soll ich tun Sibillus?“ Wie von fern ertönte eine Stimme: „Rette die Kinder!“ „Welche Kinder?“ rief Martin, doch eine Antwort erhielt er nicht mehr.
Nachdenklich verließ Martin den Friedhof.Welche Kinder sollte er retten und wann sollte es geschehen?

5. Kapitel

Da Martin nichts besseres vorhatte, beschloß er hinunter in die Stadt zu fahren. Vielleicht könnte er zur Schule oder zum Kindergarten, um dort nach dem Rechten zu sehen. Er hatte keinen konkreten Plan, aber er war bereit und er wollte helfen.
Zuerst kam er an der Schule vorbei. Er parkte, stieg aus und lief um das Gebäude herum, konnte aber nichts auffälliges bemerken. Nach seinem dritten Rundgang wurde er argwönisch vom Hausmeister beobachtet. Also fuhr er hinüber zum Kindergarten. Schon vom weiten hörte er fröhliches Kinderlachen. Er stellte sich nach seinem Rundgang an den eisernen Zaun und schaute zur Erzieherin hinüber. Es war eine hübsche junge Frau mit langen blonden Haaren, welche sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Sie beschäftigte sich liebevoll mit den Kleinen und erzählte wohl gerade ein Märchen, denn die Kinder hingen gespannt an ihren Lippen. Als sie fertig war, entdeckte sie Martin und ging zum Zaun. Martin war verlegen, was sollte er sagen. Außerdem gefiel sie ihm. Er bewunderte ihre zarte schlanke Gestalt und ihren energischen Schritt. Aber das beste an ihr, waren ihre wunderschönen blauen Augen, die ihn nun fragend anblickten. Martin wurde rot und fing an zu stottern. Irgendwie bekam er keinen vernünftigen Satz heraus. Er schaute sie hilfesuchend an und aufeinmal mußten beide laut lachen. „Ich heiße Luna“ sagte sie schnell und reichte ihm die Hand. „Und ich heiße Martin und bin zu Besuch oben in der Mühle. Ich mache nur einen Spaziergang hier.“ „Ich habe in zehn Minuten Feierabend, wenn du willst, zeige ich dir die Stadt.“ Martin blieb fast die Luft weg, daß es so einfach war hatte er nicht erwartet. „Ja gern, Luna, also bis gleich.“
Sie waren stundenlang durch die kleine Stadt gelaufen. Luna wußte über jedes Gebäude eine Geschichte zu erzählen und die Zeit verging wie im Flug. Endlich setzten sie sich in ein kleines Straßencafe' und bestellten sich ein Eis. Martin hatte Vertrauen zu Luna gefasst und begann ihr seine Geschichte zu erzählen. Als er fertig war, sah ihn Luna mitfühlend an. „Wenn du möchtest, helfe ich dir gern. Morgen ist mein freier Tag und wir könnten gemeinsam versuchen die Kinder zu retten.“ „Das ist wirklich lieb von dir und ich nehme dein Angebot gerne an. Wenn ich nur wüßte, welche Kinder und wann?“ „Mach dir erst mal keine Gedanken, wir werden das gemeinsam schaffen. Alles wird gut!“

6. Kapitel

Martin saß im Bus, der voller Kinder war. Die Kinder lagen auf der Erde und hatten zerfetzte und verkohlte Kleidung an. Durch die Fensterscheiben konnte er sehen, daß der Wald brannte. Das Getöse des Feuers übertönten die Kinder , welche in Panik schrien, begleitet von einem permanent aufdringlichem Klingelton. Martin schaute vor zum Fahrer, wieso fuhr er nicht hier weg? Aber ein Busfahrer war nicht vorhanden. Er wollte schreien, bekam jedoch keinen Ton heraus. Auch seine Beine versagten den Dienst. Er saß wie gelähmt und hatte nur noch dieses schrille Klingeln im Ohr.
Plötzlich wachte Martin auf und begriff langsam, daß das Telefon klingelte.
Luna war am Apparat und berichtete ihm aufgeregt, was sie eben geträumt hatte. Es war der gleiche Traum wie von Martin. Eine Weile waren sie sprachlos. „Wir müssen unbedingt etwas unternehmen. Ich komme zu dir Luna.“
Als Martin ankam, hatte Luna schon einige Telefonnummern herausgesucht. Da sich Beide einig waren, daß es Schulkinder sein müßten, versuchten sie den Hausmeister zu erreichen. Doch dieser wollte wohl morgens gegen sechs Uhr mit niemandem sprechen. Sie versuchten die nächste Nummer und holten den Direktor aus dem Bett. Von ihm erfuhren sie, daß heute eine Klassenfahrt geplant war. Von ihren Vorahnungen hielt er nichts, im Gegenteil, er lachte sie noch aus. Gab ihnen aber trotzdem die Nummer der Klassenleiterin. Doch diese war nicht zu erreichen.
Nun fuhren sie zur Schule und hofften den Reisebus noch zu erreichen, doch der war schon mit den Kindern unterwegs. Nur der alte Hausmeister schlurfte noch über den Schulhof, aber er konnte ihnen sagen, wohin die Reise ging.
Martins kleines Auto tuckerte und quietschte bedenklich, doch er hielt eisern das Gaspedal durchgedrückt. Luna sah es zuerst! Weit vor ihnen standen dicke Qualmwolken über den Bäumen. Als sie herankamen, war kein Bus zu sehen, jedoch sagte ihnen das Gefühl, daß er irgendwo in der Nähe sein müßte. Schnell stiegen sie aus und rannten in den Wald, wo die Flammen sich schon fast bis zur Straße durchgefressen hatten. Sie fanden den Bus auf der Seite liegend. Den Fahrer hatte es herausgeschleudert und er lag leblos mit verrenktem Kopf neben einem Rad. Die Flammen waren so nah, daß sie die unerträgliche Hitze spürten. Das Prasseln und Zischen des Feuers dröhnte in ihren Ohren. Doch sie achteten nicht darauf und versuchten eine Tür zu öffnen. Martin und Luna knieten auf dem umgekipptem Bus und rüttelten und zogen mit Leibeskräften an der verklemmten Tür. Aber erfolglos. Nun nahmen sie einen Stein und schlugen die Scheiben ein. Die meißten Kinder lagen übereinander und rührten sich nicht, doch ein paar versuchten durch das zerschlagene Fenster hinauszukrabbeln. Martin reichte Luna die Kinder heraus, eins nach dem anderen. Es dauerte eine Ewigkeit. Die Flammen hatten den Bus erreicht und eingeschlossen, sie konnten mit den letzten zwei Kindern nicht mehr aus dem Flammenmeer heraus. Die Hitze versengte ihnen Haare und Haut, Funken und brennende Äste fielen auf sie herab. Martin nahm Luna bei der Hand, faßte sein silbernes Amulett und rief mit letzter Kraft: „Sibillus hilf uns!“

7. Kapitel

Die Flammen wichen etwas zurück und Martin und Luna konnten vom Bus herunterklettern. Mit letzter Kraft schleppten sie sich zur Straße, wo ihnen schon Feuerwehrleute entgegenliefen und ihnen die Kinder abnahmen. Auch Krankenwagen waren schon zur Stelle, worin die verletzten Kinder versorgt wurden.
Es herrschte helle Aufregung. Feuerwehrautos kamen, Krankenwagen fuhren fort, die Polizei sperrte die Straße. Luna und Martin bekamen davon nicht viel mit. Sie wurden ins Krankenhaus gefahren und untersucht. Zum Glück waren sie nur leicht verletzt und konnten bald wieder nach Hause.
Martin nahm Luna mit zur Mühle. Sie stiegen die knarrende Wendeltreppe nach oben ins kleine Turmzimmer wo Martin wohnte. Sie saßen noch ein Weilchen, hielten sich bei den Händen und genossen die schöne Aussicht, bis sie vor Erschöpfung einschliefen. Und sie hatten wieder den gleichen Traum: Es klingelte und Martin öffnete die Tür. Vor ihm stand ein bleicher Mann, der die Kapuze dicht ins Gesicht gezogen hatte. Sein schwarzer, altmodischer Umhang war völlig durchnäßt. Es blitzte und donnerte und der Regen schlug schräg zur Tür herein. Der Fremde trat ein und fragte, ob er sich unterstellen könnte, denn bei dem Unwetter hätte er sich verlaufen. Martin bot ihm einen Stuhl an und reichte ihm ein paar Handtücher. Danach ging er zu seinen Eltern ins Schlafzimmer und wollte von dem fremden Mann berichten. Doch dieser stand schon in der Tür. Er sah völlig verändert aus. Sein bleiches, langes Gesicht war verzerrt und aus den geöffneten schmalen Lippen schauten schwarze Zähne hervor. Er hatte nur noch einen Schuh an, der andere Fuß war seltsam geformt, fast wie ein Pferdefuß. In der knorrigen Hand hielt er ein langes Messer, mit dem er auf Martins Eltern losging. Es ging alles so schnell, daß Martin nicht einmal schreien konnte. Seine Eltern lagen, von zahlreichen Messerstichen durchbohrt, auf ihren Betten. Blut spritzte gegen die Wände, die Bettlaken waren getränkt vom Blut, das langsam auf die Erde tropfte. Jetzt erst konnte Martin schreien - und wachte auf. Auch Luna saß schreckensbleich im Bett. Draußen tobte der Sturm, ein Gewitter stand direkt über der Mühle und der Regen trommelte aufs Dach.Plötzlich hörten sie ein lautes Schellen an der Tür. Martin stand auf, nahm sein Holzkreuz von der Wand und fasste fest sein Amulett an. Dann stieg er langsam die Treppe hinunter. Luna ging hinter ihm und hatte ihre Hände auf seine Schultern gelegt. Als sie vor der Tür standen klingelte es nochmals ungeduldig. Beide fassten nun das Kreuz und hielten es in Richtung Tür. Mit dem Amulett in der Hand spach Martin Großvaters Zauberspruch. Sie hörten ein unmenschliches Schreien und die Mühle erbebte. Blitz und Donner wechselten in rascher Reihenfolge. Ohrenbetäubender Lärm. Doch dann - wohltuende Stille.
Martins Eltern kamen erschrocken aus dem Schlafzimmer. „Das Gewitter ist vorbei, legt euch wieder hin!“ Martin drückte seine Eltern ganz fest und ging dann mit seiner Luna die Wendeltreppe hinauf ins kleine Turmzimmer.

8. Kapitel

„Rot, rot, rot sind die Rosen...“ Der Lautsprecher dröhnte mit voller Kraft. Überall fröhliche Menschen und Musik. Es roch nach Grillbratwurst und Zuckerwatte. Martin und Luna befanden sich auf dem Jahrmarkt, der am Rande der Stadt aufgebaut worden war. Es war Wochenende und die Karussells drehten endlos ihre Runden. Man hörte das Kreischen der Jugendlichen, die sich auf die Achterbahn gewagt hatten. Ein Losverkäufer forderte immer wieder die Leute durch sein Mikrofon auf, doch endlich den Hauptgewinn zu ziehen. Martin und Luna wurden von den Menschenmassen vorwärts geschoben. Lunas Kopf lehnte an Martins Schulter, der sie fest im Arm hielt. Immer wieder tauschten sie verliebte Blicke aus. Dann landeten sie im Spiegelkabinett und lachten, bis ihnen die Tränen kamen. Es tat ihnen gut, nach all der schlimmen Zeit, so losgelöst zu sein. Sie hatten noch nicht darüber gesprochen, aber sie wußten, daß sie für immer zusammen bleiben würden.
Langsam wurde es dunkel. Sie hatten beschlossen, noch eine Wurst zu essen und dann den Heimweg anzutreten. Da sie am Grillstand anstehen mußten, hatten sie Zeit sich umzuschauen. Der Bratwurstverkäufer sah recht seltsam aus. Sein kantiges, blasses Gesicht zuckte nervös. Er reichte den Leuten die heißen Würste hinüber, die er mit bloßen Händen vom Grill nahm. Dazu sang er lauthals und falsch: „Rot, rot, rot sind die Rosen...“ Sein stechender Blick traf Martin, dem fast das Herz stehen blieb, denn er erinnerte sich, was Großvater erzählt hatte. Er dachte an die Messerstecherei damals in der kleinen Kneipe, wo genau dieses Lied spielte als das grausame Blutbad stattfand.
Noch bevor Martin reagieren konnte, explodierte der Grill. Die brennenden Menschen wurden zur Seite geschleudert. Martin und Luna lagen auch am Boden, hielten sich aber immer noch im Arm. Sie waren unverletzt. Um sie herum lagen zerfetzte, verkohlte, blutende, schreiende Menschen. Der Grillwagen stand in hellen Flammen. Dann explodierte die nächste Gasflasche, dann eine Weitere. Der Grillwagen wurde in tausend Stücke zerrissen und Splitter flogen umher.
Satan stand unberührt da und schaute Martin triumphierend an. Doch Martin hatte schon sein Amulett in der Hand und schrie gemeinsam mit Luna den Zauberspruch.

9. Kapitel

Martin war am Boden zerstört. Warum konnte er nicht verhindern, daß all diese Menschen starben? Warum hatte er nicht die Macht Satan zu vernichten? Seine geliebte Luna und er wurden zwar von Sibillus beschützt, aber Martin wollte mehr. Er war hilflos und verzweifelt, Tränen rannen ihm übers Gesicht, er fühlte sich allein und verlassen. So fand ihn Luna, die selbst nach einem Ausweg suchte. Sie nahmen sich in die Arme und weinten verzweifelt. Alles kam wieder hoch. Der Tod der Großeltern, die Kinder im brennendem Wald, die Explosion am Grill und immer wieder diese Albträume.
Von der Stadt her hörten sie die Kirchenglocken läuten. „Komm Luna, wir gehen in die Kirche, vielleicht finden wir dort Trost und Hilfe.“
Die kleine Kirche war voller Menschen. Nach dem schwerem Unglück vom Vortag suchten viele Menschen das Gebet. Man hörte leises Weinen und Schluchzen. Unbemerkt war der Pfarrer auf die Kanzel gestiegen und begann mit seiner Rede. Doch kein Trost sprach aus seinen Worten. Mit lauten zynischen Worten beschimpfte er seine Gemeinde. Jeder Satz schnitt wie ein Messer ins Herz. Plötzlich stand die Kanzel in hellen Flammen. Die Menschen schrien und drängten sich aneinander. Doch mit Donnerstimme übertönte der Pfarrer all den Lärm. Er stand unberührt von den Flammen und jeder konnte nun sehen, daß es Satan selbst war. Schnell faste Martin sein silbernes Amulett und rief gemeinsam mit Luna den Spruch. Sogleich war Totenstille. Die Menschen standen starr vor Angst und bewegten sich nicht.
Martin und Luna liefen zur Kirche heraus. Sie liefen aus der Stadt, durch den Wald und machten erst am großen Stein halt. Doch auch hier fanden sie keine Ruhe. Satan stand plötzlich vor ihnen und schleuderte grelle Blitze. Ein lautes Krachen war zu hören und der alte Findling wurde in zwei Stücke zerteilt. Um sie herum brannte der Wald. Martin griff sein Amulett und schrie den Zauberspruch. Die Flammen wurden kleiner und verschwanden bald, auch Satan war verschwunden. Martin und Luna wußten was sie zu tun hatten. Sie rannten zur Mühle und holten das Metallkästchen mit den Utensilien von Sibillus. Nun liefen sie wieder in die Stadt zur kleinen Kirche. Es war fast Mitternacht. Schnell legten sie die Steine und Kerzen als Kreis und in die Mitte den Dolch mit dem Totenkopf. Danach riefen sie laut nach Sibillus, welcher auch sofort erschien und die Kerzen anzündete. Nun stellten sich alle im Kreis und fassten sich bei den Händen. Keine Sekunde zu spät, denn die Glocken fingen an die Mitternacht zu läuten. Sogleich fingen sie wie aus einem Munde an zu rufen: „Wir verbannen dich, Satan, für immer in die Hölle!“ Und der Teufel erschien im Kreis. Seine stechenden Augen leuchteten wie glühende Kohlen, sein Maul war bis zur Unkenntlichkeit verzerrt und sein schwarzer Umhang stand in Flammen. Er schrie sie an und schleuderte ihnen seine Höllenglut entgegen, doch die Drei standen wie eine Mauer. „Wir verbannen dich, Satan, für immer in die Hölle!“ Wieder und wieder riefen sie diesen Spruch. Endlich! Satan war verschwunden, doch sie hörten noch sein höhnisches Lachen: „Das schafft ihr nie, ich werde immer wiederkommen, ich werde immer hier auf Erden sein. Solange die Menschen lügen und morden, solange werde ich es auch tun.“

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